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Oberschlesien – 4. Mai 1957
Оглавление»Jeronje, was ist denn drüben bei Matuscheks los? So ein Radau! Zieht da jemand Neues ein, Marta? Die sehen aber nicht aus wie von hier. Ziemlich heruntergekommen. Eine Schande, der Fredi ist nicht einmal zwei Tage unter der Erde und schon haben sie sich sein Haus unter die Nägel gerissen. Das sind bestimmt Ukrainer oder so. Wie die, die ins Haus der Sassins gezogen sind.« Marta stürmte aus der Küche ins Wohnzimmer. Dort stand ihr Mann hinter den Gardinen und beobachtete das Straßengeschehen. »Sepp, geh vom Fenster weg! Nicht, dass du von jemandem gesehen wirst. Mir gehen die ganzen Schikanen schon jetzt zu weit. Wir sollten alles tun, uns so normal und unauffällig wie möglich zu verhalten.« Sepp machte einen Schritt zurück und drehte sich um 90 Grad zu seiner Frau. Die Gardine bewegte sich leicht durch den entstandenen Lufthauch. »Es ist alles gut, Marta, mich hat niemand gesehen. Und ganz ehrlich, du tust ja beinahe so, als dürften wir nicht mehr auf die Straße. Das ist unser Haus, unsere Straße, unsere Stadt. Wer soll das in Frage stellen?« »Das ist mir bewusst. Aber das haben sich die Matuscheks auch gedacht und dann standen nachts die Gauner im Zimmer. Alles, was nicht wertvoll war, haben sie kaputtgeschlagen. Hast du das vergessen? Willst du, dass die das auch bei uns machen? Und Mama am Ende noch einen Herzinfarkt bekommt, wenn sie auch bei ihr im Zimmer stehen?« Marta wusste zwar, dass die Chance, von den »Gaunern« heimgesucht zu werden, gering war, aber sicher konnte niemand mehr sein. Sie hatte schon seit Monaten das Gefühl, in der Stadt komisch angeschaut zu werden. Von Leuten, die sie früher kannte. Und viel mehr von Leuten, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie hier gesehen hatte. »Na ja, ich wünsche das zwar keinem, aber wenn das einer in der Straße verdient hat, dann wohl Fredi. Ich meine, der hatte doch genug Dreck am Stecken.« Martas Ohren wurden größer. »Was meinst du denn damit, Sepp? Was heißt Dreck am Stecken?« Sepp hatte es seiner Frau eigentlich schon letzte Woche erzählen wollen, als er von der Arbeit heimgekommen war. Dann war sie aber schon komisch drauf gewesen und er entschied sich, die Information etwas zurückzuhalten. »Na ja, der hat wohl Leute verpfiffen. Im Krieg. Kollegen, ehemalige Freunde. Ziemlich viele. Hat mir der Jakub in der Mittagspause erzählt. Ich hab’s ihm erst nicht glauben wollen, weil ich ihn doch auch schon zig Jahre gekannt habe. Aber jeronje, Jakub hat das ganz ernst erzählt. Und dann hat er es auch bei der heiligen Anna geschwört, als ich ihm das immer noch nicht so wirklich abgenommen habe.« Nun waren nicht nur Martas Ohren größer. Auch ihr Mund stand sperrangelweit offen. »Ach du liebe Güte, bist du dir sicher? Das hätte ich nie gedacht. Die armen Leute. Ist jemand rausgekommen, weißt du das?« Mit »rauskommen« meinte sie das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Den wahrscheinlich dunkelsten und schrecklichsten Ort, den man sich vorstellen konnte. Keine 75 Kilometer von ihrem Haus, ihrer Straße, ihrer Stadt entfernt. Und gedanklich doch so weit weg. »Rauskommen«, das wusste Marta natürlich, war in keiner Form ein passender Ausdruck. Ihr fiel in dem Kontext aber auch kein passender Ausdruck ein, es war einfach nur traurig und unglaublich. »Jakub meinte ja. Aber Genaueres habe ich nicht erfahren. Und der Fredi hat wohl auch noch andere verraten, Mitarbeiter seines Onkels in der Fabrik. Das waren keine Juden, sondern Kommunisten. Sie wurden aber vom Onkel vorgewarnt und konnten rechtzeitig nach Osten fliehen. Ein Glück!« Martas Mund hatte sich mittlerweile wieder geschlossen. Stattdessen stiegen ihr Tränen in die Augen. »Es ist einfach nur schrecklich, was sich manche Menschen antun. Ich frage mich immer, ob ich, ob wir damals etwas hätten tun können.« Marta hatte ihren Geburtsort nie verlassen, außer für Urlaube ins nahegelegene Riesengebirge. Sie war in diesem Haus zur Welt gekommen und hier mit ihren Eltern und fünf Brüdern aufgewachsen. Vier Brüder waren nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt. Einer wurde mitsamt seinen Kameraden im Atlantik versenkt, einer nach der Kapitulation auf dem Balkan von einem Partisanen erschossen. Zwei weitere kamen in Kriegsgefangenschaft und starben auf dem Weg ins Lager. Nur einer blieb übrig, allerdings war auch er nicht mehr in ihrer Nähe. Nachdem er an der Westfront gekämpft hatte, kam er in britische Gefangenschaft. Und als er dann schlussendlich freigekommen war, blieb er dort, in einer Kleinstadt irgendwo zwischen Frankfurt, Köln und Saarbrücken. Mit ihm, Günter, blieb sie in Kontakt. Regelmäßig erhielt sie Post von ihm. Oft schwärmte er ihr von seinem neuen Leben vor. Nicht, um zu protzen, sondern um sie zu überzeugen, auch »rüberzumachen«. Das sei sicherer. Marta aber entgegnete dann stets, dass sie sich in ihrer Heimat sehr wohl und auch sicher fühle. Unterbewusst war sie sich seit Längerem nicht mehr ihrer Sicherheit so sicher, aber das akzeptierte der Großteil ihres Körpers und vor allem ihr Kopf nicht. Stattdessen ging sie eher in den Angriff über. Sie beklagte sich dann bei ihm, dass er nicht mehr bei ihr und ihrer Familie sei. Und dann fragte sie ihn meist, ob er nicht zurückkommen wolle, um ihre Heimat wiederaufzubauen. Das verneinte er aber stets, denn für ihn war die alte Heimat verloren. Seine neue Heimat lag nun knapp 900 Kilometer westlich.