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Birkenweg – 14. Juni 2013

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»Jeronje, so ein Mistwetter. Wieso fängt es ausgerechnet dann zu regnen an, wenn ich zum Kiosk will? Na, bleibe ich eben hier.« Sepp wirkte genervt. Er hatte sich schon darauf gefreut, seine zwei ehemaligen Arbeitskollegen Peter und Lothar zu sehen. Geredet hätten sie zwar – wie jeden Freitagabend – nicht sonderlich viel. Sie hätten gemeinsam einen Lottoschein ausgefüllt und dabei stets kurz darum gerangelt, wessen Geburtstagszahlen in der Auswahl auftauchen dürften. Und sie hätten auf die Abgabe des Scheins und den nun zu erwartenden Millionengewinn angestoßen. Natürlich hätten sie auch über die guten alten Zeiten bei NKW gesprochen, den Nederlandse Kunststoffen Werken. Wobei NKW nicht immer NKW war. Als die drei dort noch gearbeitet hatten, hieß die Firma LGC, Liebermann-Grundel-Compagnie. Verkauft an einen ausländischen Investor. Lange, nachdem die drei in den Ruhestand gegangen waren. Außenstehenden ergab sich dann hier am Kiosk ein wiederkehrendes Bild, denn es wurde immer über dieselben Themen bei LGC geredet: angefangen bei den Erlebnissen, die Sepp zu Beginn seiner Arbeitsaufnahme in den 50er Jahren mit den anderen Kollegen gemacht hatte, über die vollen Auftragsbücher und dadurch gut gefüllten Konten der Mitarbeiter bis hin zum bundesweit bekannt gewordenen Schmiergeldskandal mit der UdSSR in den 70er Jahren. Letzterer Fall – und nicht die Aufdeckung von Journalisten 15 Jahre zuvor, dass LGC in großem Stil Kriegsgefangene aus einem KZ-Außenlager bei sich hatte arbeiten lassen – hatte dazu geführt, dass die Firma immer mehr Aufträge verlor und schließlich, kurz vor der Pleite Ende der 80er Jahre, durch die Mutterfirma von NKW, einem Mischkonzern mit Sitz in Utrecht, übernommen wurde. Bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten, stießen Sepp, Peter und Lothar stets ein letztes Mal an und leerten die halbvollen Gläser in einem Zug. Dabei beglückwünschten sie sich gegenseitig zur Tatsache, bereits vor diesen turbulenten Zeiten aus dem Unternehmen ausgeschieden zu sein. Heute passierte das alles aber nicht, denn es regnete in Strömen und die drei blieben zu Hause. Dann halt wieder nächste Woche, dachte sich Sepp. Er schaute – immer noch leicht verärgert über den Ausfall seines wöchentlichen Ausflugs – aus dem Fenster und betrachtete die Nachbarhäuser. Ganz rechts in seinem Blickfeld stoppte er und versuchte, mit seinen Augen etwas zu fixieren. »Marta, haben wir noch Bier im Kühlschrank? Dann kannst du auch gleich Abendbrot machen. Weißt du, was bei Kisselbachs los ist? Da steht ein Laster vor der Tür, zieht die Tochter nun doch her?« Sepp kratzte sich an seinem kahlen Kopf und führte dann seine Hand zur Brust. Er hatte meist ein Hemd an und ließ ein Knopfloch zu viel offen. Dadurch offenbarte er dem Betrachter dort das Mehr an Haaren, was ihm seit knapp 40 Jahren auf dem Kopf fehlte. Er zog die Gardine wieder vollständig zu und schlappte in Richtung Fernsehsessel. Kurz nachdem er sich darin rücklings und etwas eingerostet hatte fallen lassen und sich nun nach der Zeitung umschaute, kam Marta mit einer eiskalten Flasche Warsteiner aus der Küche. Sie trug, wie so oft, eine karierte Schürze um die Hüfte. Mit ihren grauen mittellangen Locken, der kleinen Brille auf der Nase und den gut gefütterten Pantoffeln an den Füßen versprühte sie das Bild der Hausfrau und Oma von nebenan. Und eine Oma war sie mit ihren mittlerweile 86 Jahren definitiv. »Ach Sepp, immer Bier vor dem Essen, muss das sein? Aber was soll’s, da stoße ich ja auf taube Ohren. Nein, ich glaube nicht, dass Laura herzieht. Sie war ja schon selten da, als ihre Eltern noch gelebt haben.« Damit gab sie ihrem Mann die geöffnete Bierflasche und warf ihm einen leicht missbilligenden Blick zu. Dann ging sie selbst zum Fenster und versuchte, durch die Gardine und den Regen hindurch etwas vom Geschehen auf dem Nachbargrundstück mitzubekommen. »Der Karl hat mich aber heute früh am Gehsteig abgefangen und gemunkelt, dass das Haus verkauft wurde. Aber an wen, das wusste er nicht. Vielleicht wissen Paula oder Lorenz ja mehr, ich frag sie morgen. Jetzt mach ich aber erst einmal Essen. Das Griebenschmalz muss glaube ich so langsam weg.« Karl, eigentlich Karl-Heinz, war ihr direkter Nachbar zur linken Seite des Grundstücks hin. Er hatte hier schon gewohnt, als Sepp, Marta und ihre Tochter Paula in das Haus im Birkenweg eingezogen waren. Keiner aus der Familie mochte Karl sonderlich, allerdings hatten sie sich das niemals in der Öffentlichkeit anmerken lassen. »Wir wollen eine gute Nachbarschaft, Kindchen.« Das hatte Sepp seiner Tochter erklärt, nachdem sie als Jugendliche sichtlich errötet nach Hause gekommen war und sich über Karls Bemerkungen am Gartenzaun beschweren wollte. Und damit war vorgegeben, wie man sich gegenüber den Nachbarn zu verhalten hatte. Freundlich sein, keine Kritik üben. Paula hatte zwar damals sehr mit sich gerungen, die Vorgaben ihres Vaters aber schließlich akzeptiert. Trotzdem versuchte sie fortan, unnötige Begegnungen mit Karl zu vermeiden. Nachdem Sepp und Marta gegessen hatten, schaute er noch das letzte Fußballspiel seines Lieblingsvereins, das er extra für einen verregneten Abend wie diesen aufgenommen hatte. Marta befüllte derweil die Spülmaschine und räumte die Küche auf. Nach getaner Arbeit ließ sie sich schließlich Badewasser ein. Ihre Mutter hatte ihr früher immer gepredigt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Und baden war für Marta ein wirkliches Vergnügen. Sie brauchte einmal pro Woche etwas Zeit für sich und da wirkte ein Bad in der Wanne wahre Wunder. Während das Wasser langsam einlief, ging sie noch einmal zurück ins Wohnzimmer. An der linken Seite des Sessels standen mittlerweile schon drei leere Flaschen Bier und Sepp war vor dem laufenden Fernseher eingeschlafen. Marta weckte ihn auf und schickte ihn in Richtung Badezimmer. Dann schnappte sie sich die leeren Flaschen und lief in die Küche zurück. Wenn ich hier nicht so viel machen und rumräumen würde, wäre hier bald alles krewatschlich, dachte sie sich. Wie ein Sauhaufen! Aber das kriege ich aus Sepp nicht mehr raus. Mit diesen Gedanken stellte sie die Flaschen in den Kasten unter dem Küchenfenster und ging in Richtung Bad. Sepp war bereits im Schlafzimmer und zog sich um. Als sie am Fenster vorbeikam, das zum Nachbarhaus rechts schaute, blieb sie kurz stehen: Das Haus war nun hell erleuchtet und in der Einfahrt stand ein großer Laster. Nanu, dachte sich Marta, was ist denn bei Kisselbachs noch los? Einbrecher sind da wohl kaum am Werk, so hell wie alles ist. Ach so, das sind dann vielleicht die neuen Hausbesitzer, von denen Karl gesprochen hatte. »Mein Hirn ist so langsam echt wie ein Sieb!«, sagte sie leise vor sich her. Da es zu stark regnete und Marta auch nicht mehr sah, wenn sie ihren Kopf an die Scheibe drückte, entschloss sie sich, dem Ganzen morgen nachzugehen und nun das wohlriechende Bad zu genießen. Das Wasser war sehr warm, fast schon heiß. Marta machte das aber nichts aus, ganz im Gegenteil: Sie liebte es, nach 20 Minuten aus der Wanne zu steigen und die Linien auf ihrem Körper im Spiegel anzuschauen. Der untere Teil des Körpers ab dem Bauchnabel, die Unterarme und die Hände waren dann immer krebsrot, der Rest deutlich weißer. »Halber Hummer, halbe Pute.« Das hatte Sepp früher immer zu ihr gesagt. Marta musste kichern. Nachdem sie sich eingecremt und die Zähne geputzt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und löschte das Licht. Sepp schlief schon seit einer halben Stunde und schnarchte leise vor sich hin. Während es im Birkenweg 20 dunkel wurde, sah man im oberen Stock des Birkenweg 22 noch drei Stunden lang Licht brennen. Erst dann wurde es auch hier Nacht.

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