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Eine Kleinstadt in Deutschland
ОглавлениеEine Kleinstadt in Deutschland.
Sie liegt im Westen, Osten, Norden oder Süden.
Auch eine Lage im Landeszentrum wäre denkbar.
Ihr Name endet auf -heim, -burg, -stadt, -ingen oder -furt.
Sie breitet sich vor einem Pass aus. Wird durch einen Fluss durchschnitten. Vielleicht wurde sie auch im Mittelalter an zwei sich kreuzenden Handelsstraßen gegründet.
Kulturelle Unterschiede zeigen sich nur beim genaueren Hinsehen: Wurden die Häuser als Fachwerk errichtet? Ziehen sich elegante Klinkerbauten die Straßen entlang? Und tragen die Dächer Schindeln oder sind sie mit Reet gedeckt?
Natürlich lassen sich weitere Unterschiede beim Zuhören feststellen: Icke oder ich? Meines oder mir? Hasch oder Hast du?
Das alles ist für die Geschichte aber irrelevant.
Es ist eine Kleinstadt in Deutschland.
Die Kleinstadt besteht aus Altbauten und Häusern im Bauhausstil. Zwischendrin finden sich unattraktive Zweckbauten, bedingt durch die Zerstörungen durch Feuerstürme, Artilleriebeschuss und Sprengungen im Zweiten Weltkrieg.
Die Viertel im Zentrum wirken wie wild gewachsen. Die Straßen sind teilweise gepflastert und treffen in keinem rechten Winkel aufeinander.
Hinter den in der napoleonischen Besatzungszeit geschliffenen Stadtmauern erstrecken sich Viertel wie auf dem Reißbrett entstanden: Zweigeschossige barocke oder klassizistische Gebäude an breiten Straßen. Kleine Kanäle. Alleen. Vier- bis fünfgeschossige Blöcke des Historismus. Mit begrünten Innenhöfen und einem Kastanien- oder Lindenbaum in der Mitte.
Klare Strukturen und Symmetrie, wohin man schaut.
Über die Stadt verteilt gibt es Kirchen, Moscheen und Tempel. Friedhöfe und Parkhäuser.
Einen Skaterpark und viele Eisdielen mit klangvollen Namen wie Cortina, Venezia oder Stromboli.
Und je mehr man die Innenstadt verlässt, trifft man auf langgestreckte Parkflächen, Hochhäuser der 70er Jahre und Industriegebäude.
Das alles ist für die Geschichte aber irrelevant.
Es ist eine Kleinstadt in Deutschland.
Die Kleinstadt wirkt friedlich und unaufgeregt: morgens fährt die Müllabfuhr durch die Gassen, die Lichter der Straßenlampen werden gelöscht und im Anschluss, gegen 6:30 Uhr, setzt der Pendelverkehr ein.
Dann rollen wahre Autokolonnen in die Stadt und verstopfen die Zugangsstraßen. Links und rechts hupt es, die Luft riecht nach Benzin. Aus den Bussen strömen Menschenmassen in Anzügen, T-Shirts und Blaumännern.
Glücklich schätzen sich dann diejenigen, deren Arbeitsort fußläufig zu erreichen ist oder sich außerhalb der Stadt befindet.
In den Mittagspausen werden die Bistros, Imbissstuben und Restaurants überrannt, die Gäste bestellen Eiernudeln, Döner oder Tagliatelle al Salmone.
Die Stadt wird lauter.
Es wird viel gescherzt und gelacht. Und einige Deals verhandelt. Schnell die Katze daheim gefüttert oder zur Post geeilt.
Nachdem der Arbeitstag zu Ende gegangen ist, setzen sich die Autokolonnen wieder in Bewegung und verlassen die Stadt. Zurück bleiben die Einwohner. Dann wird die Stadt wieder leiser. Es gibt Abendbrot oder Reste vom Wochenende, die Tagesschau läuft im Fernsehen.
Am späten Abend gehen die Straßenlampen wieder an und die Stadt versinkt allmählich im Schlaf.
Das alles wirkt friedlich, ungefährlich. Sicher auch etwas eingefahren und spießig, aber vor Spießern muss man sich nicht in Acht nehmen. Oder?
Wie so oft versteht man Situationen und Hintergründe erst dann, wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt. Wenn man sich auf etwas fokussiert. Wenn man Schicht um Schicht abschöpft. Und wenn man dann direkt in den Kern des Ganzen reinzoomt. So wie nun.
Wir sind in einer Kleinstadt in Deutschland, genauer:
Im Birkenweg 20.