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Vorwort

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Am Ende ist nichts mehr, wie es war.

Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, das tägliche Geschehen in einer Zentralen Notaufnahme zu beschreiben. Ein Profi, den als stellvertretenden pflegerischen Leiter der Zentralen Notaufnahme mit zwanzig Jahren Berufserfahrung kaum noch etwas überrascht. An seiner Seite ein Autor ohne jede medizinische Vorbildung oder Erfahrung, der in eine ihm bislang unbekannte Welt eintaucht und die Pfleger und Ärzte während eines Sommers bei ihren Schichten begleitet.

Als das Manuskript fast fertig war, wurde der Klinikalltag plötzlich von der anrollenden Covid-19-Pandemie erschüttert, gleichzeitig rückten Intensivstationen und Notaufnahmen in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Keine Frage, dass wir diese epochemachenden Ereignisse dokumentieren wollten. Nicht von außen, wie die unzähligen Zeitungen und Online-Newsportale, die seit dem ersten Tag regelmäßig Unmengen an Zahlen und Statistiken veröffentlichen. Sondern von innen, anhand persönlicher Eindrücke direkt aus dem Brennpunkt des Geschehens.

So erhielt unser Buch völlig unerwartet eine neue Dimension. Wobei das Unerwartete schon immer Teil dieses Projektes war – schließlich geht es um einen Ort, an dem man jederzeit mit allem rechnen muss.

Vierundzwanzig Stunden Betrieb an sieben Tagen in der Woche. 46.000 Patientenkontakte pro Jahr. Verstauchte Gelenke, oberflächliche Schnittwunden, mehr oder weniger harmlose Kreislaufprobleme, Folgen von Alkohol- oder Drogenmissbrauch – parallel dazu Unfallopfer mit schwersten Verletzungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, lebensbedrohliche Vergiftungen. Ärzte und Pflegepersonal der Zentralen Notaufnahme wissen nie, was während der nächsten Schicht auf sie zukommen wird.

Früher oder später verschlägt es wahrscheinlich jeden hierher – egal ob jung oder alt, arm oder reich, erfolgreich oder abgehängt. Tatsächlich kann man behaupten, dass kaum ein Ort alle Schichten, Berufe, Kulturen, Religionen und Überzeugungen so unterschiedslos zusammenbringt. Die Notaufnahme ist für Situationen da, in denen das, was uns voneinander unterscheidet, keine Rolle spielt: Unfälle oder plötzlich auftretende Erkrankungen. Und solche Umstände sind wiederum Auslöser fundamentaler Emotionen: Angst, Sorge und Trauer, nicht selten auch Wut und Aggression. Später kommen hoffentlich Freude und Erleichterung hinzu, gelegentlich sogar ausgelassene Heiterkeit.

Die Zentrale Notaufnahme wirkt in diesem Sinn nicht nur wie ein Spiegel, sondern wie ein Brennglas, das uns das Wesentliche in gebündelter, oft schmerzhaft intensiver Form vorhält. Sie ist ein Grenzbereich, der uns auf den Kern unserer Existenz zurückwirft und uns mit den zentralen Fragen unserer Menschlichkeit konfrontiert, mit unseren Ängsten und Hoffnungen, unseren Stärken und Schwächen, unserem Mut und unserer Verzweiflung. Auf diese Weise entstehen nicht nur die Dramen und Tragödien, die man in einer Klinik erwartet, sondern auch Krimis und Thriller, Romanzen und Komödien – all das, was das Leben ausmacht. Deshalb weisen die Geschichten aus der Notaufnahme weit über den Ort hinaus, an dem sie entstehen. Es lohnt sich zweifellos, sie zu erzählen.

In den folgenden Kapiteln werden wir die Türen einer Zentralen Notaufnahme mit umfassender Versorgung öffnen. Wir werden Einblick in einen Arbeitsalltag gewähren, der um vier Uhr nachmittags genauso wie um drei Uhr morgens ungetrübte Wachsamkeit verlangt, damit die vermeintlichen Kleinigkeiten, die im Zweifelsfall zwischen Leben und Tod entscheiden können, nicht übersehen werden.

Probleme wie den Pflegenotstand, die Belastung des Personals im Schichtdienst oder die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Helfenden kann und darf man dabei nicht ausblenden. Doch unser Anliegen geht darüber hinaus: Wir möchten die Arbeit in der Zentralen Notaufnahme in ihrer Vielseitigkeit zeigen und nachvollziehbar machen, warum es trotz aller Schwierigkeiten Pflegekräfte und Mediziner gibt, die an keiner anderen Stelle tätig sein möchten.

Ordnung und Chaos, Gesundheit und Krankheit, Routine und Ausnahmezustand, Autonomie und Abhängigkeit, Hektik und Konzentration – unsere Geschichten handeln vom Aufbrechen dieser Gegensätze, vom Erfahren und Überschreiten von Grenzen. Nicht zuletzt loten wir mit diesem Buch unsere eigenen Grenzen aus. Der Laie muss mit elementaren neuen Erfahrungen und teilweise erschütternden Eindrücken umzugehen lernen. Der Profi ist gefordert, seine eigene Routine zu hinterfragen und über all die Dinge nachzudenken, die er im Lauf der Jahre zu verdrängen gelernt hat. Wir laden Sie ein, uns bei diesem Experiment zu begleiten. Sehen Sie sich vor: Es wird eine abenteuerliche, aufwühlende Reise voller Höhen und Tiefen.

An ihrem Ende wird nichts mehr sein, wie es war.

23. Februar 2020 – Korrekturen (Fabian Marcher)

Die Sonne scheint durchs Fenster, Mike und ich sitzen an einem großen rechteckigen Tisch, jeder vor seinem geöffneten Laptop. Wir arbeiten konzentriert, lesen, diskutieren, machen uns Notizen. Es sind die Tage, in denen wir unserem Manuskript den letzten Schliff geben wollen. Dafür ist Mike extra über den Brenner zu mir an den Gardasee gereist.

Nebenbei erreichen uns die aktuellsten Nachrichten. Seit zwei Monaten ist von einer neuen Krankheit die Rede, einer Virusinfektion, die in China zu bisher ungekannten Quarantänemaßnahmen für Millionen führte. Die Bilder von Straßensperren und Menschen mit Schutzanzügen, Brillen, Visieren und Atemmasken sind beunruhigend. Andererseits ist das alles auch ziemlich weit weg. Die wenigen Fälle, die bisher anderswo in der Welt aufgetaucht sind – auch in Deutschland –, konnte man offenbar schnell identifizieren und isolieren.

Jetzt ist das Virus jedoch in Italien. Ausgerechnet. Etwa hundert Kilometer westlich von uns, in der Umgebung von Mailand, gebe es Infizierte, heißt es. Außerdem neunzig Kilometer östlich, bei Padua. Dort verzeichnet man bereits einen Toten. Kein Grund zur Panik, in den meisten Fällen verläuft eine Infektion wie eine leichte Erkältung, viele Betroffene bemerken gar keine Symptome. Am Brenner wird vorsichtshalber ein Personenzug aufgehalten, darf erst mit einiger Verzögerung weiterfahren. Wir machen Witze darüber, dass Mike morgen vielleicht nicht mehr über die Grenze gelassen wird. Ein paar zusätzliche Tage in Italien, es könnte Schlimmeres geben, oder?

Dann blinkt Mikes Smartwatch. Eine Nachricht vom Chefarzt der Notaufnahme. Der ist auf dem Weg nach Venedig, zum Karneval. Besser gesagt: Er war auf dem Weg dorthin. Gerade sei er auf halber Strecke umgekehrt, schreibt er. Mike runzelt die Stirn, ich zucke mit den Schultern. Wir arbeiten weiter.

Zu Beginn jedes Kapitels verdeutlicht ein Symbol, aus wessen Perspektive die Geschehnisse in der Notaufnahme im folgenden Text geschildert werden. Die Spritze steht dabei für den Profi Michael Steidl, der Stift für den Laien Fabian Marcher.

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