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Nachtschicht Ein Orgasmus ist nicht tödlich

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»Und, bereit für deine erste Nacht?« Mike steckt seinen Schlüssel in einen kleinen Kasten neben dem Hintereingang, die Schiebetür öffnet sich.

»Ich denke schon«, antworte ich.

»Na dann.«

Wir ziehen uns schweigend um. Für Mike ist es der zweite Nachtdienst in Folge, er hat mich bereits gewarnt, dass das seiner Laune in der Regel nicht zuträglich sei. Also habe ich mir vorgenommen, ihn möglichst in Ruhe zu lassen.

Exakt zu Schichtbeginn um 20.45 Uhr betreten wir den Behandlungsbereich. Es herrscht Chaos. Jean-Pierre, der 45-jährige französische Unfallchirurg, kämpft unter Hochdruck mit den Folgen des Trampolin-Trends, der sich längst auch in den Wohnsiedlungen unserer Stadt ausgebreitet hat. Momentan sind drei Opfer anwesend: ein Siebenjähriger mit Schlüsselbeinbruch, eine Zehnjährige mit stark geschwollenem Handgelenk und ein 15-Jähriger, der in eigenartig unnatürlicher Haltung neben dem Röntgenraum sitzt und sich zwischendurch immer wieder unter lautem Jammern und Stöhnen aufrecht hinstellt. Beim Saltoversuch, erklärt Jean-Pierre, sei der Junge mit dem Steißbein auf dem Asphalt der elterlichen Garageneinfahrt gelandet.

»Nicht schön. Da hat er länger was davon.«

Während Jean-Pierre seine jugendlichen Patienten im Akkord parallel bearbeitet und so immer wieder für freie Behandlungszimmer sorgt, ist die Lage auf der internistischen Seite kritischer. Irgendwas muss hier während der letzten Stunden ins Stocken geraten sein, der Wartebereich ist übervoll – und drinnen geht momentan kaum etwas voran.

»Wir müssen die Leute rauskriegen«, seufzt Mike beim Blick auf den Übersichtsbildschirm. »Auf Station, nach Hause – wohin auch immer.«

Die Patientin aus Zimmer fünf bekommt gerade ihren Arztbrief in die Hand gedrückt, sie wird ambulant entlassen. Ein Lichtblick.

»Komm mit«, fordert Mike mich auf. »Hilf mir, den Raum herzurichten.«

Wir nehmen das grüne Laken von der Liege, deren schwarzen Kunststoffbezug ich dann mit einem Desinfektionstuch abwische. Mike stellt inzwischen ein neues Blutabnahmeset auf dem Versorgungswagen zusammen.

»Wenn du so was nicht vorbereitest«, erklärt er mir, »kommst du in Teufels Küche. Dann hast du hier als Nächstes einen echten Notfall liegen und vergeudest Zeit, weil du erst mal die Venenverweilkanüle und die Blutentnahmeröhrchen aus den Schubladen kramen musst. So was geht nicht.«

»Verstehe«, sage ich und werfe das Desinfektionstuch in den Müll, bevor ich eine neue grüne Abdeckung auseinanderfalte und über die Liege ausbreite.

»Mike!«

Der Ruf kommt vom Korridor.

»Mike!«

Blitzschnell streift sich Mike die Gummihandschuhe ab und stürmt hinaus. Ich folge ihm. Wir sehen Martina, die heute Nachmittag Dienst an der Sichtung hatte und eigentlich längst ihren Feierabend genießen sollte. Gemeinsam mit einem etwa dreißigjährigen Mann stützt sie eine zierliche blonde Frau mit sehr blassem Gesicht, die offenbar Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.

»Allgemeines Unwohlsein nach drei Wespenstichen«, referiert Martina hastig. »An der Sichtung plötzlich deutliche Verschlechterung. Sieht nach einer Anaphylaxie aus.«

Die Augenlider der Frau sind geschwollen, der Mund ist halb geöffnet. Man kann pfeifende Atemzüge hören und dazwischen eine dünne, zitternde Stimme: »Angst … Ich habe Angst.«

»Nummer fünf«, sagt Mike und deutet mit dem Kinn in Richtung des frisch gereinigten Behandlungsraums. »Auf gehts!«

Wenige Augenblicke später streckt sich die Patientin auf der Liege aus. Mike hantiert an ihrer Seite mit einem der Allergie-Notfallsets, die in der Notaufnahme stets griffbereit sind. Erst vorgestern hat er mir erklärt, was sie enthalten. An zwei Bestandteile kann ich mich noch erinnern: Adrenalin und Kortison.

Mike fragt die junge Frau, ob sie eine Allergie gegen Wespenstiche habe und wie es mit anderen Unverträglichkeiten aussehe, etwa bei Lebensmitteln. Außerdem möchte er wissen, ob sie sich bereits unwohl gefühlt habe, bevor sie gestochen worden sei. Die junge Frau antwortet knapp und so leise, dass ich nicht verstehen kann, was sie sagt. Immerhin reagiert sie. Ich glaube, auch darum hält Mike das Gespräch unablässig in Gang. Er möchte sich vergewissern, dass sie bei Bewusstsein bleibt, und sie gleichzeitig durch einen beinahe entspannten Plauderton beruhigen.

Die Internistin betritt das Zimmer, stellt ebenfalls ein paar Fragen und tauscht sich dann kurz mit Mike aus. Der Ton ist sehr ernst, die Anspannung beinahe mit den Händen zu greifen. Hier kommt es auf jede Minute an, so viel steht fest. Schließlich verabreicht die Ärztin der Frau eine Spritze aus dem Notfallset in den Oberschenkel.

»Adrenalin, intramuskulär«, erklärt mir Mike, der sich bereits daranmacht, einen Zugang in den Handrücken der Patientin zu legen. »Ich gebe ihr gleich noch eine Infusion mit Elektrolytlösung. Sauerstoffbrille?«

Seine Frage richtet sich an die Ärztin, die das Notfallset schon wieder weggeräumt hat und im Begriff ist, den Behandlungsraum zu verlassen. »Ja«, antwortet sie. »Wir fangen mit zwei Litern an und gehen bei Bedarf höher.«

»Alles klar.«

Venen sind bei dieser Patientin nicht zu sehen. Ihr momentan offenbar extrem niedriger Blutdruck tut sein Übriges dazu, dass sich das Legen des Zugangs als Herausforderung erweist. Mike gelingt es trotzdem auf Anhieb. Kurz darauf träufelt die Elektrolytlösung aus dem Infusionsbeutel in ihren Handrücken. Als Nächstes bringt er die Elektroden für das Monitoring-EKG und den Fingerclip für die Sättigungskontrolle an. Kurz darauf zeigt der Überwachungsmonitor die Vitalwerte der Patientin an. Der Blutdruck ist noch sehr niedrig, Gleiches gilt für die Sauerstoffsättigung.

Schließlich befestigt Mike die Schlaufen der Sauerstoffbrille hinter den Ohren der Patientin. Zwei Liter Sauerstoff pro Minute werden von nun an direkt in ihre Nasenlöcher geleitet.

»Wie geht es Ihnen?«, fragt Mike.

Die Patientin stöhnt leise, ihre Augenlider flattern. »Angst«, sagt sie.

»Keine Sorge, wir haben alles unter Kontrolle. Es wird Ihnen gleich besser gehen. Ich bleibe hier, bis es so weit ist. In Ordnung?«

Die Antwort beschränkt sich auf ein Nicken. Mike ruft mit einem Tastendruck den Bildschirm ins Leben, der es erlaubt, direkt im Behandlungsraum die Maßnahmen am Patienten zu dokumentieren. Das Klappern der Tastatur mischt sich mit dem Piepen des Überwachungsmonitors, während Mike die aktuellen Werte einträgt.

Ich verlasse das Zimmer, setze mich an einen freien Platz am Organisationstresen und zücke mein Notizheft.

»Scheiße, ey!« Hinter meinem Rücken lässt jemand seinem Frust freien Lauf.

»Ist nun mal so«, erwidert Jean-Pierre, dessen leichten französischen Akzent ich sofort erkenne. »Es ist gebrochen. Siehst du die Linie, die sich hier durch das Steißbein zieht? Damit Fußball spielen? Unmöglich.«

Ich drehe mich um und erkenne den 15-Jährigen von vorhin, der nun verzweifelt auf ein am Diagnosebildschirm der Unfallchirurgen angezeigtes Röntgenbild blickt. Ein Herr mittleren Alters, wahrscheinlich der Vater, steht betreten neben ihm.

»Das Finale ist in zwei Wochen«, jammert der Junge. »Kann man bis dahin nicht irgendwas machen? Operieren oder so?«

»Natürlich kann man was machen«, meint Jean-Pierre. »Man kann das Steißbein schonen. Und zwar nicht nur für zwei Wochen, sondern ein bisschen länger. Tut mir leid.«

Während hinter mir ein Finaltraum jäh zerplatzt, sehe ich, dass Mike an den Organisationstresen kommt.

»Sie stabilisiert sich«, antwortet er auf meinen fragenden Blick. Dann setzt er sich, greift nach der Tischkante und zieht seinen Bürostuhl mit Schwung direkt vor den Bildschirm. »Jetzt wollen wir mal dafür sorgen, dass hier was vorangeht.«

Mike ruft die Übersichten der verschiedenen Stationen auf und prüft, wo Betten verfügbar sind. Sobald er einen Platz in einer für den Patienten passenden Abteilung gefunden hat, greift er zum Telefon: »Du, ich brauch ein Männerbett. Ich sehe, dass bei euch in Zimmer sechs was frei sein müsste …« Etwas später hat er die nächste Station in der Leitung: »Ich hätte hier eine Dame für ein Zweibettzimmer mit Chefarzt. Wie schauts aus?«

Die betreffenden Patienten werden bald darauf verlegt. Die Behandlungsplätze sind sofort wieder besetzt. Das Wartezimmer ist noch voll, auch der Rettungsdienst bringt weiter Nachschub, hauptsächlich ältere Damen und Herren mit Kreislauf- oder Verdauungsbeschwerden.

Mike bleibt unablässig in Bewegung. Wenn er nicht telefoniert, kontrolliert er die Behandlungsräume, legt Zugänge, bringt Urinflaschen und leert Bettpfannen, tauscht sich mit den diensthabenden ärztlichen Kollegen aus, spricht mit Angehörigen oder instruiert seine Kollegin Svenja, sie solle schon mal den nächsten Patienten hereinholen. Der Anflug von Frustration, den Mike zu Schichtbeginn ausgestrahlt hat, ist verschwunden. Er ist wach, konzentriert, schnell. Und seine Energie überträgt sich auf den gesamten internistischen Bereich. Alle scheinen plötzlich einen oder zwei Schritte vorauszudenken, niemand klagt, niemand trödelt, jeder packt an, alles greift mehr und mehr ineinander. Irgendwann lässt sich Mike in seinen Bürostuhl fallen, grinst mich zufrieden an und sagt: »Jetzt ist es so weit. Wir sind im Flow.«

Gelegentlich kann sogar ich einen Handgriff erledigen, etwa wenn es darum geht, Blutproben ins Labor zu schicken. Dazu verlasse ich den Behandlungsbereich und gehe durch den Warteraum bis zur Pforte, wo sich die Rohrpoststation befindet. In meiner Hand habe ich drei mit Barcode-Aufklebern versehene und beschriftete Röhrchen, die alle das Blut desselben Patienten enthalten. Unterschiedliche Farben zeigen an, welche Probe für die Bestimmung welcher Werte eingesetzt wird: Orange für Elektrolyte, Leber-, Pankreas-, Schilddrüsen- und Entzündungswerte, Rot für das große Blutbild, Grün für die Gerinnung.

Bis auf das Geräusch meiner eigenen Schritte ist hier draußen nichts zu hören. Die tagsüber stets belebten Korridore des Krankenhauses sind verwaist und dämmern in schummriger Restbeleuchtung vor sich hin. Die Nacht ist hereingebrochen, ohne dass ich etwas davon bemerkt hätte. Die Notaufnahme ist jetzt eine hell erleuchtete, pulsierende Insel, umgeben von einem Meer aus Dunkelheit und Stille.

Hinter einer halb geöffneten Tür verrichtet die Dame ihren Dienst, die für die stationären Aufnahmen zuständig ist und nachts zusätzlich die Pforte betreut. Sie wendet sich nur einen Augenblick von ihrem Computerbildschirm ab, begrüßt mich mit einem Nicken. Ich stecke die Röhrchen in einen der dafür vorgesehenen zylindrischen Behälter, stopfe diesen mit Schaumstoff aus, verschließe ihn wieder und lege ihn in das Absendefach der Rohrpoststation. Bei Blutproben muss ich keinen Zielort eingeben, das Gerät erkennt den speziellen Kunststoffbehälter und schickt ihn automatisch ins Labor. Ich warte noch ab, bis er verschwunden ist, dann mache ich mich auf den Rückweg durch den nachtschlafenden Korridor. Kurz darauf öffnet sich die automatische Tür, und ich stehe wieder im grellen Licht der Notaufnahme, in der der Tag kein Ende zu nehmen scheint.

Doch irgendwann wird es auch hier ruhiger. Gegen halb eins befindet sich erstmals niemand mehr im Wartebereich. Die junge Frau mit der Anaphylaxie wurde inzwischen auf eine Station verlegt, wo sie zumindest für heute Nacht unter Beobachtung bleiben wird. Mike spricht mit der Neurologin über die Patientin in Zimmer zwei, die unter einem heftigen Lagerungsschwindel leidet.

Die jugendlichen Trampolin-Opfer hat Jean-Pierre längst alle versorgt. Momentan näht er im Unfall-OP eine Platzwunde an der Stirn eines muskulösen, über und über tätowierten Mannes, der abends in eine Schlägerei verwickelt wurde. Ansonsten sind die Behandlungsräume der Unfallchirurgie leer.

Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm an der Wand.

»Wenn das so weitergeht, ist vielleicht bald gar kein Patient mehr hier«, sage ich zu Svenja, die gerade mit mir am Organisationstresen sitzt. Wie von der Tarantel gestochen fährt sie herum.

»Sag so was nicht!«

»Warum nicht? Ich meine, schau mal, wenn Jean-Pierre mit der Platzwunde fertig ist und die Frau aus der Zwei verlegt wird …«

»Stopp! Nicht weitersprechen. Du darfst dir den Bildschirm ansehen, und du darfst dir dabei denken, was du willst. Aber sag einfach nichts. Okay?«

»Okay.«

Zuerst bin ich total vor den Kopf gestoßen. Dann dämmert mir, worum es hier geht: Aberglaube. Wehe dem, der das Schicksal herausfordert, indem er ankündigt, dass es von jetzt an ruhiger wird.

Das Telefon klingelt, Svenja nimmt den Hörer in die Hand, blickt aufs Display, murmelt: »Anruf von außerhalb.« Dann geht sie ran.

Ich hoffe inständig, dass das nicht die Ankündigung eines schweren Notfalls ist. Womöglich der Auftakt zu einer Patientenschwemme, von der es später heißen wird, ich hätte sie mit meinem unbedachten Geplapper provoziert.

»Aha«, sagt Svenja und runzelt die Stirn. »Okay, also ein Kribbeln? Wie Ameisen, sagen Sie? … Und das war nach dem Sex?«

Mike und die Neurologin unterbrechen wie auf Kommando ihr Gespräch. Abgesehen vom gleichmäßigen Piepen eines Überwachungsmonitors herrscht plötzlich absolute Stille. Die ganze Notaufnahme scheint aufmerksam zu lauschen.

»War es denn ein …«, Svenja zögert, sie sucht offenbar nach dem passenden Begriff, »… ein fulminanter Orgasmus?«

Ich schaue fragend zu Mike hinüber, der zuckt nur grinsend mit den Schultern.

»Ja? … Und jetzt kribbelt es bei Ihrer Freundin noch immer? Nicht mehr. In Ordnung. Hören Sie, was Sie da im Internet gelesen haben, sollte Sie nicht beunruhigen … Wenn sie hyperventiliert, dann lassen Sie es für heute Nacht mal gut sein. Geben Sie Ihrer Freundin ein Glas Wasser zu trinken und eine Plastiktüte, die sie sich beim Atmen vor den Mund halten soll … Langsam ein- und ausatmen, genau … Nein, bestimmt nicht. Machen Sie sich keine Sorgen, ein Orgasmus ist nicht tödlich … Bitte sehr. Auf Wiederhören.«

Svenja legt auf – und merkt erst jetzt, dass ihre Kollegen sie anstarren. Sie fängt an zu kichern, im nächsten Moment brechen alle in Gelächter aus. Auch ich lache mit, erleichtert darüber, dass das Schicksal ein Auge zugedrückt hat.

Es ist kurz nach vier. Noch liegt Dunkelheit über der Stadt, doch der Tag kündigt sich durch hektisches Vogelgezwitscher und ein kaum merkliches Schimmern am östlichen Himmel an. Ich atme tief ein und spüre den kühlen, erfrischenden Wind durch den dünnen Stoff der Arbeitskleidung. Neben mir steht Mike, er streicht mit der linken Hand über seinen blonden Bart, während er langsam den Rauch seiner Mentholzigarette ausatmet. Tagsüber habe ich ihn noch nie rauchen sehen.

»Stressbewältigung.« Das war seine einzige, ziemlich einsilbige Erklärung, als er vorhin zum ersten Mal während dieser Schicht das Feuerzeug aus seiner Hosentasche kramte. Die Glut beleuchtet Mikes Gesicht, als er einen weiteren Zug nimmt. Dann blickt er auf und runzelt die Stirn, irgendetwas hinter meinem Rücken hat seine Aufmerksamkeit erregt. Mit einer kurzen Kopfbewegung bedeutet er mir, mich umzudrehen.

Es dauert einen Moment, bis auch ich es sehe: Etwa fünfzig Meter von uns entfernt bewegt sich die Silhouette einer schlanken, hochgewachsenen Gestalt zum Klinikgebäude. Ein Mann in kurzen Hosen, wenn ich mich bei dem spärlichen Licht nicht täusche. Noch ein paar Sekunden, dann ist er durch den Haupteingang der Notaufnahme verschwunden.

»Ich denke, ich geh dann«, sage ich. Ich bin der Meinung, ich habe für meine erste Nachtschicht passabel durchgehalten. Aber nach sieben Stunden reicht es. Außerdem: Was soll zwischen vier und sechs Uhr schon Aufregendes passieren?

»Wenn du ’ne Viertelstunde dranhängst, kann ich dir noch was zeigen«, murmelt Mike, während er die Zigarette in den an der Wand montierten Aschenbecher drückt.

Das fällt ihm jetzt ein? Seit geraumer Zeit sind keine Patienten mehr zu versorgen gewesen. Andererseits: An diesem Tag werde ich sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen sein – da kommt es auf eine Viertelstunde mehr oder weniger nicht an.

»Okay«, antworte ich. »Ich bin gespannt.«

In diesem Augenblick klingelt das Telefon in Mikes Brusttasche. Er seufzt, zieht es heraus und drückt auf den grünen Knopf. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn heute schon bei dieser immer gleichen Bewegung beobachtet habe.

»Ja … Ist das der, der gerade zu Fuß gekommen ist? … Mmhm … Okay.« Er legt wieder auf. »Druck auf der Brust, Verdacht auf Herzinfarkt.« Mike schüttelt den Kopf. »Kommt hier einfach so reinspaziert. Aber das muss nichts heißen. Manche sind schon mit dem Auto vorgefahren, ausgestiegen und haben sich angemeldet, nur um dann plötzlich zusammenzubrechen.« Er schiebt das Telefon zurück in die Tasche und sieht mich fragend an. »Also, Viertelstunde?«

Ich nicke und folge ihm durch die automatische Schiebetür. Wir kehren durch den Hintereingang in die Notaufnahme zurück und begeben uns zügig in Richtung der Pforte.

»Kommt was?« Christoph, der sich hinter dem Organisationstresen mit Svenja unterhalten hat, blickt auf. Er hält eine Dose mit einem Energydrink in der Hand. Nicht zu müde werden, das ist inzwischen die größte Herausforderung.

»Jap.« Mike verlangsamt seinen Schritt nicht, er hat schon den Türöffner gedrückt.

Draußen sitzt der Herr, den wir bereits von Weitem gesehen haben. Er dürfte knapp sechzig Jahre alt sein und wirkt auf mich erstaunlich ruhig. Mike redet kurz mit seiner Kollegin an der Pforte, dann bedeutet er dem Herrn, ihm zu folgen. Was nun geschieht, kenne ich bereits: Blutdruck messen, Zugang legen, Blutproben nehmen, Zwölf-Kanal-EKG vorbereiten und erstellen. Während er alles erledigt, spricht Mike ruhig mit dem Patienten. Er spüre seit zwei Tagen einen unangenehmen Druck auf der Brust, erzählt er. Eigentlich habe er deswegen heute zu seinem Hausarzt gehen wollen. Doch dann sei er mit stärkeren Beschwerden aufgewacht und habe Angst bekommen.

Mike hört zu und nickt gelegentlich, während er die frisch ausgedruckte EKG-Kurve betrachtet. Ich zücke mein kleines Notizheft, in dem neben ein paar neuen Fachbegriffen und Abkürzungen, die ich aufgeschnappt habe, die Fälle dieser Nacht aufgelistet sind: der anaphylaktische Schock, der Lagerungsschwindel, etwas später ein epileptischer Anfall, dazu scharenweise Senioren mit Harnverhalt, Durchfall, Bauchschmerzen oder Bluthochdruck. In der Unfallchirurgie die Trampolin-Opfer, einige Platzwunden. Dazu eine Brustkrebspatientin, die wegen plötzlicher starker Rückenschmerzen den Rettungsdienst gerufen hatte und deren Röntgenaufnahme eine von Metastasen durchsetzte Wirbelsäule zeigte.

Zuletzt schlief eine junge, wahrscheinlich obdachlose Frau für ein paar Stunden ihren Alkohol- und Drogenrausch in Behandlungsraum Nummer drei aus, wachte dann plötzlich auf, riss sich fluchend die Klebeelektroden vom Körper, packte den Sack mit ihren Habseligkeiten und verließ fluchtartig die Notaufnahme. Das ist mindestens eine Dreiviertelstunde her, doch ein Rest von dem beißenden Geruch ihres mit Narben und Geschwüren übersäten Körpers liegt noch immer in der Luft.

Hinter mir quietschen Gummisohlen. Die Internistin hat sich erst vor Kurzem mit einem optimistischen »Gute Nacht!« verabschiedet. Jetzt murmelt sie einen Gruß, betritt dann den Behandlungsraum Nummer fünf und wechselt ein paar Worte mit dem Mann auf der Liege. Mike drückt der Ärztin den EKG-Ausdruck in die Hand – keine Auffälligkeiten, so scheint es – und wendet sich an mich.

»Gehen wir?«

»Klar.«

Eine Minute später befinden wir uns in einem geräumigen Lift, der sich, von einem leisen Surren begleitet, durch die Stockwerke nach oben bewegt. Die Seitenwände der Kabine sind verspiegelt. Da stehen wir, zwei Männer um die vierzig mit Ringen unter den Augen und ziemlich müdem Blick. Wir tragen jeweils die gleichen, hellblauen Arbeitsklamotten.

Mike ist ein paar Zentimeter kleiner als ich, aber fitter und drahtiger. Fahrradfahren, Hindernislauf – er macht den Sport, für den ich zu faul bin. Dafür verschone ich meine Leber mit dem Whisky, mit dem er die Seine regelmäßig traktiert. Mikes Bart reicht ihm bis mitten auf seine Brust. Ich dagegen habe gestern Abend extra noch mal zum Nassrasierer gegriffen, weil ich befürchtete, sonst spätestens ab drei Uhr morgens völlig verwahrlost auszusehen. Ein schlichtes, ringförmiges Tattoo ziert Mikes linken Unterarm. Für kein Geld der Welt würde man mich zu einem Tätowierer bekommen. Wenn er nicht bei der Arbeit ist, trägt Mike eine Smartwatch am Handgelenk, auf der er die WhatsApp-Nachrichten seiner Freunde lesen kann. Ich besitze nicht mal ein Handy.

Die Aufzugskabine kommt zum Stehen, die Türen an beiden Enden öffnen sich und geben den Blick auf die halbdunklen Korridore der obersten Etage frei. Wir steigen aus. Mike führt mich zielstrebig einen Gang entlang, wir gehen um ein paar Ecken, dann bleibt er vor einer Glastür stehen, auf der ein stilisierter Hubschrauber abgebildet ist, und öffnet sie.

»So, da wären wir. Nach dir.«

Ich zögere einen Moment, dann gehe ich voran. Ein weiterer Korridor, diesmal nur ein paar Meter lang, dann noch eine Tür, und plötzlich stehe ich im Freien. Aber nun hoch oben, auf dem Dach des Krankenhauses. Einige Stufen und ein schmaler Steg führen zur riesigen, mit weißen Linien und einem großen roten H markierten Landeplattform. Ringsum sehe ich die Dächer der Stadt, den Kirchturm, das Hochhaus mit dem Logo der Sparkasse. Die meisten Fenster sind noch dunkel, nur hier und da brennt vereinzelt Licht. Im Süden bilden die nahen Berge eine gewaltige tiefschwarze Wand. Die Sonne geht auf, ein feuerrotes Band zieht sich über den östlichen Horizont. Mike stellt sich neben mich, verschränkt die Arme vor der Brust und schweigt.

Ein paar Augenblicke starre ich wie gebannt auf die unwirkliche Szenerie, die sich um uns erstreckt. Ein leichter Schwindel erfasst mich. Liegt es an der Höhe oder an der Müdigkeit? Was mache ich um kurz vor fünf Uhr morgens auf dem Dach eines Krankenhauses?

»Wahnsinn!«, entfährt es mir. »Was für eine Aussicht.« Und nach einer kurzen Pause: »Die müsste man fotografieren.«

Mike nickt und zieht den linken Mundwinkel kaum merklich hoch. Die Andeutung eines Grinsens, die sich nach einem Sekundenbruchteil wieder verflüchtigt.

»Stimmt«, sagt er. »Aber du hast ja kein Handy.«

9. März 2020 – Mittendrin (Fabian Marcher)

Vom Balkon unserer Wohnung aus kann man in nicht allzu weiter Ferne die in der Sonne glitzernde Oberfläche des Gardasees sehen. Das gegenüberliegende Ufer gehört bereits zur Lombardei, die gestern zur Sperrzone erklärt wurde. Ohne triftigen Grund darf diese Region wegen des offenbar außer Kontrolle geratenen Infektionsgeschehens niemand mehr verlassen. Gleiches gilt für enger umgrenzte Gebiete um Padua und Venedig. Die Vorstellung, dass in Sichtweite von uns ein Sturm tobt, der bis vor ein paar Tagen noch kaum vorstellbar strenge Maßnahmen des Staates erfordert, erscheint seltsam unwirklich.

Ich habe mit Mike telefoniert. Er sagt, bei ihnen in der Klinik laufe momentan einerseits alles ziemlich routiniert weiter, andererseits bereite man sich mit Hochdruck auf die ersten Covid-19-Patienten vor. Dann werde man in der Notaufnahme einige Behandlungsräume ausschließlich für Verdachtsfälle verwenden. Außerdem sei man gerade dabei, das außerhalb des Behandlungsbereiches liegende Sekretariat der Unfallchirurgie zu einem separaten Corona-Abklärungsbereich umzubauen.

Es gebe nun Leute, die wegen eines Hustens total verunsichert in der Notaufnahme anriefen oder persönlich vorbeikämen und nach einem Corona-Test verlangten. Außerdem habe sich an der Sichtung ein Wunderheiler vorgestellt und – natürlich gegen eine Fallpauschale – seine Dienste im Kampf gegen das Virus angeboten. Man habe den Mann freundlich, aber bestimmt hinauskomplimentiert.

Das Gespräch mit Mike hat vor einer Stunde stattgefunden. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, meine Frau und ich sitzen vor dem Fernseher und warten auf den Montagskrimi auf Rai 1. Stattdessen ist plötzlich der Ministerpräsident zu sehen, hinter ihm die Farben der italienischen Trikolore. Er erklärt, dass alle Maßnahmen, die bisher für einige Sperrzonen galten, unverzüglich auf das gesamte Land ausgeweitet werden.

»Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern«, sagt er. »Und zwar jetzt.«

Meine Frau sieht mich schweigend an. Es ist der Augenblick, in dem wir spüren, dass der Sturm nicht mehr irgendwo anders tobt. Jetzt sind wir mittendrin.

Weil es ohne uns nicht geht

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