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Anti-68er

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Anders als die Dschihadisten aus der Banlieue beseelt diese Jugendlichen aus den Mittelschichten nicht der Hass auf die Gesellschaft. Und anders als diejenigen, die ihre Ausgrenzung durch die Gesellschaft verinnerlicht haben, ist ihr Leben auch vom Drama der Viktimisierung verschont geblieben. Ihr Problem ist eines der Autorität und der Normen. Die Patchwork-Familie hat in dieser Generation zu einem Autoritätszerfall geführt, und das erstarkte Recht des Kindes hat einen Typus des „früherwachsenen“, aber häufig zugleich unreifen Jugendlichen auf den Plan gerufen. Die Kombination aus Rechtsansprüchen, der Aufsplitterung der Autorität zwischen verschiedenen Elterninstanzen sowie einer Aufweichung von Normen (republikanische eingeschlossen) lässt im Gegenzug den Ruf nach unverbrüchlichen Regeln und starken Autoritäten laut werden. Eine Minderheit dieser neuen Generation leidet darunter, es mit mehreren diffusen Erziehungsinstanzen, aber mit keiner klar definierten Autorität zu tun zu haben. Daher ihr Wunsch nach trennscharfen Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Die islamistischen Normen bieten eine solche unzweideutige Abgrenzung, die das Verbotene in aller Schärfe namhaft macht. Der radikale Islamismus erlaubt es dieser Jugend, das spielerische Wagnis mit dem tödlichen Ernst dschihadistischer Glaubenssätze zu verknüpfen. Er gibt ihnen das Gefühl, sich nicht allein unverrückbaren Normen zu beugen, sondern mit deren Durchsetzung in der Welt betraut zu sein, das Verhältnis von Heranwachsendem und Erwachsenem umzukehren und derjenige zu sein, der die heiligen Normen aufrichtet und sie den anderen auferlegt.

Die sich für den Dschihad begeisternde Jugend verkörpert Ideale, die denen des Mai ’68 diametral entgegengesetzt sind. Ging es damals um Steigerung der Lust in der Unendlichkeit eines gegen gesellschaftliche Zwänge zurückeroberten Begehrens, so ist es dieser neuen Generation im Gegenteil darum zu tun, dem Begehren strikte Regeln aufzuerlegen: Im Bekenntnis zu einem strenggläubigen Islamismus wird es Einschränkungen unterworfen, die ihm in den Augen der Jugendlichen eine neue Würde verleihen. Und wollte man sich damals von Einschränkungen und illegitimen Hierarchien befreien, so wünscht man sie heute herbei und sehnt sich nach sakralen Normen, die dem freien Willen des Menschen entzogen sind. Damals war man Anarchist und vom Hass auf patriarchale Mächte durchdrungen. Heute rehabilitiert sich der radikale Islamismus, indem er sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau wendet, eine verquere Form des Patriarchats im Rekurs auf einen unversöhnlichen und ungnädigen Gott – Widerpart sowohl eines verweichlichten Republikanismus als auch eines allzu humanisierten Christentums. Der Mai ’68 war ein ununterbrochenes Fest, das sich im Rausch der Reisen nach Kathmandu und Afghanistan fortsetzte. Heute folgt die dschihadistische Initiationsreise dem Streben einer Reinheit, die sich in einem dem Tod ins Auge sehenden Märtyrertum erfüllt.

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