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Der Niedergang des Politischen
ОглавлениеNeben den Phantasmen einer sakralisierten Normativität spielt auch die internationale Situation eine nicht unerhebliche Rolle. Zahllose Jugendliche treibt die Forderung nach Gerechtigkeit für Syrien an, wo ein blutrünstiges Regime 200 000 Menschen getötet und Millionen anderer in die Flucht geschlagen hat. Sie wähnen sich auf einer humanitären Mission, die sich mit einem sich selbst als gutwillig verstehenden Dschihadismus verbindet. Wo der Westen sein Unvermögen gegenüber einer verbrecherischen Diktatur unter Beweis gestellt hat, kämpfen jene Jugendlichen, mit einem naiven Glauben gerüstet, gegen das Böse – im Namen eines Dschihad, dessen monströsen und entmenschenden Charakter sie häufig nicht ermessen. Der Übergang kann sich schleichend vollziehen, wie das bei bestimmten Mitgliedern der Roubaix-Gang der Fall war, etwa bei Christophe Caze, der sich in den 1990er Jahren humanitären Projekten gewidmet hatte, bevor er zum radikalen Islamisten wurde.
Dass Jugendliche aus den Mittelschichten sich der nach Syrien exportierten Spielart des Dschihadismus anschließen, wirft die Frage nach dem Unbehagen auf, das diese Jugend empfindet. Sie leidet am Niedergang des Politischen, sie ist empört über die Ungerechtigkeit in einem durch die Medien nähergerückten Syrien, dessen Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit in monströsen Ausmaßen verübt. Und sie sucht nach etwas, das ihrem Dasein einen Sinn verleiht. Die Jugend aus den Vorstadtgettos hat in der Regel eine infra- oder suprapolitische Einstellung. Die Abschottung, der Rückzug ins Getto oder die Gewalt in ihrer vulgären (Kriminalität) oder sakralisierten Gestalt (Dschihadismus) sind Haltungen sei es diesseits, sei es jenseits des Politischen. In den Mittelschichten hat das Politische als Bezugspunkt seit den 1980er Jahren eine tiefe Krise durchlaufen und für eine ganze Generation seine identitätsstiftende Kraft verloren. Für sie ist der Dschihadismus eine Konsequenz, die sie aus dem Niedergang des politischen Projekts als kollektiven Hoffnungsträgers zieht.