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Vom Unbehagen zur Delinquenz
ОглавлениеDurch sehr harte Arbeit gelingt es einem Teil dieser Jugendlichen, die Exklusion zu überwinden und in die Mittelschichten aufzusteigen. Oft brechen sie dann alle Beziehungen zu ihrem Viertel und den alten Freunden ab. Andere versuchen auf kriminellem Wege schnell zu Geld zu kommen und das erträumte Leben der Mittelschichten zu führen. Was ihnen am meisten zu schaffen macht, ist das Gefühl der Viktimisierung, also Opfer zu sein. Tatsächlich neigen sie zu der Überzeugung, Kriminalität sei der einzige Weg, auf dem sie in einer Gesellschaft, in der sie überall vor verschlossenen Türen stehen, Zugang finden können zu den Annehmlichkeiten eines Lebens, wie es die Mittelschichten führen. Ihr Hass und das Gefühl der Ungerechtigkeit finden ein Ventil in der Kriminalität und werden für eine Weile besänftigt durch den Zugang zu materiellen Annehmlichkeiten und die Verschwendung illegal beschaffter Güter. Aber einer sehr kleinen Minderheit reicht ein solches abweichendes Verhalten allein nicht aus. Häufig sind dies Jugendliche, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Ihre Selbstverachtung sitzt tief, die Stigmata, die mit dem Leben in den Trabantenstädten, der Kriminalität und einem aus den Fugen geratenen Leben einhergehen, sind ihnen zur zweiten Natur geworden. Was sie brauchen, ist eine Selbstbestätigung, durch die sie nicht nur ihre Würde wiedergewinnen, sondern zugleich ihre Überlegenheit über andere unter Beweis stellen können.
Im Dschihadismus nimmt ihr Hass eine neue Form an. Ihre ohnmächtige Wut verwandelt sich in heiligen Zorn. Sie wird sakralisiert. Das erlaubt es ihnen, ihre Misere durch das Bekenntnis zu einer Weltanschauung zu überwinden, die sie selbst zu Rittern des Glaubens macht und die anderen zu Ungläubigen, die ihr Existenzrecht verwirkt haben. Der radikale Islamismus bewirkt eine Umkehrung der Vorzeichen, eine existenzielle Häutung: Das Ich wird rein, die anderen unrein, Selbstverachtung verwandelt sich in Verachtung der anderen. Endlich ist man jemand und kann das Gefühl der Bedeutungs- und Bestimmungslosigkeit in einer Gesellschaft, in der man sich nur durch Gelegenheitsjobs oder Kriminalität über Wasser halten kann, hinter sich lassen. Eine Identität, die sich im Bruch mit den Anderen konstituiert, sinnt jetzt auf Vergeltung für das erlittene Unrecht. Und es ist die ganze Gesellschaft, die schuldig gesprochen wird. Sie ist, im dschihadistischen Jargon gesprochen, abtrünnig, gottlos, ungläubig. Diese Gesellschaft gilt es zu bekämpfen, selbst wenn man für die heilige Sache in den Tod gehen muss.