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Bewusstsein

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Sein Körper war ein einziger Schmerz. Viermal schon hatten sie ihn mithilfe von eiskaltem Wasser wieder zu Bewusstsein gebracht, nachdem er in die gnädigen Arme einer Ohnmacht gesunken war. Nun aber wusste Ahmed, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Seine Kehle war rau wie grobes Sandpapier und so trocken wie das Land, aus dem Mama und Papa gekommen waren.

Er hatte es nicht mehr ausgehalten und geschrien und geschrien, für eine Weile jedenfalls; unter jedem Schlag und bei jedem neuem Schmerz, bis er ganz heiser war. Er hatte geweint und um Gnade gebettelt; er hatte es nur noch schlimmer gemacht. Er hatte gebetet, zu Allah, doch es war keine Hilfe gekommen.

Sie hatten ihm einen Gürtel um den Hals gelegt und so fest zugezogen, dass er befürchtete ersticken zu müssen. Dann wieder hatten sie ihn geschlagen und mit Gegenständen traktiert, die er durch seine geschwollenen Augen nicht einmal auseinander halten konnte.

Die Frage, die man ihm stellte, war immer dieselbe. Er wusste die Antwort nicht und genauso wenig, was sie von ihm hören wollten. Er konnte nicht antworten, selbst wenn er gewollt hätte. Denn es war vollkommen egal, was er bisher auch immer geantwortet hatte: Man hatte ihm nicht geglaubt und einfach weiter gefragt, als ob er überhaupt nichts gesagt hatte. Er spürte, dass es bald mit ihm zu Ende gehen würde; denn in den Augen der Männer lag kein Erbarmen.

*****

Das Abendessen ist eine ruhige Angelegenheit. Kim ist mit Stubenarrest und einem Teller mit zwei Scheiben Butterbrot zu Bett geschickt worden. Ludmilla Zettergren bezweifelt jedoch, dass der Junge schon schläft. Wahrscheinlich hat er es sich wie schon so oft mit Christers Taschenlampe unter der Bettdecke gemütlich gemacht, um einen Abenteuerroman von Mark Twain oder Robert Louis Stevenson zu lesen.

Während Ludmilla sich schweigend eine dritte Scheibe helles Dünnbrot mit gesalzener Butter bestreicht, überlegt sie, ob sie das belanglose Gespräch ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns unterbrechen soll, um über Kim zu sprechen. Sie spürt, dass den Jungen etwas bedrückt, mit dem er allein nicht fertig wird. Er braucht Hilfe, am besten die Hilfe seiner Eltern.

Andererseits ist da Christers sarkastische Art, die in solchen Fällen selten zielführend ist und genau genommen nur Carinas überfürsorgliches Gehabe ins Unerträgliche verstärkt. Schon deshalb, aber auch um Carina nicht unnötig zu beunruhigen, hat Ludmilla ihnen nichts davon erzählt, was Torge gesehen hat.

„Die Vorbereitungen“, sagt Christer, während er genüsslich einen Schluck aus seiner Flasche Leichtbier nimmt, „sind abgeschlossen. Fehlt noch das Zelt von Petter morgen, dann ist alles fertig.“

„Du hättest Maiken sehen sollen“, grinst Carina, „als ich ihr die Lebensmittel gebracht habe. Sie hat gestrahlt wie ein Christbaum. Jetzt kocht und bäckt sie bestimmt die gesamte Nacht durch.“

„Und dann reicht es wieder für eine ganze Armee“, fällt Ludmilla lächelnd ein.

„Vielleicht sollte ich ihr doch helfen gehen“, überlegt Carina halblaut, aber ihr Mann schüttelt lächelnd den Kopf.

„Kommt gar nicht infrage“, antwortet er. „Jedenfalls nicht, bevor wir unseren Spaziergang gemacht haben. Darauf freue ich mich schon den ganzen Tag.“

Carina nickt und schiebt ihren Stuhl zurück, während Christer die Flasche leert und ebenfalls aufsteht. Ludmilla zögert einen Moment und blickt zur Zimmerdecke hinauf. Unwillkürlich tun es ihr die beiden anderen nach.

„Lassen wir ihn in dem Glauben“, sagt Christer achselzuckend, „dass wir nicht wissen, dass er noch heimlich liest. Wir sind ja in zwanzig Minuten zurück, dann schaue ich nach Kim und nehme die Taschenlampe mit.“

Ludmilla muss sich ein Grinsen verbeißen, als sie Carinas empörte Miene sieht. Ihre Tochter würde auf der Stelle hinauf laufen, um dem Stubenarrest mit der obendrauf verordneten Bettruhe augenblicklich Nachdruck zu verleihen. Aber Christer drängt sie zur Tür und schenkt ihr einen so treuherzigen Blick, den ein Dackel kaum besser hinbekommen würde, sodass Carina seufzend ihre rosa Steppjacke vom Haken nimmt und sich bei ihrem Mann einhakt.

„Kommst du mit, Milla?“ fragt Christer. „Wir gehen einmal herum, auch hinten in der Südwestbucht vorbei…“

Ludmilla schluckt, dann nickt sie. Es ist eine so schöne sternenklare Mondnacht, da wird sie sich von niemandem daran hindern lassen, ein paar Augenblicke die frische kühle Nachtluft zu genießen.

Schweigend wandert sie ein paar Minuten später in Steppmantel, Mütze und Schal den sandigen Weg entlang, vorbei an Torges Haus ‚Själens Ru‘ – Seelenruhe – in der Westbucht, bis hinüber zur südwestlichen Spitze der Insel, wo ein schmaler Pfad unter dicht beieinander stehenden Birken zu einem kleinen Haus führt, das Ludmilla seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr betreten hat.

Auch dieses Mal verspürt sie keinerlei Drang, den Pfad ihrer Kindheit entlang zu laufen und nachzusehen, ob die weiß gestrichene Hollywoodschaukel auf der Veranda noch die schönen, blau-weiß gemusterten, Polster hat. Um nichts in der Welt würde sie einen Fuß auf den gewundenen Pfad setzen, an dessen Saum hier und da Walderdbeeren wachsen – die besten auf der ganzen Insel.

Stattdessen beschleunigt sie bewusst ihr Tempo und geht mit drei großen Schritten an dem Pfad vorbei, an dessen Ende die Besitzerin des gemütlichen kleinen Hauses ‚Fridful‘ – friedevoll – bestimmt schon zur Ruhe gegangen ist.

Christer und Carina schlendern Arm in Arm gemütlich voraus und verlieren kein Wort darüber, dass sie gerade das Reich von Lovisa passiert haben. Ludmilla verbietet sich, auch nur einen Gedanken an die alte Frau zu verschwenden, und wenn sie noch so sehr ihre Mutter ist. Es gibt Dinge, die sind nicht zu verzeihen.

„Was für eine herrliche Mondnacht!“ seufzt Carina leise und kuschelt sich in Christers Arm, als sie die Südbucht erreicht haben, von wo aus der Blick am Riddarsteen vorbei ungehindert auf den beinah windstillen Sund hinaus geht.

Auch Ludmilla bleibt für ein paar Minuten stehen und betrachtet andächtig die silbrige Bahn, die das helle Licht des vollen Mondes auf das beinah spiegelglatte nachtschwarze Wasser zaubert. Am Nachthimmel funkeln unzählige Sterne und geben der friedlichen Atmosphäre einen geradezu romantischen Anstrich.

Nirgendwo ist Licht zu sehen, und doch weiß Ludmilla, dass zur Linken das Haus auf dem Riddarsteen steht, während zur Rechten, verborgen durch die weißen Birken und einige Brombeerhecken, das gemütliche kleine Haus ‚friedevoll‘ im Schlummer liegt.

Langsam gehen sie weiter, den Uferweg entlang hinüber zu den Ferienhäusern von Lindholms, die sich wie Perlen an einer gebogenen Schnur am Südstrand aufreihen und still und verlassen im Mondschein baden. Die Fensterscheibe ist wieder ganz, von Kims weiteren Abenteuerspielen ist nichts zurückgeblieben als ein abgebrochener Indianerpfeil, dessen Spitze Christer aus einem Birkenstamm neben Haus Sechs zieht.

„Zielschießen“, murmelt er. „Wenn das so weitergeht, bekommen wir bei Nisse bald auch noch Rabatt auf Fensterscheiben. Das war schon die dritte Scheibe in zwei Monaten.“

„Ziehen wir es ihm beim nächsten Mal vom Taschengeld ab“, schlägt Carina unsicher vor. „Er muss langsam lernen, dass sein Handeln Konsequenzen hat.“

„Er ist erst zehn“, wagt Ludmilla einzuwerfen, doch Carinas Unsicherheit ist wie weggewischt, als sie fortfährt: „Wenn wir es ihm jetzt durchgehen lassen, wer weiß, was er dann erst in ein paar Jahren macht, wenn er mit dem Träumen aufhört und …“

„… anfängt, sich für Mädchen zu interessieren?“ schlägt Christer halbernst vor. „Ach was“, schnappt Carina. „Nein, das meine ich nicht. Wenn wir jetzt nichts tun, dann lernt er, dass er alles tun kann, was er will. Wir sind einfach nicht streng genug mit ihm.“

„Wundert dich das?“ fragt Christer ehrlich erstaunt. „Erinnere dich, wie er zu uns kam. Ich kann einfach nicht böse mit ihm sein. Ich sehe ihn immer noch vor mir, das kleine Bündel Mensch in der riesigen Holzkiste, eingewickelt in dreckstarre Tücher…“

„Hör auf“, jammert Carina, „du hast ja recht. Aber so kann es trotzdem nicht weitergehen, Christer. Er muss begreifen, dass er sich an Regeln halten muss.“

„Gut, dass du das selbst sagst…“

„Wieso?“

„Na, du bist es doch, die ihn nach Strich und Faden verwöhnt.“

„Ich? Nein, meine Großmutter. Sie ist es, die ihn mit all dem Zuckerzeugs vollstopft, sodass er abends keinen Appetit mehr auf anständiges Abendessen hat. Wir müssen wirklich mal mit ihr sprechen, so kann das nicht weitergehen.“

„Das können wir ja gerne demnächst machen…“

„Und du musst strenger sein mit ihm. Du bist sein Vater. Er muss lernen, dass er sich an deine und meine Regeln halten muss.“

„Das müssen wir ja nicht gerade jetzt und hier entscheiden, oder?“

Ludmilla sieht, wie Christer seiner Frau tief in die Augen blickt und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gibt, als sie sich halb zu ihm herumdreht und ihre Wange an seine Brust schmiegt.

Vorsichtig tritt Ludmilla ein paar Schritte zurück, um den beiden ein bisschen Abstand und Privatsphäre zu gewähren. Dabei fällt ihr Blick auf den schmalen Pfad, der vom Südstrand den bewaldeten Hügel hinauf zu Olsons Haus führt. Zwischen den hellen Stämmen der schlanken Birken hindurch kann sie einen Lichtschein erkennen; offenbar haben Anita und Petter ihre Stadtwohnung in Stockholm einen Tag früher als sonst verlassen, um in ihr gemütliches kleines Wochenendhaus zu übersiedeln.

Kurz überlegt Ludmilla, hinüber zu gehen und einen guten Abend zu wünschen. Dann aber fällt ihr ein, wie spät es bereits ist. Bestimmt ist Petter nach einer anstrengenden Woche am Flughafen Arlanda, wo er zum Bodenpersonal der SAS gehört, hundemüde und will nicht gestört werden, sondern seine Zeit mit Anita genießen. Ludmilla sieht sie im Geiste im geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer sitzen, eingehüllt in Wolldecken, während der offene Kamin den Duft von Birkenholz im ganzen Haus verströmt.

Das gemütliche kleine Haus ‚Friwil‘ – freier Wille – hat einst den Noréns gehört. Bis vor siebzehn Jahren hat dort Lisa Norén gewohnt, die Witwe von Torges Freund Jasper und Mutter von Jenny, deren uneheliche Tochter Liv heute in Stockholm für die Regierung arbeitet.

Ludmilla schluckt. Der Gedanke an Jenny tut weh. Trotz des Altersunterschieds von vier Jahren ist die später so resolute Frau schon als Teenager ihre beste Freundin gewesen. Die Freundschaft hat gehalten und sich sogar noch vertieft, auch wenn Jenny in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens in New York gelebt hat – bis zu jenem schrecklichen Tag im September vor vierzehn Jahren.

Mit Gewalt zwingt Ludmilla ihre Gedanken in eine andere Bahn. Sie blickt hinauf zu den Sternen und spürt, wie ihr eine Träne aus dem Augenwinkel perlt und schließlich von ihrem Kinn auf den Sandweg tropft. Es ist lange her, aber es schmerzt so, als wäre es gerade erst gestern gewesen.

Langsam wandert Ludmilla weiter, den Uferweg entlang in Richtung von Lindholms Haus, das in der Ostbucht steht und auf den Lindholm – die unbewohnte langgestreckte Insel mit der ausgebrannten Ruine darauf – hinüberschaut. Auch Bengt, Agneta und die drei Lindholm-Kinder sind um diese Zeit bestimmt nicht mehr für Besuch zu haben. Aus einem der oberen Zimmer, das wohl einem der Kinder gehört, flackert bläuliches Licht wie von einem Fernseher in die Dunkelheit hinaus.

Hinter sich hört sie die leisen Schritte von Carina und Christer, als sie den Blick vom namenlosen Lindholm-Haus abwendet und weitergeht. Nach der nächsten Biegung des Sandweges liegt vor ihr der Südrand der Ostbucht, in die sich die Ferienhäuser Eins bis Drei kuscheln und über das nachtschwarze Wasser auf ihre kleinen rot gestrichenen Bootshäuschen auf dem Steg am Ende der Bucht hinaus schauen. Obwohl darin schon lange keine Segel- oder Ruderboote mehr liegen, hat es Bengt Lindholm bisher nicht übers Herz gebracht, diese Inbegriffe schwedischer Schärenidylle zu entfernen.

Langsam wandert Ludmilla weiter, vorbei am Wochenendhaus ‚Norrgården‘ – Nordgarten – von Olaf Enkvist, der als Herzchirurg am Karolinska Institut in Stockholm arbeitet, und vorbei am Haus ‚Livstid‘ – Lebenszeit – von Judith Isaacsson, die ihre Enkelin Kiki Sundström bei sich wohnen hat.

An der Nordbucht angekommen, die gleichzeitig die größte Bucht ist und den natürlichen Hafen der Insel bildet, bleibt Ludmilla erneut stehen und genießt für ein paar Augenblicke lang die friedliche Ruhe, die vom dunklen und beinah reglosen Wasser der Bucht ausgeht. Nur hier und da ist ein leises Glucksen zu vernehmen, wenn eine kaum sichtbare Welle gegen die an ihren Bojen liegenden Segelboote schwappt.

„So friedlich“, hört sie hinter sich Carina seufzen.

Offenbar sind sie und Christer ebenfalls stehen geblieben, um die Ruhe auf sich wirken zu lassen. Wenn morgen die nächsten Gäste kommen, wird es vorbei sein mit der Beschaulichkeit auf Björkö.

Ludmilla versucht sich gerade widerwillig aufzuraffen und weiterzugehen, als sie ein Geräusch hört, das sie zusammenzucken lässt. Es dauert ein paar Herzschläge lang, bis sie das Geräusch zuordnen kann. Es ist nichts, was sie nicht schon gehört hätte, ganz im Gegenteil. Aber es ist ungewöhnlich und höchst befremdlich, es in der Dunkelheit und um diese Uhrzeit zu hören.

„War das ein Boot?“ fragt Christer leise.

Er klingt ebenso überrascht und leicht erschrocken wie Ludmilla sich fühlt. Es ist gefährlich, bei Dunkelheit an der Nordseite von Björkö vorbeizufahren, sogar lebensgefährlich. Die starke Strömung des Sundes zieht alles in die schmale Passage zwischen Björkö und Stormalm. Wer sich nicht auskennt, wird auf den Lillemalm geschwemmt – oder gleich in den tückischen Strudel gezogen, der auf der Stormalmer Seite der kaum einhundertzwanzig Meter breiten Passage alles auf das felsige Südwestufer der großen Nachbarinsel zieht.

Und damit nicht genug: Abseits des Fahrwassers der Fähre, die von Stockholm kommend durch den Schärengarten fährt, gibt es vor der Ostseite von Björkö eine gefährliche Untiefe oberhalb des Lindholms, wo schon zahlreiche unbedarfte Sportbootführer auf Grund gelaufen sind. Außer Torge, Christer und den anderen ständigen Inselbewohnern würde sich niemand freiwillig bei Dunkelheit in diese Gefahr bringen.

„Das war wohl draußen im Fahrwasser“, antwortet Ludmilla leise. „Im Dunkeln trägt der Schall weiter. Ich glaube nicht, dass jemand so leichtsinnig wäre, sich in der Nacht hierher zu uns zu verirren, zumal ohne Licht. Oder hast du irgendwelche Positionslaternen gesehen?“

Christer schüttelt den Kopf, behält aber sein Stirnrunzeln bei. Ludmilla sieht ihm im fahlen Mondlicht deutlich an, dass er genau wie sie selbst das seltsame Platschen gehört hat. Da wird doch nicht etwa irgendeiner ohne Licht und ohne Genehmigung in ihren Gewässern fischen?

„Mir ist kalt“, hört sie Carina leise sagen. „Lasst uns zurückgehen. Ich koche uns eine Kanne Tee, irgendwas Warmes, Kräuteriges, zum Einschlafen.“

„Und ich sehe noch rasch nach Kim“, ergänzt Christer und beschleunigt ebenfalls seine Schritte, sodass Ludmilla überholt wird und als letzte am dunklen Haus ‚Livslust‘ ankommt.

Es ist unnatürlich ruhig im Haus, sodass Ludmilla unwillkürlich kalt über den Rücken fährt. Noch bevor Christer die Treppe hinauf ist und sein erschrockener Wutschrei durchs Haus hallt, ahnt sie, dass Kim nicht da ist.

*****

Die Spur des Austernfischers

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