Читать книгу Die Spur des Austernfischers - Fee-Christine Aks - Страница 7

Donnerstag, 16. April 2015.

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Carlotta Strandt seufzt leise und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Das hohe Glas mit Latte Macchiato darin ist noch warm, als sie es vom Tisch des kleinen Cafés angelt und langsam ein paar Schlucke trinkt.

Entspannung will in dieser vorgezogenen Mittagspause nicht aufkommen, was wohl auch daran liegt, dass sie noch in voller Uniform an dem runden Tischchen sitzt und die Dienstmütze als Schutz vor direktem Sonnenlicht nutzen muss. Ihre haselnussbraunen großen Augen sind nur noch schmale Schlitze und unbestimmt in die Ferne gerichtet, während sie sich gedankenverloren eine ihrer kurzen kastanienbraunen Locken um den linken Zeigefinger wickelt.

Wie man es dreht und wendet, sie muss eine Entscheidung treffen, und zwar schon bald. Je länger sie zögert, umso schlimmer wird es werden. Aber es ist nicht leicht, auch wenn sie genau weiß, dass sie die Sache nicht einfach weiter ignorieren kann. Ihre sachliche innere Stimme sagt ihr, dass es an der Zeit ist, Fakten zu schaffen; doch ihr Herz widerspricht heftig und beinah schmerzhaft.

Bis vor drei Monaten ist sie noch Carlotta Strandt gewesen, vielversprechende Jungkommissarin bei der Hamburger Polizei. Dann hat der Chef sie mitten in der Schicht zu sich gerufen und die Verwarnung ausgesprochen.

‚Sie sind ja noch nicht so lange bei uns, Lotta‘, hat Krüger gesagt, ‚aber wie alle anderen haben auch Sie auf der Polizeischule gelernt, dass wir nicht einfach so in fremder Leute Häuser einbrechen dürfen. Ohne Durchsuchungsbeschluss. Tz, tz, was haben Sie sich nur dabei gedacht?‘

Ja, was hat sie sich gedacht? Es ist alles so schnell gegangen, dass für Gedanken an die Vorschriften kaum Zeit gewesen ist. Auch Kollege Gerrit Raake hat nicht widersprochen und ihr sogar beim Einbrechen geholfen, wofür er mittlerweile ebenfalls einen Verweis bekommen haben wird. Aber zählt es denn nicht, dass sie durch diese dreiste Aktion einen Jahrzehnte lang gesuchten Massenmörder verhaften und zweifelsfrei überführen konnten?

Die freundliche Staatsanwältin vom Landgericht Aurich hat es zwar nicht offen zugeben können, aber sich indirekt für die umfassenden Beweise bedankt, die den Mörder bis an sein Lebensende hinter Gitter bringen werden. Zum Glück ist das eigenmächtige Handeln einer Hamburger Kommissarin und ihres Kollegen von der Polizei Borkum nicht zum Nachteil der Anklage geworden, auch wenn die Pflichtverteidigerin die Umstände der Verhaftung und die Dienstauffassung der betreffenden Polizisten infrage gestellt hat.

Die Kollegen in Hamburg haben sie einerseits zum erfolgreichen Abschluss des Falles beglückwünscht, zum anderen darauf hingewiesen, sich in Zukunft strikt an die Vorschriften zu halten. Es sind schon viele vermeintlich klare Prozesse durch kleinste Verfahrensfehler gescheitert.

Ähnlich verhält es sich auch, Lotta schluckt schwer, mit ihrer Bewerbung, die im vergangenen Dezember an die Kriminalpolizei Hamburg gegangen ist. Die freie Stelle beim Morddezernat wäre genau die Herausforderung, die sie sucht. Aber mit der Verwarnung und dem Vermerk in ihrer Akte ist es ein Wunder, dass sie ihr einen so freundlichen Absagebrief geschickt haben. ‚Zum derzeitigen Zeitpunkt können wir Ihnen diese Stelle leider nicht anbieten.‘ Aber bedeutet das nicht, dass sie es zu einem späteren Zeitpunkt nochmal versuchen kann?

Kollege Max hat gesagt, man solle sich durch solche Rückschläge ja nicht verunsichern lassen. Aber auch er hat zu spüren bekommen, was es heißt, die Vorschriften zu missachten. Natürlich sind alle heilfroh, dass er diese gefährlichen Leute in Berlin verhaften konnte, bevor der U-Bahn, dem Bundestag oder dem Flughafen etwas passiert ist. Seine Verhör-Methoden haben zwar zum Erfolg geführt, aber auch das Maß überschritten, das in Deutschland erlaubt ist.

Außerdem ist Max dem deutschen Geheimdienst, dem Bundesnachrichtendienst, auf die Füße getreten, indem er eigenmächtig das Verhör geführt hat, ohne auf den BND oder die Herren vom Verfassungsschutz zu warten.

Im Vergleich dazu ist Hausfriedensbruch ohne Körperverletzung harmlos, aber eben auch ein Verfahrensfehler, der die Staatsanwaltschaft den Prozess hätte kosten können, so wie es jetzt in der Hauptstadt mit den Beinah-Attentätern und wohl auch mit dem Neo-Nazi der Fall sein wird, wenn die Verteidigung gut genug argumentiert.

Dennoch, ein Fehler ist ein Fehler. Genau wie ihr eigenmächtiges Handeln am gestrigen Tag. Statt Belobigung hat sie erneut ein Gespräch mit Krüger gehabt. Für Alleingänge habe er kein Verständnis, hat der Chef gesagt. Dabei hätte es auch ganz anders ausgehen können, gestern in der Schanze. Was wäre passiert, wenn sie den Skinhead nicht mit einem seitlich gedreht Yop-Chagi am Betreten eines linken Szene-Treffs gehindert hätte? Aber das zählt natürlich nicht; zählen tut nur, dass sie ohne Provokation angegriffen hat – entgegen der Taekwondo-Philosophie und der Polizei-Gepflogenheiten.

‚Ich hatte gehofft‘, hat Krüger mit spürbarer Enttäuschung hinzugefügt, ‚dass Sie aus der Sache im Dezember gelernt haben. Aber offenbar nehmen Sie sich lieber ein Beispiel an Kollege Bohse, ein schlechtes, wohlgemerkt.‘

Dann hat er sie mit der Bemerkung vorzeitig aus der Schicht entlassen, dass sie die Woche Urlaub dazu nutzen solle, in aller Ruhe über ihre berufliche Laufbahn nachzudenken. In zwei Wochen wolle er dann eine Entscheidung von ihr – Dienst nach Vorschrift ohne Aussicht auf baldige Beförderung oder Versetzung in den Verwaltungsdienst. Beides sind Alternativen, die Lotta nicht behagen. In letzter Konsequenz könne sie ansonsten auch noch ein Studium beginnen, hat Krüger mit bemüht freundlichem Tonfall zum Abschied gesagt, sie sei ja noch jung, erst im Juli dreiundzwanzig Jahre alt.

Aber Lotta kann sich einfach nicht vorstellen, wie es wäre, nicht Polizistin zu sein. Daher wird sie kämpfen müssen, egal wie schwer es ihr fällt. Das gilt beruflich wie privat, auch wenn sie noch keine Ahnung hat, wie sie das schaffen soll. Nicht zum ersten Mal hat sie das Gefühl, in einer Sackgasse zu stehen, umgeben von unüberwindbaren Mauern.

„Und was wirst du jetzt machen, Lottchen?“ wird sie von einer hellen Stimme aus ihren düsteren Gedanken zurück in die Gegenwart gerissen. „Ich meine, wegen Moritz?“

Überrascht blickt Lotta auf und direkt in die fragenden grauen Augen von Susanna Eberhardt, ihrer besten Freundin, die ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tischchens sitzt, mit der Fußspitze des überschlagenen Beines unruhig wippt und sich den Milchschaum ihres Latte Macchiatos von den vollen Lippen leckt. Ein bisschen Schaum hat sich auch in die Spitzen ihrer kinnlangen rotbraunen Locken verirrt, die wie immer künstlerisch eigenwillig nach allen Seiten abstehen, sodass Sanna sie etwas mühsam eine nach der anderen mit einer Papierserviette abwischen muss.

Nach dem Gespräch mit dem Chef hat Lotta sofort mit ihrer besten Freundin sprechen müssen, die eine gemeinsame Mittagspause vorgeschlagen hat im Café auf dem Alsteranleger gleich um die Ecke von der Werbeagentur, in der Sanna als Grafikdesignerin arbeitet.

Über Salat und Coke zero haben sie Lottas Neuigkeiten und Aussichten auf eine berufliche Zukunft bei der Hamburger Polizei – Streife oder Kripo – diskutiert, sind aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen. Lotta fühlt, wie sich die Sackgasse hinter ihr schließt und ihr keinen Ausweg mehr lässt – genau wie bei dem Problem, mit dem sie sich privat herumschlägt und bei dem Sanna ihr nur allzu gern helfen würde, es aber außer mit freundschaftlichem Beistand nicht kann.

„Also?“ wiederholt Sanna. „Siehst du noch eine Chance für euch?“

„Ich weiß es nicht“, antwortet Lotta leise und leert ihr Glas, um sich sammeln zu können. „Ich liebe ihn, ja, wirklich. Aber wie kann ich mit ihm zusammen sein, wenn er mit dem Mann verwandt ist, der meine Familie ermordet hat?“

„Ich weiß, Süße“, murmelt Sanna zerknirscht. „Aber eigentlich kann er doch…“

„… nichts dafür“, vollendet Lotta. „Schon klar, es ist ja auch völlig irrational, aber ich muss immer daran denken, was der Mörder mit meiner Mutter und wegen ihr gemacht hat. Ich habe sogar Alpträume deswegen. Es ist schrecklich. Letztes Wochenende, als Moritz da war, da konnte ich ihn nicht mal küssen. Ich habe Herzrasen bekommen, die schlimme Sorte, sobald er mir näher kam. Es war furchtbar. Er tat mir so leid. Aber ich konnte nicht anders.“

Sannas graue Augen sind neblige Teiche, als sie an Lotta vorbei in den blauen Himmel des frühen Nachmittags starrt. Ein paar Möwen fliegen vorbei, weiße Flecken vor dem Himmelsblau, während am Ende des Steges vier Stockenten ihre bettelnden Kreise ziehen und zwei majestätische Alsterschwäne nach den baumelnden Beinen der Café-Besucher ganz vorne an der Kante schnappen.

„Warst du nochmal bei der Psychologin?“ fragt Sanna schließlich leise.

Lotta nickt und stellt das leere Glas zurück auf den Tisch, während sie an das letzte Gespräch mit Frau Doktor Rosenberg zurückdenkt. Die Reaktionen seien ganz normal, hat die hagere Frau mit freundlich interessiertem Lächeln gesagt. ‚Sie trauern, und das ist auch gut so. Sie müssen verarbeiten, was Sie über Ihre Familie und vor allem das Schicksal Ihrer Mutter herausgefunden haben. Aber versuchen Sie, nicht die Menschen von sich wegzustoßen, die Ihnen helfen und Ihnen Kraft geben wollen. Keine Sorge, das wird schon werden.‘

Leichter gesagt als getan. Wie soll man sich verhalten, wenn man erfährt, dass die Menschen, die man über zwanzig Jahre für seine Eltern gehalten hat, gar nicht die leiblichen Eltern sind? Wer ist man, wenn sich herausstellt, dass die eigene Mutter entführt und Monate lang von einem gewissenlosen Menschen gegen ihren Willen festgehalten worden ist? Wie soll man verarbeiten, dass die eigene Mutter ihr Leben gegeben hat, um einem Baby das Leben zu schenken – einem Baby, das man selber ist?

Na klar, Märit und Hermann Strandt sind ihre Eltern, aber sie haben die Rolle nur angenommen. Es schmerzt sehr, diese lieben Menschen nun nur noch als Adoptiveltern zu sehen und über die wahre Abstammung, den ursprünglichen Familiennamen sowie den richtigen Geburtsort Bescheid zu wissen.

Dazu kommt noch die Tatsache, dass ausgerechnet der Mann, mit dem man sich hat vorstellen können alt zu werden, mit dem Mörder der leiblichen Eltern verwandt ist und ganz ungeahnte Seiten hat. Es macht es nicht besser, dass man diesen Mann über alles liebt.

„Wirst du eine Therapie machen?“ fragt Sanna weiter. „Oder reicht es mit den drei Pflichtbesuchen?“

Lotta zuckt mit den Schultern. So genau hat sie sich das noch gar nicht überlegt. Die vergangenen Wochen sind so schnell vorbeigeflogen, dass sie kaum eine ruhige Minute für sich und ihre Gedanken gehabt hat. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass man als Zeugin vor Gericht geladen wird, die kläglichen Überreste der eigenen Mutter persönlich aus der Pathologie abholt und kirchlich bestatten lässt oder seinen Traumberuf in ernsthafter Gefahr sieht.

„Ich habe ihr gesagt“, antwortet Lotta leise, „dass ich mich nach dem Urlaub entscheiden werde. Dann weiß ich auch, ob ich noch ein zusätzliches Problem behandeln lassen muss.“

„Liebeskummer kannst du vermeiden“, erwidert Sanna sachlich. „Er ist ein so netter Kerl, wirklich, ich mag ihn. Und seinen Kumpel, den Sebastian, auch.“

„Ja“, seufzt Lotta leise, „er und Basti sind große Klasse. Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht darum, dass ich innerlich total verkrampfe, wenn Moritz mir nahe kommt. Erinnerst du dich an das Wochenende im Februar?“

„Als du nach seinen Prüfungen zu ihm nach Bremen gefahren bist?“

„Genau. Ich wollte ihn umarmen und ihm gratulieren – ausgezeichnet in Sport und hervorragend in Mathe – aber ich konnte nicht. Ich stand plötzlich wie eine Salzsäule da, sodass er mich umarmen musste. Ich habe die ganze Zeit über die Zähne zusammenbeißen müssen um nicht loszuschreien.“

„Warum sagst du mir das erst jetzt?“

Sannas Stimme klingt geschockt und ehrlich besorgt. Ihre grauen Augen haben einen feuchten Schimmer, während sie vorsichtig eine Hand über den Tisch streckt und sie nur Millimeter von Lottas überschlagenen Beinen in der Luft schweben lässt.

„Therapie-Erfolg“, antwortet Lotta mit einem schiefen Lächeln. „Nein, absolut keine Ahnung. Es ging einfach nicht.“

„Und jetzt der Urlaub? Wirst du fahren?“

„Wir haben es Maja versprochen“, seufzt Lotta leise. „Basti fährt auf jeden Fall, ist ja klar. Aber auch Moritz und ich haben zugesagt. Majas Großvater feiert immerhin die stolze Zahl von fünfundneunzig Jahren.“

„Und diese kleine Insel“, ergänzt Sanna leise und beinah wehmütig, „die klingt so idyllisch. Björkö, das hat was mit Bäumen zu tun, nicht wahr?“

„Birkeninsel“, nickt Lotta. „Björk bedeutet auf Schwedisch ‚Birke‘ und ö ‚Insel‘. Es muss richtig romantisch dort sein, jedenfalls den Fotos nach zu schließen, die Maja gezeigt hat. Sie liegt gut anderthalb Stunden mit der Fähre von Stockholm entfernt in den Schären.“

„Eine Birkeninsel mitten in der Ostsee“, grinst Sanna, „das klingt wirklich sehr romantisch. Ich wette, dort gibt es auch so einen riesigen Bernhardinerhund wie bei der Kinderserie von Astrid Lindgren, die wir früher im Fernsehen gekuckt haben, erinnerst du dich?“

„Bootsmann“, nickt Lotta. „Ja, so hieß der Hund. Aber, nein, laut Maja gibt es auf Björkö nur zwei oder drei Katzen, einen Scotchterrier und einen Labrador.“

„Das klingt ja so, als ob du fahren wirst.“

„Du hättest Maja hören sollen. Sie hat so geschwärmt, dass wir gar nicht anders konnten als zusagen. Es gibt dort keine Autos, dafür einen Hektar unberührten Birkenwald, zwei Sandstrände und einen Kiesstrand, fünf ständig bewohnte Häuser, zwei Wochenendhäuser und sechs kleine Ferienhäuser sowie eine vorgelagerte kleine Privatinsel mit einem Haus darauf. Das Haus von Majas Großvater liegt auf der Hauptinsel in der Westbucht mit Blick aufs Wasser.“

„Auf, hin da!“

Sanna kichert leise und löffelt den letzten Schaumrest aus ihrem Glas, während Lotta sich plötzlich bewusst wird, dass sie ihre Entscheidung getroffen hat. Sie wird fahren. Und sie wird versuchen, nett zu Moritz zu sein, auch wenn er es eigentlich nicht verdient hat; schließlich ist es seine Schuld, dass sie von diesen schrecklichen Alpträumen geplagt wird. Wenngleich es ihr schwerfällt, hat sie das Gefühl, dass es ihm leidtut, selbst er keinen Ton verloren hat – über jene Sache. Ob sie ihm verzeihen kann, wird sich zeigen.

Sie muss es versuchen. Sie muss auf Doktor Rosenberg hören und versuchen, sich ihm wieder zu nähern und sich an seine Gegenwart zu gewöhnen. Sie will ihn nicht verlieren, weil sie genau weiß, dass dies ihre letzte Chance ist, sich selbst eine glückliche Zukunft zu schaffen. Denn – so seltsam es erscheinen mag – die Alternative, eine Leben ohne Moritz, ist etwas, über das sie keinesfalls nachdenken will.

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Polarwolf an Eiswolf

Betreff: Partyplanung.

Endlich ist es soweit, die große Feier soll stattfinden. Details folgen. Bist du dabei?

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