Читать книгу Die Spur des Austernfischers - Fee-Christine Aks - Страница 8

Kamerafunktion

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Es war ein Schmerz, wie er noch nie einen gefühlt hatte. Dagegen waren sogar die Zigaretten geradezu eine Erholung gewesen. Ahmed wollte schreien, doch das Klebeband auf seinem Mund unterdrückte selbst sein gepeinigtes Stöhnen. Er presste die Augen zu und betete zu Allah, dass er ihn erlösen möge.

Doch Allah hörte nicht. Wahrscheinlich war er gerade anderswo beschäftigt und konnte sich nicht um einen unnützen Jungen wie ihn kümmern, der noch dazu ungezogen gewesen war. Warum nur hatte er die Mathematikstunde, die letzte des Tages, geschwänzt und war stattdessen ziellos durch die grauen Straßen geschlendert? Was hatte es ihm gebracht; die Mathearbeit würde er dann eben in der zweiten Stunde morgen erhalten und dem Vater zur Unterschrift vorlegen müssen. Warum war er nicht in den Park gegangen? Warum nur hatte er das alte Fabrikgelände betreten und diese verdammte Tür geöffnet? Was hatte ihn bloß dazu getrieben, die heruntergekommene Lagerhalle zu betreten und sich zwischen den Ersatzteilen auf die dicken Autoreifen zu setzen?

Allah hatte ihn geführt, das war Ahmed schlagartig klar gewesen, als plötzlich die beiden Männer hereingekommen waren. Sie hatten sich leise unterhalten. Ihre Worte hatten zunächst gar keinen Sinn ergeben. Hatten sie wirklich von einem ‚Austernfischer‘ gesprochen, als es um die Planung einer Party ging?

Er hatte sein Smartphone aus der Tasche gezogen, um das Wort zu googlen. Wahrscheinlich hatte er sich verhört. Doch anstatt des Browsers hatte er die Kamera gestartet, die noch vom Vormittag auf dem Schulhof auf ‚Video‘ stand.

Er hatte gefilmt und versucht, die Gesichter der Männer zu erkennen, doch sie standen seitlich zu ihm, sodass er nur ihre athletischen Silhouetten hatte sehen können. Er hatte gelauscht und es zunehmend mit der Angst bekommen.

Denn das, was die beiden da diskutierten, bedeutete, dass nicht nur einige ‚Saukerle‘, ein ‚verdammter Mistkerl‘ und eine Frau namens Amal, sondern auch Cousin Abdul an seinem Arbeitsplatz alles andere als sicher sein würden.

Warum von ‚Maskerade‘ und ‚Abstimmung‘ die Rede war, hatte er nicht verstanden; dafür war aber deutlich zu verstehen, dass etwas Wichtiges an einem bestimmten Ort versteckt werden würde und dass jemand mit Namen Charly dabei sein würde.

Die Kamerafunktion hatte automatisch gespeichert, als sich plötzlich der Bildschirm verdunkelt und der Energiespar-Modus eingeschaltet hatte. Der helle Pieps-Ton war ihm durch und durch gegangen.

Dass die beiden Männer ihn erwischt hatten, war abzusehen gewesen, auch wenn er es noch fast bis zur Tür geschafft hatte. Alles, was danach geschehen war und an das Ahmed sich nur noch wie durch einen Vorhang aus grau-rotem Nebel erinnerte, war jenseits aller Vorstellungskraft. Genau wie dieser Schmerz, der sich nun von der Stelle zwischen seinen Beinen bis in jeden kleinsten Zipfel seines Körpers ausbreitete.

Ahmed spürte, wie seine Beine nachgaben und er unaufhaltsam dem Boden entgegen rutschte, sodass seine mit Klebeband befestigten Arme von seinem eigenen Gewicht schmerzhaft in die Länge gezogen wurden. Seine Schultern drohten aus den Gelenken zu springen, als er am ganzen Körper zitternd und wie von Millionen von glühenden Nadeln gestochen in sich zusammen sank.

Der Mann vor ihm stellte wieder eine Frage. Er fragte und fragte. Eine Frage nach der nächsten. Es war immer dieselbe. Wieder und wieder. Seit Stunden schon, einer Ewigkeit. Es war die Frage, auf die Ahmed keine Antwort wusste.

*****

Der Dozent wirft die letzte Seite seiner PowerPoint-Folien an die Wand. Moritz Guth erkennt eine komplizierte Integralfunktion mit mehreren, fett und rot hervorgehobenen „x“-Werten. Der Dozent erklärt etwas, das nicht bis zu Moritz durchdringt, auch wenn er nur kaum viereinhalb Meter entfernt in der dritten Reihe des Hörsaals sitzt.

Doch es ist genau wie in den vergangenen vierzig Minuten. Die Gedanken von Moritz haben nichts mit Mathematik zu tun; vielmehr drehen sie sich um eine zierliche junge Frau mit kurzen kastanienbraunen Locken und den passenden haselnussbraunen Knopfaugen dazu: Carlotta Strandt, seine Lotta.

Er vermisst sie, und zwar so, dass es schon fast weh tut. Er vermisst sie, ihre Stimme, ihre Gegenwart. Er kann es kaum erwarten, sie in zwei Tagen endlich wieder zu sehen.

Gleichzeitig fürchtet er sich jedoch auch vor diesem Wiedersehen. Nur zu gut kann er sich noch an Freitag vor vier Wochen erinnern, als er Lotta in Hamburg besucht hat. Im Nachhinein hätte er eigentlich auch gleich zuhause bleiben können, da er schon am Samstagmittag den Metronom zurück nach Bremen nehmen musste.

Er weiß, dass es viele Dinge gibt, die seine Noch-Freundin derzeit belasten. So abweisend und verkrampft wie an jenem Freitagabend ist sie jedoch bisher nie gewesen. Oder hat er es nur nicht bemerkt?

Geistesabwesend malt Moritz Kringel auf seinen karierten Ringblock, während er weiterhin nichts von den Worten des Dozenten mitbekommt. Lotta hat sich verändert, zumindest ihm gegenüber. Wie sie sich bei ihrer Arbeit verhält, kann er nicht beurteilen. Dort ist sie wahrscheinlich ganz gefasst und professionell die vielversprechende junge Polizeikommissarin im Dienste der Stadt Hamburg.

Nachdenklich runzelt Moritz die Stirn und fühlt das schmerzhafte Krampfen in seinem Magen. Wenn nicht beruflich, dann ist es etwas Privates, das Lotta so anders gemacht hat, dass er geradezu Angst bekommt. Ob sie ihn überhaupt noch liebt? Oder bildet er sich das alles nur ein? Hat Lotta sich vielleicht gar nicht geändert?

Aber auch ihre beste Freundin Susanna Eberhardt, die er zu Beginn des Jahres kennen gelernt und seitdem an jedem Wochenende wie ein drittes Rad am Wagen empfunden hat, scheint eine Veränderung an Lotta bemerkt zu haben. Ob sie weiß, was dahinter steckt?

Frauen reden doch über alles. Vielleicht wäre es eine Idee, Susanna anzurufen und nach dem Grund für Lottas Veränderung zu fragen? Andererseits, sie wird vermutlich loyal sein und schweigen. Da wäre es einfacher, Lotta direkt zu befragen – auch auf die Gefahr hin, dass sie sich in einen kaum aufzuhaltenden Zimmerbrunnen verwandelt. Und hat er nicht geschworen, dass er ihr niemals wehtun wird und sie wegen ihm keine Taschentücher braucht?

Besorgt stellt Moritz fest, dass die Kringel auf seinem Block zunehmend Fragezeichen sind. Er weiß nicht weiter. Nicht einmal mit seinem besten Freund Basti hat er über diese Sache sprechen können. Ein zaghafter Versuch kurz nach dem besagten Samstag, an dem er vorzeitig zurückgefahren ist, um Lotta von seiner ihr offenbar höchst unangenehmen Gegenwart zu befreien, hat kein Ergebnis geliefert und ihn mit noch mehr Fragen zurückgelassen.

Er weiß genauso gut wie Basti, dass Lotta beruflich Ärger hat. Dann ist da dieser Strafprozess, der sie alle drei belastet, wenn auch Lotta am meisten betroffen ist. Aber warum ist sie ihm gegenüber so abweisend, ja, beinah schreckhaft und wie in dauernder Habt-Acht-Stellung?

*****

Polarwolf an Eiswolf

Betreff: Partyplanung.

Wetteraussichten gut, Sonne 23 Grad, nachts 4 Grad. Bier bestellt.

*****

Nachdenklich lehnt Ludmilla Zettergren am Türrahmen und starrt zum Fährsteg hinüber. Hinter den Lindholm-Kindern, die laut lachend und schwatzend mit ihren Rucksäcken schief über der Schulter den Weg über die glatten flachen Felsen herauf kommen und die freudig mit der Rute wedelnde Labradorhündin Ronja begrüßen, schlurft, den Rucksack ordentlich auf dem Rücken, Kim.

Der Junge scheint nachdenklich oder bedrückt zu sein, jedenfalls kommt er mit gesenktem Kopf an Land, bevor die kleine bewegliche Gangway eingeholt wird und das Schiff mit leise rasselndem Motorengeräusch ablegt und in Richtung der drei Kilometer entfernten Schäreninsel Ekholm in Südsüdost davontuckert.

Hej!“ ruft Ludmilla, als Kim ohne ein Wort an der Treppe zur Ladentür vorbei gehen will. „Willst du mir gar nicht guten Tag sagen?“

Hej“, murmelt Kim ohne aufzusehen und will weitergehen, aber Ludmilla eilt die Treppe hinunter und hält ihn an seinem schmalen Arm fest. Seine dunklen Augen weiten sich überrascht und ein bisschen erschrocken. Es tut weh, das fein geschnittene Kindergesicht mit den beinah schwarzen Augen so zu sehen.

„Was ist denn los, Kim?“ fragt Ludmilla leise, wobei sie das leichte Zittern in ihrer Stimme kaum verbergen kann. „Hast du Kummer?“

Der Junge wirft ihr einen scheuen Blick zu, bevor er langsam den Kopf schüttelt und sich loszumachen versucht. Seufzend gibt Ludmilla seinen Arm frei, streicht ihm vorsichtig über das glänzende schwarze Haar und die blasse Wange und zwingt sich zu einem ungezwungenen Lächeln.

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann“, sagt sie leise, „dann sagst du mir das, ja? Wozu hat man schließlich eine Großmutter?“

Kim reagiert nicht, sondern wendet sich wortlos um. Bevor er sich jedoch auf den Weg zu Carinas und Christers Haus macht, kann Ludmilla ihn noch leise ein paar Worte sagen hören. Da er dabei nuschelt, ist sie sich nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hat. Was hat der Junge bloß mit ‚Austern-fischer‘ gemeint? Wer oder was ist ‚Nummer Zwei‘? Was haben ‚Bernstein‘ und ‚Odin‘ miteinander zu tun? Und was, in aller Welt, ist denn ein ‚Kreuzrad‘?

Bevor sie ihn fragen kann, ist Kim schon den sandigen Weg hinüber zum Haus seiner Eltern gelaufen. Ludmilla hört die Vordertür mit dem Fliegengitter leise zufallen. Sehen kann sie weder Kim noch das Haus, das hinter dem V-förmigen Birkenwäldchen mit den Brombeerhecken auf der Nordseite der Schäreninsel steht, auch wenn es bis dorthin kaum zweihundert Meter sind. Der Schatten unter den schlanken Bäumen ist um diese Jahreszeit noch zu tief; erst kurz vor Mittsommer, wenn die Sonne am höchsten steht, fallen Lichtstrahlen durch die dicht an dicht stehenden Bäume und lassen die rote Wand von Gustafssons Haus ‚Livslust‘ – Lebenslust – erahnen.

Nachdenklich betritt Ludmilla wieder den Laden, räumt ein paar Konserven auf den Regalen ordentlicher zusammen und nimmt dann auf dem Holzstuhl hinter der Ladentheke Platz. Fast automatisch greift sie nach Zettel und Stift, um sich die seltsamen Worte von Kim zu notieren. Sie ergeben überhaupt keinen Sinn. Aber vielleicht hat sie ihn auch nicht richtig verstanden.

Bevor sie noch weiter darüber nachgrübeln kann, geht die Tür und lässt die Glocke in freudiges Bimmeln ausbrechen. Herein tritt ein alter, leicht gebeugt gehender Herr in alten dunkelgrünen Cordhosen, einem dicken dunkelblauen Seglerpullover aus dicker Schurwolle und ausgetretenen Bootsschuhen. Auf dem schütter gewordenen weißen Haar sitzt wie immer schief eine karierte Baskenmütze. Da draußen die Sonne scheint, hat er den sonst üblichen grauen Marinemantel zuhause gelassen.

Hej!“ sagt Ludmilla und erhebt sich. „Was kann ich für dich tun, Torge?“

Der alte Herr schenkt ihr ein freundliches Lächeln aus klaren hellblauen Augen, die in seinem wettergegerbten, beinah nussholzfarbigen Seemannsgesicht wie Aquamarine funkeln. Er lüpft knapp seine Mütze und zieht dann einen fest zusammen gefalteten Zettel aus der Hosentasche.

„Kartoffeln, Zwiebeln, Sahne, Anchovis“, murmelt Ludmilla erstaunt, bevor sie versteht und lächelnd ergänzt: „‚Jansons Versuchung‘, nicht wahr? Was hast du denn heute gefangen?“

„Hauptsächlich Barsche“, antwortet Torge leise mit seiner angenehm warmen Baritonstimme, die ihr immer einen wohligen Schauer über den Rücken schickt. Auch wenn er dreißig Jahre älter ist als sie, so kann sie sich noch gut erinnern, wie fesch er als junger Mann von Mitte Dreißig gewesen ist – eine Eigenschaft, die er sich genau wie seinen Charme und seine Freundlichkeit gegenüber allen Kindern bis ins hohe Alter bewahrt hat.

Da er immer noch rüstig und gut zu Fuß ist, meint sie für einen Moment, ihre Heldenfigur aus Kindertagen vor sich zu haben – Torge ‚Hjältemod‘ Lundqvist, Kapitän des schnellen kleinen Seglers Frihets Vingar.

Doch das Boot liegt längst auf dem Grund der Ostsee, seit es sich Mitte der Sechziger während eines Sturmes losgerissen hat und abgetrieben ist. Seitdem fährt Torge die kleine Segelyacht Själens Frid, aber mit zunehmendem Alter nicht mehr alleine und auch nicht mehr so oft. Dabei hat er immer noch beinah dieselbe Energie wie früher, als er beinah täglich unter Einsatz seines Lebens vor der deutschen und lettischen Küste gekreuzt ist.

Bewundernd starrt Ludmilla ihn für ein paar Sekunden einfach nur schweigend an und spürt, wie ihr die Röte in die Wangen steigt. Er ist immer noch ein schmucker Kerl, wahrhaftig. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie ihn für vielleicht Mitte Siebzig halten, maximal.

„Und dann habe ich noch einen Dorsch erwischt“, fährt Torge fort und deutet zur angelehnten Tür, wo Ludmilla erst jetzt einen Eimer stehen sieht, in dem es leise zappelt, sodass ein paar Wassertropfen auf den Holzfußboden spritzen. „Er ist zwar nicht besonders groß, aber vielleicht magst du ihn trotzdem haben? Für dich und den Jungen wird es allemal reichen.“

„Lieb von dir, danke.“

Torge schenkt ihr ein leicht verlegenes Lächeln, das so gar nicht typisch für ihn ist. Normalerweise ist er der Charme in Person, vor allem gegenüber dem weiblichen Geschlecht, das er auch noch im hohen Alter hofiert und umschmeichelt.

Ludmilla spürt, wie sich die Röte in ihren Wangen verstärkt, während ihr Herz lauter klopft. Sie benimmt sich ja geradezu wie ein Backfisch. Innerlich mahnt sie sich zu Ruhe und stellt, um sich auf andere Gedanken zu bringen, rasch eine Frage, auf die sie die Antwort bereits kennt.

„Maja kommt am Freitag“, antwortet Torge und lächelt, während er sorgsam die Einkäufe in einen Jutebeutel steckt und einen kleinen Geldschein aus der Tasche zieht. „Sie bringt ihren Freund mit, Sebastian heißt er.“

„Sebastian“, wiederholt Ludmilla, „das klingt nett.“

„Ja, nicht wahr?“ nickt Torge, bevor er lächelnd fortfährt: „Außerdem ist noch der beste Freund von Sebastian dabei, wiederum mit seiner Freundin. Es wird also genug neue Gesichter geben, mit denen du und Agneta euch unterhalten könnt. Maiken und Johan kommen schon nachher mit Christer, um mir bei den letzten Vorbereitungen zu helfen. Sie glaubt wohl, dass ihr Vater auf seine alten Tage nicht mehr weiß, wie man ein Zelt aufbaut.“

„Sie meint es ja nur gut“, lächelt Ludmilla und gibt das Wechselgeld heraus.

„Sicher“, murmelt Torge und kratzt sich am glatt rasierten Kinn. „Aber, sag mal, was ist denn mit eurem Jungen los?“

„Wieso?“

„Nun, ich habe ihn eben aus seinem Fenster klettern sehen. Er ist hinten über das Dach der Veranda rüber zum nächsten Baum, runter und dann rein in den Wald. Ich vermute, er ist rüber zu Lindholms Ferienhäusern gelaufen.“

„Oh je“, seufzt Ludmilla, „das wird Carina aber gar nicht gut finden. Weißt du, Kim hat schon zweimal die Schule geschwänzt diese Woche.“

„Ach was? Ich dachte, er ist so fleißig und lernbegierig.“

Ludmilla schüttelt achselzuckend den Kopf und reicht Torge den Becher Sahne, den er vorsichtig obenauf in die Tragetasche legt, bevor er mit nachdenklicher Miene berichtet, dass er Kim vergangenen Montag mit Pfeil und Bogen im Wald hat spielen sehen.

„Später habe ich ihn auf dem Weg gesehen, der bei mir zuhause vorbei rüber zu Lovisa führt…“

Ludmilla runzelt fragend und abwehrend zugleich die Stirn. Fehlte gerade noch, dass der Junge sich ausgerechnet mit der Frau auf dieser Insel fraternisiert, die ihr beinah ein genauso großer Dorn im Auge ist wie der ‚Herr des Rittersteins‘. All die Jahre hat sie es erfolgreich vermeiden können, Lovisa zu beachten – auch wenn diese ihre eigene Mutter ist.

„Bengt sagte“, antwortet Ludmilla mit leicht belegter Stimme, „dass der Junge sich bei den Ferienhäusern am Südstrand herumgetrieben hat. Wahrscheinlich hat er sogar eine Scheibe eingeschossen.“

„Gut möglich“, antwortet Torge. „Ich habe ihn aus den Augen verloren, als er um die Wegbiegung verschwand. Und du weißt ja, ich gehe nicht den Weg bis zum Ufer hinüber, wenn es sich vermeiden lässt.“

Ludmilla nickt mit einem schiefen Grinsen. Sie kann es gut nachvollziehen, auch wenn Torges Abneigung nicht Lovisa gilt, sondern dem unfreundlichen Besitzer des Riddarsteens, der früher einmal sein bester Freund gewesen sein soll.

Was wohl zwischen Torge und Sven-Ove vorgefallen sein mag, das hat sie sich schon als Kind gefragt, als ihr Vater in einem Gespräch die Bemerkung fallen gelassen hat, sie solle sich ihre Freunde gut aussuchen – nicht dass es ihr eines Tages so ergehe wie Torge Lundqvist. Sie weiß bis heute nicht, was er damit gemeint hat.

„Soll ich ihn noch ausnehmen?“ fragt Torge, als Ludmilla nicht gleich reagiert, nachdem er bereits an der Tür angekommen ist und den gut achtzig Zentimeter langen, heftig zappelnden Dorsch aus seinem Eimer in die Höhe gehoben hat.

„Danke, das mache ich schon selbst“, antwortet Ludmilla und bückt sich hinter der Ladentheke nach einem Eimer, den sie an der Spüle neben dem Kühlraum mit frischem Wasser füllt. „Das wird unser Abendessen. Solange soll er noch ein bisschen schwimmen.“

Torge nickt und lässt den Fisch in den frischen Eimer gleiten. Dann zieht er kurz seine Mütze, verabschiedet sich und verlässt den Laden mit den Einkäufen und seinem Eimer, in dem die Barsche geräuschlos im Wasser schweben.

Ludmilla überlegt einen Moment, ob sie Carina Bescheid sagen soll. Dann aber beschließt sie, einen kurzen Spaziergang hinüber zur Südbucht zu machen und nach Kim zu sehen. Sie hängt das Schild ‚Bin gleich zurück‘ außen an die Tür und geht zielstrebig den Weg über den Hügel, vorbei an Olsons Wochenendhaus, hinüber zu den Ferienhäusern Vier bis Sechs.

Von Kim ist weit und breit nichts zu sehen. Dafür bemerkt sie aber ein Floß aus Birkenstämmen, das jenseits des hochgezogenen Steges an der Anlegestelle des Riddarsteens auf dem beinah spiegelglatten Wasser in der geschützten Bucht liegt. Direkt daneben ist Sven-Oves Ruderboot vertäut, in dem sie einiges Angelzubehör erspähen kann.

Und als wäre das noch nicht genug, kommt der Inselbesitzer höchst persönlich den felsigen Weg von seinem Haus hinter den weißen Birken herunter, in der linken Hand eine kleine Axt. Ludmilla sieht, dass er zielstrebig auf das Floß zu marschiert, dessen letztes Stündlein offenbar geschlagen hat.

Gerade will sie sich abwenden, um dem trotz seiner über neunzig Jahre immer noch rüstigen und kräftigen Mann nicht bei seinem Zerstörungswerk zusehen zu müssen, da fällt ihr Blick auf die Wasseroberfläche am Heck des Ruderboots.

Vor Schreck bleibt sie wie angewurzelt am Ufer stehen, als sie den nassen schwarzen Haarschopf erkennt, der sich dort Millimeter für Millimeter auf das Floß zu schiebt, immer im Sichtschatten des Ruderbootes. Nicht auszudenken, wenn der Mann den Jungen erwischt.

Im nächsten Augenblick sieht sich Ludmilla schon zu dem großen flachen Stein hinüberlaufen, auf dem der Steg im herunter geklappten Zustand aufliegt. Sie rudert mit den Armen und zieht die Aufmerksamkeit des Mannes wie geplant auf sich, als sie laut ruft: „Lauf nicht weg, Sven-Ove. Hör zu.“

*****

Es ist genau wie in dem Buch. Er weiß etwas, aber er darf es nicht sagen. Denn wenn er es sagt, dann kommt der Indianer-Joe und wirft mit einem Messer nach ihm. Er ist Tom Sawyer. Er muss warten, bis die Zeit gekommen ist.

Vorsichtig zieht er das Beutestück hervor und hält es ins Sonnenlicht. Es ist klein und unnatürlich geformt, aber es liegt schwer in seiner Hand. Er weiß selbst nicht, warum er es eingesteckt hat. Es ist einfach passiert, als er diesen Brief gefunden und zu lesen versucht hat. Genau genommen hat er gestern weitaus größere Probleme gehabt, als irgend so ein Ding wie das hier in seine Hand zu nehmen. Denn dass es nicht das ist, wonach er sucht, das weiß er.

Schlagartig wird ihm klar, dass er nochmal auf die Insel muss. Nur dort kann er sein, der Schatz des Indianer-Joe. ‚Vergraben‘, hat der böse Mann gesagt. ‚Sicher und trocken. Keine Sorge.‘ Mit wem er gesprochen hat, ist durch das angelehnte Fenster nicht zu verstehen gewesen. Aber er hat ja sowieso nur kurz lauschen und dann zum Schuppen rennen wollen, genau wie er es dann auch gemacht hat, um sein Eigentum zurückzuholen.

Glücklich mit dem Pfeil in der Hand, hat er sich eigentlich nur so aus Spaß in dem Schuppen umgesehen und dabei nicht nur das fleckige Messer, sondern auch die eiserne Kassette entdeckt, ganz oben auf dem Regal neben dem Fenster, in das er seinen Pfeil geschossen hat. Im Glauben, das Messer sei voll von Doc Robinsons Blut, womit dann auch die Geschichte vom Schatz wahr wäre, hat er sofort die kleine Trittleiter aufgeklappt und die Stahlkassette vom Regal herunter geholt.

‚Mein Schatz‘, hat der Mann gesagt, ‚steht euch zur Verfügung. Ich werde alle nötigen Vorbereitungen treffen, Nummer Zwei.‘

Vielleicht ist er sich deshalb so sicher gewesen etwas Kostbares zu finden. So ist es geradezu eine Enttäuschung gewesen, in der Kassette nicht den Schatz, sondern nur einen kurzen Brief und eine Unmenge alter Zeitungsausschnitte zu finden. Alle haben vom Selbstmord eines Mannes im Jahr 1962 gehandelt, der dem Namen nach mit Doktor Olaf verwandt ist. Der Brief ist jedoch etwas ganz anderes gewesen. ‚Bernstein‘, hat darin jemand in einer fremden Sprache geschrieben, ‚Odin-206.3‘, ‚Seeschwalbe‘ und ‚Austernfischer‘. Das Ganze ist so seltsam gewesen, genau wie dieses kleine runde Ding mit dem Kreuzrad darauf, das nun rätselhaft in seiner Handfläche glänzt.

*****

Die Spur des Austernfischers

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