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5. Gott, wer bist du?
ОглавлениеAn jenem Wochenende in Inzell erkannte ich, dass mein Leben gründlich schiefgelaufen war. Mit diesem Erkennen offenbarte sich deutlich, dass ich in jeder Situation selbst dafür verantwortlich gewesen war – auf unbegreifliche Weise auch als kleines Kind.
Es schien zwar unglaublich, aber gleichzeitig auch unbezweifelbar, dass ich zu jedem Zeitpunkt mit meinem eigenen Tun und Lassen jede Situation von meiner Geburt bis jetzt selbst kreiert hatte, ob sie nun angenehm oder unangenehm für mich gewesen war. Ich hatte mein Leben in den Sand gesetzt und gegen die Wand gefahren – niemand sonst! Und wenn ich das nicht direkt und aktiv getan hatte, so hatte ich indirekt und passiv zugelassen, dass andere Menschen gegen meinen Willen über mich bestimmt hatten.
Ich war viel zu erschüttert, um mir die Frage zu stellen, ob ich mich zu irgendeinem Zeitpunkt hätte anders entscheiden oder verhalten können.
Das Leben, das ich führte, war weniger als ein schlechter Scherz: Nahezu sämtliche Bereiche waren auf Lügen und Halbwahrheiten aufgebaut. Ich irrte in Illusionen herum, die ich selbst erschaffen hatte. Nahezu nichts stimmte mit dem überein, wie ich mir ein einigermaßen sinnvolles Leben vorstellte. Der einzige Lichtblick war meine damalige Freundin, eine wundervolle Frau, schön, intelligent und liebevoll. Allerdings hatte ein Blitzschlag auch unser Zusammensein beleuchtet, und ich hatte gesehen, welch katastrophalen Beitrag ich zu unserer Beziehung beisteuerte.
In den ersten Wochen nach Inzell war ich vollkommen handlungsunfähig. Denn ich hatte ununterbrochen das Gefühl, nicht zu wissen, ob das, was ich tun wollte, wirklich das Richtige war. Ich war zutiefst in meiner selbstherrlichen Überzeugung erschüttert, das Beste für mich und mein Leben wissen und tun zu können.
Deshalb begann ich zu beten, denn wenn jemand tatsächlich wusste, was das Beste für mich und mein Leben war, dann Gott. Seit meinen Kindertagen allerdings hatte ich mich nicht mehr an ihn gewandt, und ich musste ehrlicherweise eingestehen, dass ich überhaupt nicht mehr an ihn glaubte.
Nun setzte ich mich morgens auf mein Meditationskissen, sagte laut: „Dein Wille geschehe!“, denn das hielt ich in der momentanen Situation für das einzig Angebrachte, und wartete dann einfach ab, schaute, lauschte und fühlte nach innen. Eine Viertelstunde später erhob ich mich wieder, um meinen Alltag zu beginnen. Auf dem Kissen passierte nichts Spektakuläres, und ich wusste auch nicht, was ich erwarten sollte. Im Alltag ging nichts voran, außer dass ich mich von all meinen Freunden trennte, denn das waren keine Freundschaften gewesen, sondern Klüngeleien zwischen betuchten Geschäftsleuten und einflussreichen Größen unserer kleinen Stadt.
Das Weihnachtsgeschäft war in vollem Gange, und ich als verantwortlicher Chef verkroch mich in mein Büro und traute mich nicht, irgendetwas zu tun, denn immer noch galt: „Nie wieder das Alte!“, aber was das Neue war, blieb mir völlig schleierhaft.
Seit Inzell wusste ich, dass ich den falschen Beruf ausübte. Jetzt jedoch zu kündigen, erschien mir nicht richtig. Ich spürte die Gewissheit, dass es noch zu früh war, den Arbeitsplatz zu wechseln – aber wie konnte ich am falschen Ort bleiben, und was konnte ich hier neu und richtig machen?
Erst nach Wochen fand ich die Lösung. Sie bestand darin, bei jeder Kleinigkeit und natürlich erst recht bei den größeren Entscheidungen als Erstes nach innen zu fragen: „Was soll ich tun? Dein Wille geschehe – nicht meiner!“, und zu warten, zu schauen, zu lauschen und zu fühlen, welcher Impuls auftauchen würde. Diesem folgte ich dann immer und in jeder Situation, auch wenn ich manchmal große Angst vor den Konsequenzen hatte.
Dabei war meine Logik unerschütterlich: Ich glaubte zwar nicht an Gott, aber ich betete zu ihm und ging davon aus, dass er mein Gebet hörte, falls es ihn überhaupt gab. Da ich zu ihm betete und zu niemand anderem, konnte und musste ich davon ausgehen, dass die Antwort, die ich erhielt, ebenfalls von ihm kam. Deshalb tat ich immer und in jeder Situation das, was die innere Antwort verlangte. Sollte sie von jemand anderem kommen, zum Beispiel vom Teufel, an den ich auch nicht glaubte, hatte Gott die Aufgabe, dies zu verhindern, denn schließlich war er mein Ansprechpartner.
Und falls es ihn tatsächlich nicht geben sollte und die Antworten nur aus mir selbst heraus entstanden, dann hatte ich immerhin mit diesen Gebeten versucht, nicht wieder in mein altes egozentrisches Fahrwasser zurückzugleiten.
Was nun folgte, war überaus eindrucksvoll. Zum einen wurde ich wieder handlungsfähig, zum anderen machte ich tatsächlich nach bewusster Rücksprache mit Gott fast alles anders als zuvor – eben so, wie er es wollte. Das führte zu erheblichen Irritationen bei meinen Eltern und Mitarbeitern, bei Kollegen und Konkurrenten, denn ich funktionierte nicht länger, wie sie es gewohnt waren.
Bisher war ich davon überzeugt gewesen, dass der Nutzen eines erfolgreichen Kaufmannes zwangsläufig Schaden für andere bedeuten muss, und das hatte dazu geführt, dass ich in einer Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Schmeichelei und Vertuschung bestrebt war, meine Mitmenschen auszubeuten. Je nach Situation hatte ich meinen Vorteil mit Gewalt oder anbiederndem Verhalten oder undurchschaubaren Strategien durchgesetzt und nicht selten als Spur meines eigenen Erfolges verbrannte fremde Erde hinterlassen.
Das war mir nun nicht mehr möglich. Alle inneren Impulse, die als Antwort auf die Frage, „Was soll ich tun? Dein Wille geschehe – nicht meiner!“, in mir aufstiegen, waren friedvoll. Sie zielten entweder auf einen gemeinsamen Nutzen für alle Beteiligten ab oder darauf, dass ich auf meinen Vorteil verzichten sollte, falls dieser auf dem Nachteil eines anderen Menschen basierte. Ich handelte dementsprechend. Irgendetwas in mir war absolut überzeugt davon, dass Gott niemanden ins Verderben führt, der sich freiwillig der göttlichen Führung unterstellt, also auch mich nicht.
Innerhalb kurzer Zeit legte ich in diversen Gremien die Aufgaben nieder, die man mir dort aufgrund meiner früheren Fähigkeiten übertragen hatte, oder man wählte mich einfach ab. Ich verlor erdrutschartig mein gesamtes soziales Ansehen. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man, ich sei depressiv oder hätte einen Nervenzusammenbruch erlitten – auf jeden Fall sei ich nicht mehr der Alte.
Ich hörte auf, Situationen oder Menschen zu manipulieren, und war plötzlich selbst nicht mehr manipulierbar. Ich sagte, was ich dachte, und ich tat, was ich sagte. Mein Fühlen, Denken und Handeln orientierten sich nicht länger an äußeren Umständen, sondern an inneren Gewissheiten. Sachzwänge, unter denen ich früher oft gelitten hatte, existierten überhaupt nicht mehr – alles war sehr klar und sehr einfach geworden. Ich lebte vollkommen im Einklang mit mir selbst und mit Gott und akzeptierte klaglos die große Isolierung, zu der das Neue führte. Denn es fielen lediglich all die Menschen von mir ab, für die ich ohnehin nur von strategischer Bedeutung gewesen war.
Zu meinem größten Erstaunen wurde alles, was ich auf diese neue Weise anpackte, umgehend von Erfolg gekrönt. Nach anfänglicher Irritation hatten mir die Mitarbeiter wieder ihr Vertrauen und ihre Loyalität geschenkt, und bis zum Sommer zeichnete sich immer deutlicher ab, dass dieses Jahr das ertragreichste seit Bestehen der Firma zu werden versprach. Die teuren Anzüge, in denen ich bisher gesteckt hatte, tauschte ich gegen bequeme Hosen und farbenprächtige Pullover, und zum ersten Mal war ich in der Firma nicht stolz, sondern glücklich.
Ich erlebte ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, wie ich es kaum jemals zuvor erlebt hatte, und war so dankbar für mein neues Sein, dass ich morgens auf dem Kissen erst minutenlange Dankgebete und Lobpreisungen sprach, bevor ich mit der Bitte „Dein Wille geschehe!“ in die Stille ging. Während der folgenden Viertelstunde erlebte ich entweder schnöde Langeweile oder heftige Körperphänomene, die ich geduldig über mich ergehen ließ. Offensichtlich war das Geschehen Gottes Wille, und dem setzte ich weder im Alltag noch auf dem Kissen Widerstand entgegen – auch wenn ich nicht begriff, was mit mir geschah.
Hin und wieder trafen mich während der Meditation jene Blitze, die ein erhellendes Schlaglicht auf mein Verhalten in einer ganz bestimmten Situation warfen. Ich nahm das zum Anlass, in allen ähnlichen Situationen zukünftig besonders achtsam zu sein und auf keinen Fall altes Verhalten zu wiederholen.
Zu Beginn des Sommers tauchte Jan in meinem Leben auf, der sich mit den Lehren Buddhas beschäftigte, und Bella suchte meine Nähe, die ihr Leben Jesus übergeben hatte. Auch Noschi erschien, die seit vielen Jahren transzendentale Meditation übte. Diese drei wurden meine Wegbegleiter und guten Freunde. Nun war ich rundum glücklich.
Allerdings gehörten meine Eltern zu denjenigen, die in meiner Veränderung eine Verschlechterung sahen. Sie übten in der Hoffnung, mich wieder zur Vernunft bringen zu können, massiven Druck auf mich aus. Aber auch ihnen gegenüber folgte ich unbeirrbar, wenn auch oft schweren Herzens, der inneren göttlichen Stimme. Schließlich bat ich meine Eltern um ein Gespräch, in dem ich ihnen erklärte, in den folgenden zwölf Monaten sehr genau zu prüfen, ob ich die Firma auch in Zukunft leiten oder einen anderen Berufsweg einschlagen wollte.
Direkt nach diesem Gespräch fiel mir das Buch eines Weisen in die Hände, der auf dem Weg der Meditation die Wahrheit über Gott und das Leben gesucht und gefunden hatte. Er beschrieb detailliert seine Erlebnisse, und diese ähnelten frappierend dem, was ich seit Inzell erlebte. Ich war über alle Maßen erleichtert, nun endlich sachkundige Erklärungen für mein Weinen zu erhalten, für meine Blitze, für die außergewöhnlichen Körperphänomene während der Meditationen und für die segensreiche innere Führung, die mir zuteil wurde.
Ich verstand, dass das Bewusstsein jenes Mannes sich am Ende seines Weges ins Universum hineingegossen hatte, und war davon überzeugt, deshalb mit ihm jederzeit Kontakt aufnehmen zu können. Ich nannte ihn liebevoll Swamiji und sprach zu ihm, wann immer ich Fragen bezüglich meiner Meditation hatte. Danach lauschte und fühlte ich in die Stille und erhielt entweder sofort Antwort oder kurze Zeit später in meinem Alltag. Obwohl er nicht mehr lebte und ich sein Buch nur ein einziges Mal las, wurde Swamiji mein Meditationslehrer. Ich vertraute ihm vollkommen.
Acht Wochen nach jenem Gespräch mit meinen Eltern starb mein Vater, und neun Monate später fuhr ich mit dem Zug nach Südfrankreich. Ich wusste immer noch nicht, ob ich die Firma nun haben wollte oder nicht, und erhoffte mir von diesem Urlaub die notwendige Klärung. Ohne Frage war ich inzwischen ein sehr glücklicher Mann geworden, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, welchen Beruf ich in Zukunft ausüben sollte. Guten Mutes verließ ich den Zug in Avignon, schulterte meinen Rucksack und machte mich zu Fuß auf den Weg.
Ich war immer noch groß, aber inzwischen breitschultrig, hatte eine gesunde Hautfarbe, war nicht mehr anfällig für Krankheiten und rauchte selten mehr als fünf Zigaretten täglich. Im Umgang mit Erwachsenen war ich deutlich zurückhaltender geworden. Ich akzeptierte, dass sie fast alle anders lebten als ich, und achtete sehr darauf, nicht überheblich zu werden. Wenn es notwendig war, vertrat ich ihnen gegenüber sanft, aber unerschütterlich meine inneren Weisungen.
In diesem Urlaub übte ich während des Gehens unentwegt das Koji no´in, eine Folge von zehn Mudras. Jedes von ihnen, so hieß es, würde den Übenden mit einer bestimmten kosmischen Kraft verbinden. Ich hatte kein Ziel und ließ mich also von den Sternen leiten, deren unterschiedliche Energien, von meinen Fingern ausgehend, meinen gesamten Körper durchströmten. Achtzehn Tage später hatten mich die Mudras in das winzige Heiligtum eines tibetischen Lamas geführt, das zwischen hohen Bergen versteckt lag.
An den folgenden drei Tagen durfte ich dort frühmorgens vor dem Altar beten und meditieren. Obwohl der Meister und ich kein einziges Wort miteinander sprachen, wusste ich nach dem dritten Morgen, dass ich Psychotherapeut werden und Menschen auf dem Weg zu sich selbst begleiten wollte.
Ich packte meinen Rucksack und fuhr nach Hause, um meiner Mutter meine Entscheidung mitzuteilen. Wir einigten uns darauf, dass ich die Firma zum Jahresende verlassen und bis dahin unseren Prokuristen in meine bisherigen Aufgaben einarbeiten sollte. Außer ihm und einer langjährigen Abteilungsleiterin wurde niemand in diese Pläne eingeweiht, um zu verhindern, dass Banken und Lieferanten davon erfuhren und eventuell nervös auf den bevorstehenden Führungswechsel reagierten. Aus diesem Grund musste ich auch einwilligen, vor Januar keinen Ausbildungsplatz für Psychotherapie zu suchen.
Mir blieb deshalb nichts anderes übrig, als meine weitere berufliche Entwicklung in Gottes Hände zu legen und darauf zu vertrauen, dass er mir rechtzeitig einen Ausbildungsplatz besorgen würde. Ich kündigte meine Wohnung, da ich sie mir ab Januar finanziell nicht mehr leisten konnte.
Anfang November überfiel mich große Angst, in Kürze ohne Geld, ohne Arbeit und ohne Wohnung auf der Straße zu stehen, und diese Angst hielt mich mehrere Tage gefangen. Dann erkannte ich, dass es ausschließlich an mir lag, ob ich bis zum Jahresende weiterhin glücklich oder weiterhin sorgenvoll lebte, denn Gott würde ja ohnehin das Beste für mich tun, da ich ihm alles übergeben hatte.
Sofort lachte ich über meine Angst und war wieder glücklich. Wann immer mir nun der Gedanke kam, buchstäblich mit leeren Händen vor dem Nichts zu stehen, sagte ich leise in mich hinein: „Gott, das regelst du für mich! Dein Wille geschehe – nicht meiner!“
Am 20. Dezember erhielt ich auf Umwegen die Telefonnummer eines Versicherungsvertreters in Hamburg, und ohne erkennbaren Grund rief ich ihn an. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, dass eine Bekannte von ihm in München einen Auszubildenden für ihre psychotherapeutische Praxis suchte. Am Tag vor Silvester fand das Vorstellungsgespräch statt, und tatsächlich erhielt ich meinen Ausbildungsvertrag zum 1. Januar. Ich war inzwischen 33 Jahre alt.
Die nunmehr 26 Monate, die seit Inzell vergangen waren, hatten mir eine überaus segensreiche Veränderung meiner Lebensumstände und viele großartige, völlig unerklärliche Wunder beschert. Dieses jedoch übertraf alle bisherigen Geschenke, und fassungslos vor Dankbarkeit stammelte ich die Frage: „Gott, wer bist du?“
In den folgenden Jahren sollte dies die eine große Frage sein und bleiben, die mich wirklich interessierte, die mir wirklich wichtig war.
Meine Ausbilderin erwies sich als profunde Kennerin der menschlichen Psyche, als hervorragende Therapeutin, umsichtige Lehrerin und großartige Frau. Sie vereinte in ihrem Wesen Klarheit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft und legte durch ihr Beispiel den Grundstein zu meiner inneren Haltung den Patienten gegenüber und damit zum Erfolg all dessen, was mir in Zukunft jemals beruflich gelingen durfte.
Im zweiten Jahr nahm ich außerdem an einer einjährigen externen Shiatsu-Ausbildung teil und entwickelte dabei völlig unbeabsichtigt die Fähigkeit, mit oder ohne Berührung in den Körper eines anderen Menschen hineinzufühlen und den Zustand der inneren Organe, Knochen, Sehnen und Muskeln wahrzunehmen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Dabei machte ich die Erfahrung, dass jede Wahrnehmung immer in mir stattfindet. Auch einen Baum, der zehn Meter entfernt steht, sehe ich natürlich hier in mir, obwohl er sich dort befindet. Demzufolge genügte es, meine Aufmerksamkeit auf den Magen eines Patienten zu richten, um ihn in mir wahrzunehmen. Und seltsamerweise veränderte sich der Zustand seines Magens, sobald ich mir vorstellte, dass er anders beschaffen sei, als dies tatsächlich der Fall war. Ich erlebte den Vorgang des Heilens als einen Vorgang von Wahrnehmung und willentlicher Korrektur jener Wahrnehmung.
Während der letzten sechs Monate meiner psychotherapeutischen Ausbildung ergriff ich, von meiner Lehrerin wie in allem mit Rat und Tat großzügig unterstützt, die Möglichkeit, mich zum ehrenamtlichen Krankenhaus-Seelsorger ausbilden zu lassen. Nun wurde ich auch mit dem Tod konfrontiert, mit den Grenzen meiner Möglichkeiten, mit meiner eigenen Hilflosigkeit.
Ich lernte, dem Leid standzuhalten, ohne mich ihm zu widersetzen und ohne irgendetwas ändern zu können und ändern zu wollen. Angesichts des Todes lernte ich das gesamte Ausmaß von „Dein Wille geschehe!“ kennen und wurde demütig. Dieser Demut dem Leben gegenüber entsprang eine tiefe kostbare Liebe für all die Menschen, denen ich begegnete.
Ich war mir jederzeit vollkommen im Klaren darüber, dass ich mein neues Leben ausschließlich Gott verdankte. Deshalb war ich entschlossen, es ihm vollkommen zu widmen. Es gab nahezu nichts, was ich nicht erst nach Rücksprache mit ihm tat, und jeden Plan, jeden Wunsch, den ich hatte, versah ich mit der Bitte, dass stets sein Wille geschehen möge. Meiner Verehrung war nur eine einzige Grenze gesetzt: Ich konnte Gott nicht sehen, nicht begreifen, ihn mir nicht vorstellen. Deshalb fragte ich immer und immer wieder: „Gott, wer bist du?“
Auf der Suche nach ihm las ich das Neue Testament und stieß dabei auf die Aussagen Jesu „Der Vater und ich sind eins“ und „Wer mich sieht, sieht den Vater“. Von da an verstand ich Jesus als den offenbarten, den sichtbaren Gott. Endlich hatte ich ein Bild, an das ich mich halten konnte, und einen Namen, den ich in Aramäisch, der Muttersprache des Nazareners, aussprach und als Jeshu zärtlich in meinem Herzen rief. Den abstrakten Begriff Gott benutzte ich nun nicht länger.
Zweieinhalb Jahre nachdem ich die Firma verlassen hatte, machte ich mich in München in einer eigenen Praxis selbstständig. Der Abschied von meiner großartigen Ausbilderin und ihrer wundervollen Tochter fiel mir schwer. Beide hatten mein Herz in jener Tiefe berührt, wo aus Begegnung Heilung entsteht.
Meine spirituelle Übung morgens auf dem Kissen bestand darin, mit geschlossenen Augen beim Einatmen „Jeshu“ in mein Herz hineinzuflüstern und beim Ausatmen auf die Antwort zu warten. Ich brannte sehnsüchtigst darauf, diesen Segensreichen, der mir nun seit sechs Jahren den Weg bahnte, von Angesicht zu Angesicht zu erkennen. Ansonsten lebte ich weiterhin tagein, tagaus nach seinem Willen, nicht nach meinem.
Während eines verlängerten Wochenendes, das ich im Alter von 37 Jahren in Assisi verbrachte, begegnete ich einem Mann, der innerhalb einer Stunde alle religiösen Vorstellungen zerbrach, die ich bisher voller Liebe und Inbrunst gepflegt hatte.
„Deine ganze Welt und auch du selbst“, sagte er sinngemäß zu mir, „und natürlich auch dein Swamiji und dein Jeshu und dein Gott befinden sich in deinem Kopf und nirgendwo sonst – genau wie sich ein Traum im Träumenden befindet und nirgendwo außerhalb des Träumenden. Die Welt, du, Gott und alles andere sind Konzepte, die du dir angesichts des Unerklärlichen gemacht hast, gedankliche Vorstellungen, Einbildungen, Illusionen. All das ist nur wirres und unwirkliches Zeug! Wenn du tatsächlich wissen willst, wer Gott ist, dann finde die Antwort auf diese beiden Fragen heraus: Wer spricht dein Gebet, und wer hört dich beten?“
Die Antwort war ebenso klar wie unglaubwürdig. Sie lautete in beiden Fällen:
„Ich.“