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7. Gott, wer bin ich ?
ОглавлениеSechs Jahre nach Inzell verstand ich in Assisi ohne jeden Zweifel, dass das Reich Gottes nicht irgendwo da draußen in den Wolken oder im Universum, sondern inwendig in mir ist, irgendwie und irgendwo in diesem Körper, und dass nur ich selbst meine Gebete sowohl sprach als auch hörte – und niemand sonst. Es war meine Vorstellung gewesen, dass Gott auf die Frage, was ich in einer bestimmten Situation tun sollte, geantwortet hatte; Tatsache war nur, dass ich in mir eine Antwort auf diese Frage gespürt hatte.
Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es in mir noch jemand anderen gab als mich. Die These, dass ein anderer als ich meine Gebete hörte, stützte sich lediglich auf die Erfahrung, dass sich aufgrund meiner Fragen und Bitten oft im Außen Situationen ergaben, auf deren Entstehen ich keinen Einfluss gehabt hatte.
Was aber, wenn ich selbst es gewesen war, der das Außen auf eine absolut unbegreifliche Weise stets entsprechend meiner jeweiligen Bitte verändert hatte? Für mich, einen liebevollen Gläubigen, der seine Lebensgestaltung vollkommen Gott überlassen hatte, war das ein Denkansatz, der völlig absurd erschien. Dennoch faszinierte er mich. Seit vier Jahren wollte ich aus Dankbarkeit und keinem anderen Grund wissen, wer dieser Gott ist, und ich spürte, dass ich der Antwort jetzt näher war als je zuvor.
Völlig verstört, aber entschlossen nahm ich mit einem langen Ritual Abschied von Jeshu und Swamiji und brach dann den Kontakt zu beiden ab. In Zukunft sagte ich: „Mein Wille geschehe!“, und wenn ich einen freien Parkplatz wollte, bat ich mich darum. Im Stillen hoffte ich, dass diese Experimente fehlschlagen würden, aber das war nicht der Fall.
Die Wunder, mit denen ich inzwischen zu rechnen und zu leben gelernt hatte, rissen auch jetzt nicht ab, und ich trieb es auf die Spitze, wünschte mir von mir selbst Geld im Überfluss, einen Sportwagen, aufregende Frauen, eine neue Wohnung, neue Praxisräume, ein anderes Auto, andere Frauen, andere Wohnungen, immer und immer wieder neue Erlebnisse, neue Begegnungen – all das wünschte ich mir von mir, und all das erhielt ich jeweils ohne mein sonstiges Zutun im Außen, und deshalb musste ich davon ausgehen, dass ich es von mir erhielt. Immer nur ich sprach meine Bitten, und immer nur ich erhörte sie – niemand sonst, und niemals war es anders gewesen.
Seltsam. Völlig unglaubwürdig. Aber absolut klar.
Während all dieser Experimente, die ungefähr acht Jahre andauerten, war ich zwar maßlos in meinen Wünschen, aber auch maßlos in meiner Dankbarkeit, und ich vermisste zutiefst Gott oder Jeshu oder irgendjemanden, bei dem ich mich für all diese Geschenke bedanken konnte. Ich war mit dieser Dankbarkeit völlig allein, denn ich konnte mich nicht bei mir selbst bedanken. Es nützte überhaupt nichts, dass ich andere Menschen großzügig an meinem Reichtum teilhaben ließ, Therapiestunden zu Spottpreisen abrechnete, sobald die Ratsuchenden nur wenig Geld hatten, Obdachlose unterstützte oder Geld verlieh, wenn ich darum gebeten wurde.
Ständig machte mir diese Dankbarkeit bewusst, dass ich etwas ersatzlos verloren hatte: meinen Glauben an ein göttliches Wesen, das mich kannte und liebte. Die erste Warnung meiner Mutter, dass ich den Glauben verlieren würde, wenn ich Wissen anstrebte, hatte sich bewahrheitet. Diesen Verlust empfand ich als derart schmerzvoll, dass mein Interesse nahezu erlosch, den Schöpfer der Wunder, die ich erlebte, zu suchen. Ich betete überhaupt nicht mehr, da ich nicht mehr wusste, zu wem ich beten sollte, und ich meditierte kaum noch, da ich nicht mehr wusste, wem außer mir selbst ich in mir begegnen könnte. Die Ahnung, dass ich vielleicht weit mehr war, als ich bis jetzt angenommen hatte, verlor ich zusehends aus den Augen.
Auf dem Höhepunkt meiner magischen Lebensführung nahm ich gedankliche Operationen im menschlichen Körper vor und entfernte beispielsweise Zysten oder stellte kariöse Zähne wieder vollkommen her. Außerdem schuf ich an bewölkten Tagen Wolkenlöcher um mich herum am Isarufer, also einen Platz von etwa zwanzig Metern Durchmesser, an dem ununterbrochen die Sonne schien, solange ich dort lag. Und immer wieder beeindruckte ich Freunde damit, prasselnden Regen für eine genau bestimmte Zeit anzuhalten.
Es verging kein Tag, an dem ich nicht irgendetwas Sinnvolles oder Verrücktes manifestierte, und es gelang so einfach wie Atmen: Ich sprach aus, was ich wollte, und es geschah. Zeitweise führte ich Buch und stellte dabei fest, dass die Erfolgsquote bei achtzig Prozent lag. Für eine äußerst interessante und aufregende Lebensgestaltung war das mehr als genug, und die Quote erhöhte sich noch einmal deutlich, je unwahrscheinlicher die Aussicht auf Erfolg war.
Natürlich fragte ich mich gelegentlich, warum ich diese magischen Vorgänge erleben durfte, warum mir der unmittelbare Zusammenhang zwischen Wünschen und Wirklichkeit auf eine derart drastische Weise gezeigt wurde. Ich vermutete, dass dies nur geschah, weil ich insgeheim immer noch die Ursache für die Wunder suchte, das Große Mysterium, das hinter dem Leben verborgen war. Aber ich konnte all das nur tun – verstehen konnte ich es nicht.
Eines allerdings verstand ich: Das Leben und die Welt sind nicht das, wofür wir sie halten. Alles da draußen wartet stets auf unseren Ruf, ist bereit, sich jederzeit unserem Wink zu beugen, verändert sich vollkommen auf unser Wort hin. Nichts vor unseren Augen ist festgefügt; alles tritt genauso in Erscheinung, wie der Beobachter es sich vorstellt.
Die Welt da draußen ist ein großes Nichts voller latenter Möglichkeiten, auf das der Schauende stets genau das projiziert, was jeweils seinen gedanklichen Vorstellungen und emotionalen Befindlichkeiten entspricht. Diese unmanifestierten Möglichkeiten manifestieren sich daraufhin zu genau dem, was der Betrachter erwartet.
Wer ist dieser Betrachter in Wirklichkeit? Wer ist der immer währende Schöpfer dieser Welt und dieses Lebens? Und warum ist ihm völlig unbewusst, was er da tagein, tagaus tut?
Gott, wer bin ich?
In den acht magischen Jahren bestand meine spirituelle Übung aus einem 20-minütigen morgendlichen Sitzen auf meinem Kissen. Allerdings saß ich nicht regelmäßig, sondern nur, wenn ich Lust dazu hatte, und oft vergingen Wochen ohne jede Übung.
Ich hatte inzwischen begriffen, dass meine äußere Welt von meinen gedanklichen Vorstellungen kreiert wurde, und war neugierig, zu erfahren, wie die Welt wohl aussieht, wenn ich ihr Erscheinungsbild nicht mit meinen Gedanken beeinflusse. Außerdem ahnte ich seit Assisi, dass meine Persönlichkeit, mein Ich ebenfalls nur ein mentales Bild in meinem Kopf war, und dass sich dahinter das Große Mysterium verbarg.
Deshalb versuchte ich während des Sitzens, meine Gedanken anzuhalten und mich dann auf die gedankenleere Stille zu konzentrieren. Die 20 Minuten empfand ich als anstrengend, da mir ständig irgendetwas durch den Kopf ging, womit ich mich allemal lieber beschäftigte als mit der stillen Leere dort.
Aber ich hatte mir angewöhnt, immer vor dem Einschlafen, statt irgendwelchen Fantasien nachzuhängen, das aktive Denken einzustellen, die Aufmerksamkeit dann an die Gedankenleere zu heften und so lange bewusst in ihr zu verweilen, bis ich einschlief. Das war nicht anstrengend und führte dazu, dass ich keinerlei Einschlafschwierigkeiten kannte.
Eine weitere Angewohnheit von mir bestand darin, bei Spaziergängen so oft wie möglich ebenfalls konzentriert in der Gedankenleere zu verbleiben. Dasselbe tat ich grundsätzlich auch, wenn meine Patienten über ihr Befinden oder ihre Probleme berichteten. Ich wollte ihnen auf diese Weise vollkommen zuhören, ohne mich von meinen eigenen Gedanken oder inneren Kommentaren ablenken zu lassen.
All diese Übungen trugen sicherlich dazu bei, dass sich mein Körper und meine Psyche nach und nach an die gedankenleere Stille gewöhnten, an den für uns Menschen recht ungewohnten Zustand des Nicht-Denkens.
Eines Tages, ich war gerade 45 Jahre alt geworden und Inzell lag 14 Jahre zurück, saß ich an meinem Schreibtisch und sah von der Rechnung auf, die ich soeben schrieb, blickte in den Raum und aus dem Fenster und dachte: „Bin ich deshalb nach München gegangen?“
Nein. Es stand absolut fest: Deshalb war ich nicht nach München gegangen!
Sofort erhob ich mich, ging in mein Schlafzimmer, holte mein Kissen aus dem Schrank und setzte mich darauf.
„Swamiji“, sagte ich laut, „komm wieder her, ich muss mit dir reden, denn ich hab die Nase voll! Was soll das alles? Ganz ähnlich wie ich seit acht Jahren hier lebe, habe ich in den 31 Jahren vor Inzell gelebt. Du weißt, dass ich dankbar für diesen Reichtum bin, aber jetzt fühle ich mich einfach satt, verstehst du? Es war großartig, aber ich mag nicht mehr und kann nicht mehr. Mir ist übel von all den Wundern. Deshalb bin ich nicht nach München gegangen! Ich bin nach München gegangen, um Gottes Willen zu erfüllen und um zu erkennen, wer Gott ist.
Dieses Schlitzohr in Assisi hat mich all meiner Illusionen über die Welt und über das Heilige beraubt – ich habe nichts mehr in den Händen als Zauberkraft, und die ödet mich mittlerweile an. Ich schenk sie dir. Ich geb sie zurück. Ich will sie nicht mehr. Ich hab genug davon gehabt.
Ich werde also nie wieder um ein Wunder bitten oder um irgendetwas sonst – mit einer Ausnahme. In Zukunft werde ich so leben wie jeder andere Durchschnittsmensch auch und das Leben so nehmen, wie es kommt. Aber eins will ich noch, und ich werde dir so lange damit auf die Nerven gehen, bis dieser eine Wunsch erfüllt wird: Lass mich endlich erkennen, wer ich wirklich bin!“
In den nächsten Wochen änderte ich mein Leben erneut drastisch. Ich unterzog es einem grundsätzlichen Hausputz und trennte mich von allem Überflüssigen. Ich verschenkte gut drei Viertel von allem, was ich besaß, behielt nur noch das Nötigste und wurde asketisch.
Vor allem aber sagte ich konsequent: „Wunsch!“, wenn ich merkte, dass sich ein Wunsch in meine Gedanken einschlich, und damit legte ich ihn ad acta. Es gab ein paar Situationen, in denen mir das sehr schwer fiel, weil ich meinte, dieses oder jenes unbedingt noch haben zu müssen, und ein paar Mal erlag ich dieser Illusion, wünschte und bekam und bat anschließend Swamiji um Entschuldigung und um mehr innere Stärke.
Auf die Gedankenleere konzentrierte ich mich, wann immer ich mich daran erinnerte, grundsätzlich jedoch während meiner Arbeit, vor jedem Einschlafen und auf jedem Spaziergang, ganz gleich ob in der freien Natur oder im Stadtzentrum.
Seltsamerweise war es mir nach wie vor fast unmöglich, regelmäßig auf dem Kissen zu sitzen. Dafür nahm ich nun an einer speziellen Atemgruppe teil, die einmal pro Woche stattfand, und atmete jeden Morgen im Liegen eine halbe bis dreiviertel Stunde auf dieselbe intensive Weise. Dabei achtete ich stets auf die gedankenleere Stille und versuchte, in ihr zu bleiben, während ich atmete.
Zum Herbst des folgenden Jahres schloss ich die Praxis, um meine Suche zu intensivieren. Von meinen Ersparnissen würde ich bei dem anspruchslosen Lebensstil etwa zwei Jahre lang leben können, und ich vertraute darauf, dass ich rechtzeitig wieder Geld verdienen würde, wenn es notwendig werden sollte.
Bei allem, was ich jetzt in meiner freien Zeit tat, bemühte ich mich, den Kontakt mit der Gedankenleere aufrechtzuhalten, und das gelang auch meistens. Allerdings blieb ich nur jeweils sehr kurze Zeit in der Stille, bis sie durch einen weiteren Gedankengang beendet wurde. Sobald ich dies bemerkte, atmete ich ein paar Mal tief in den Unterleib ein und entspannte meinen Körper während des Ausatmens. Damit entzog ich den Gedanken wieder mein Interesse und heftete es umgehend erneut an die entstandene Leere. Es war ein dauerndes und oft nervendes Hin und Her zwischen Denken und Nicht-Denken. Immerhin konnte ich sehr klar sehen, womit sich meine Gedanken tagsüber ständig beschäftigten – das meiste davon war überflüssig!
In den frühen Morgenstunden hatte ich gelegentlich Albträume, und bald ging ich dazu über, nachts lange zu lesen, zu schreiben oder fernzusehen, um zu müde zum Träumen zu sein. Das war mir allerdings nicht bewusst, aber ich erkannte, wie süchtig wir Menschen nach Aufregung sind.
Zum ersten Mal bemerkte ich das deutlich, als ich in der S-Bahn eine liegen gebliebene Zeitung las und mich plötzlich fragte: „Was hat das alles mit mir zu tun? Warum bin ich an all diesem Zeug derart interessiert, obwohl nichts davon mich und mein Leben betrifft?“
Als ich die Augen schloss und in mich hineinspürte, nahm ich sofort die Aufregung wahr, die das Gelesene in mir erzeugt hatte. Denn alle Informationen wurden in einer Weise vermittelt, welche im Leser Gefühle und Gedanken wie „Nein, so was! Unerhört!“ erzeugt. Diese mentale Aufregung erhöht deutlich die Spannung im gesamten Körper und verstärkt dadurch das Ich-Gefühl auf eine eigentlich unangenehme Weise. Solange wir diese Aufregung jedoch mit Lebendigkeit verwechseln, sind wir uns der negativen Körperreaktionen gar nicht bewusst.
Einmal auf der Fährte der Aufregung, entdeckte ich sie überall. Jedes Problem, erst recht jede Meinungsverschiedenheit, jedes negative Urteil über einen Menschen oder eine Menschengruppe, über eine Institution oder eine Situation erzeugt Aufregung, weil wir in Gedanken, Worten oder Taten mit Widerstand reagieren. Widerstand erzeugt Aufregung, und Aufregung erhöht die Körperspannung, vermittelt scheinbare Lebendigkeit, verstärkt das Ich-Gefühl.
Bei genauer Untersuchung musste ich feststellen, dass ich einen Hang dazu hatte, die Probleme anderer Menschen lösen zu wollen, was nichts anderes bedeutete, als dass ich mich im Widerstand mit deren augenblicklichen Lebensumständen befand. Bei noch genauerem Hinschauen blieb mir nicht erspart, zu erkennen, dass ich auch einigen Bereichen meines eigenen Lebens Widerstand entgegensetzte. Er äußerte sich in unterschwelliger Selbstkritik an meinem So-Sein und in dem Versuch, mich ständig zu verbessern. Letztlich basierte sogar meine spirituelle Suche nur auf Widerstand gegen das, was tatsächlich vorhanden war – ich wollte unbedingt etwas anderes erleben.
Ich verstand, dass wir Menschen Aufregung brauchen, um uns selbst zu spüren und um zu bemerken, dass wir leben, dass wir vorhanden sind. Was würde ohne unsere allgegenwärtige Aufregung, ohne unseren Widerstand, ohne unsere Konflikte und Probleme von unserem Ich-Gefühl übrig bleiben – nur noch sehr wenig! Und dieses Wenige würde höchstwahrscheinlich nicht ausreichen, um das Große Mysterium zu verbergen, das vom persönlichen Ich-Empfinden verdeckt wird.
Die meiste Zeit eines durchschnittlichen Tages befinden wir uns entweder im Widerstand gegen irgendetwas oder auf der Suche nach irgendetwas – jedenfalls befinden wir uns fast ununterbrochen im Zustand der Aufregung mit erhöhter Körperspannung, und nur deshalb haben wir das Gefühl, ein Ich zu sein.
Rigoros trennte ich mich nun von dem, was mich aufregte, brachte Fernseher und Radio in den Keller, hörte auf zu hupen, wenn ein lahmer Autofahrer vor mir herzuckelte, und entspannte mich tief atmend immer und immer wieder, hundert Mal am Tag.
Außerdem verzichtete ich auf das späte Zubettgehen, beendete die Aufregung, die mit dem nächtlichen Wachbleiben einhergeht, aber das tat mir gar nicht gut: Zwischen drei und sechs Uhr morgens traten plötzlich vermehrt Albträume auf, aus denen ich schwitzend und zitternd erwachte. Also ging ich nach kurzer Versuchsphase weiterhin erst gegen zwei Uhr früh ins Bett, konnte allerdings kaum jemals länger als bis sieben Uhr schlafen.
Dass ich mit all diesen Dingen meinem bisherigen Ich-Empfinden langsam aber sicher den Boden unter den Füßen wegzog, wusste ich, aber ich rechnete nicht damit, dass sich mein psychosomatisches System eines Tages entschlossen dagegen wehren würde.
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