Читать книгу Grenzenlose Erleichterung - Felix Gronau - Страница 8

3. Blitze aus bewölktem Himmel

Оглавление

Im Alter von etwa sechs Jahren erzählte ich meiner Mutter verzweifelt, dass ich nachts manchmal Albträume hatte.

„Aber das sind doch bloß Träume“, sagte sie. „Du brauchst beim Träumen keine Angst zu haben. Du weißt doch, dass du morgens immer gesund und munter aufwachst, egal, was du geträumt hast.“

Einige Nächte später träumte ich, dass eine riesige Lokomotive auf mich zugerast kam und ich in größter Panik versuchte, vor ihr wegzulaufen. Dann plötzlich, während des Laufens, dachte ich:

„Das ist bloß ein Traum. Morgen wache ich wieder gesund auf.“

Sofort blieb ich stehen und wandte mich um. Die Lokomotive war schon sehr nah und donnerte weiter auf mich zu. Ich sah ihr ohne Angst entgegen. Stattdessen empfand ich eine überwältigende Neugier: Was würde wohl geschehen, wenn ich gleich überrollt würde?

Im Augenblick des Aufpralls war der Traum zu Ende und ich schlief seelenruhig weiter. Für eine lange Zeit hatte ich danach keine Albträume mehr. Sie waren uninteressant geworden, da mir ohnehin nichts passieren konnte. Als sie dann etwa 40 Jahre später wiederkamen, hatte ich das Wissen, wie mit ihnen umzugehen ist, vergessen. Ich litt sehr unter ihnen – bis ich mich wieder erinnerte.

Als Kind war ich groß, schmal und blass, anfällig für Krankheiten, dazu erzogen, gegenüber Erwachsenen höflich zu sein und mich innerhalb unserer Familie angepasst zu verhalten. Im Umgang mit anderen Kindern war ich entweder überheblich, wenn ich damit durchkam, oder gehemmt.

Ich hatte keinen Freund und keine Freundin und spielte am liebsten allein in meinem Zimmer oder in unserem Garten Cowboy und Indianer. Dabei übernahm ich die entsprechenden Rollen alle selbst. Das größte Vergnügen bereitete es mir, zu sterben. Imaginäre Kugeln oder Pfeile durchbohrten mich, und ich fiel von Stühlen, die mir als Pferd dienten, von Tischen, die Bergplateaus darstellten, und von Bäumen, in deren Ästen ich mich versteckt hatte.

Ich rauchte gelegentlich und onanierte häufig. Oft war ich „woanders“, und das meistgebrauchte Kommando meiner Eltern bestand in der Aufforderung: „Sei endlich bei der Sache!“ Nur aufgrund endloser Nachhilfestunden schaffte ich die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium. Ein paar Tage lang glaubten meine Eltern, das Schlimmste sei jetzt überstanden und die Welt endlich in Ordnung. Ich hoffte dasselbe.

Aber auch als Junge blieb ich groß, schmal und blass, anfällig für Krankheiten, im Umgang mit anderen Kindern entweder überheblich oder gehemmt. Ich spielte weiterhin allein mein Todesspiel und rauchte mehr als zuvor. Den Lehrern gegenüber, die sich das bieten ließen, war ich aufsässig.

Nur wenn ich mich nicht mehr zusammenreißen konnte, rebellierte ich auch zu Hause, wo man mich dann derart disziplinierte, dass ich mich für die nächsten Monate wieder unterordnete.

Nun war ich eigentlich kaum noch ganz bei der Sache, sondern meistens „woanders“.

Im Alter von zehn oder elf Jahren bemerkte ich vor dem Einschlafen einen großen Raum. Ich lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch, wie ich es beim Schlafen immer tat, schlief aber noch nicht und schien in diesen Raum, der sich unter mir befinden musste, hineinzuschauen. Abgesehen von einem Restlichtschimmer war es vollkommen dunkel in ihm.

Während ich noch fasziniert schaute, bemerkte ich, dass er groß und tief war und sich auf eine unerklärliche Weise in mir befand. Nun wurde er immer größer und immer tiefer, und irgendwann bekam ich es mit der Angst zu tun. Im selben Augenblick befand sich der Raum nicht länger in mir, sondern wieder unter mir, während ich auf dem Bauch direkt über ihm lag. Jetzt ergriff mich Panik, hineinfallen zu können. Ich rappelte mich im Bett auf und beendete so die eigenartige Erfahrung.

Wenige Jahre später brannte sich eine besondere Stunde des Konfirmandenunterrichts fest in mein Gedächtnis. Wir sprachen über die Aussage Jesu: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (Lukas 17,21). Ich war zutiefst verblüfft und fasziniert von dieser Feststellung, und sofort schoss mein Arm in die Höhe. Es entspann sich sinngemäß folgender Dialog zwischen mir und dem Pastor:

„Wo genau in mir befindet sich der Himmel?“

„In deinem Herzen.“

Dann konnte irgendetwas mit den Größenverhältnissen nicht stimmen, folgerte ich sofort und fragte:

„Was ist das Reich Gottes?“

„Der Ort, wo Gott wohnt und Jesus Christus und die Engel und alle, die dort hingelangt sind.“

„Wie passt dann der Himmel in mein Herz?“

„Das weiß ich nicht. Aber Jesus weiß das, und du kannst ihn fragen. Er wohnt ja in deinem Herzen.“

Ich vergaß damals, Jesus zu fragen, und als ich etwa 20 Jahre später auf der Suche nach jener Aussage das Neue Testament las, fand ich sie dort nicht mehr. Meine Nachforschungen ergaben, dass die Bibelkommission die entsprechende Stelle verändert hatte in: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Damit war der entscheidende Hinweis, dass wir Gott in uns suchen sollen und finden können, aus dem Text entfernt worden.

Als Jugendlicher verfiel ich nach der Trennung von meiner ersten großen Liebe, dem Sonnenschein jener Jahre, für einige Wochen dem Alkohol. Dann gab ich zwar das Trinken wieder auf, aber ich verbrachte die nächsten zehn Jahre damit, über Selbstmord nachzudenken und Geschichten über den Tod zu schreiben. Ganz bei der Sache war ich eigentlich überhaupt nicht mehr – ich war fast immer „woanders“.

Das Abitur absolvierte ich auf ebenso unvorstellbare Weise wie damals die Aufnahmeprüfung. Anschließend unterzog ich mich der Banklehre, die meine Eltern für mich vorgesehen hatten, und auch die bestand ich wider alle Vernunft. Schließlich trat ich in die Firma meiner Eltern ein, und die nächste Überraschung offenbarte sich: Innerhalb kürzester Zeit avancierte ich zu einem äußerst erfolgreichen Kaufmann.

Allerdings war ich immer noch groß, schmal und blass, anfällig für Krankheiten, im Umgang mit Kindern schroff abweisend, im Umgang mit Erwachsenen überheblich, wenn ich damit durchkam, oder gehemmt, wenn sie es sich nicht bieten ließen. Aber immerhin war ich erfolgreich, bei Konkurrenten gefürchtet, bei Kollegen angesehen und bei den meisten meiner Mitarbeiter beliebt. Mein Wunsch nach Freiheit fand in sexuellen Abenteuern sein Ventil, und ich rauchte fast ununterbrochen.

Als ich 27 Jahre alt war, führten mich meine verdrängten Lebensimpulse in eine Gelbsucht, an der ich fast gestorben wäre.

„Ich verstehe das nicht“, sagte der mich behandelnde Arzt, als sich meine Blutwerte erneut dramatisch verschlechtert hatten. „Wollen Sie eigentlich nicht gesund werden?“

Von der Frage viel zu verblüfft, um die Antwort überlegen zu können, sagte ich:

„Nein.“

Ein erleichtertes Lächeln überzog sein Gesicht, als wäre er froh, endlich den Grund für das Scheitern seiner Bemühungen zu erfahren.

„Warum nicht?“, fragte er nach einigen Augenblicken.

Und wieder antwortete ich wie in Trance ehrlich:

„Das Leben ist viel zu anstrengend.“

Er nickte und schwieg lange. Endlich stand er auf und reichte mir zum Abschied die Hand.

„Wenn das so ist“, sagte er, drückte meine Hand und sah mir fest in die Augen, „dann sollten Sie öfter mal eine Tasse Tee trinken!“

Absolut verblüfft verließ ich das Sprechzimmer, aber ich weiß noch heute, dass ich plötzlich nicht mehr woanders war, sondern ganz bei mir. Ich fuhr nach Hause, kaufte mir unterwegs einen exotischen Tee und ein exklusives Teeservice. Ich bereitete den Tee zu, und während ich ihn schluckweise trank, war ich vollkommen bei der Sache und entschloss mich, dem Leben noch eine Chance zu geben:

Ich wollte wieder regelmäßig meditieren.

Im Alter von 15 Jahren war mir ein Buch über Yogis in die Hände gefallen, und beim Lesen hatte ich verstanden, dass Meditation das Innere eines Menschen verändern und ihm Macht über seine äußeren Lebensumstände verleihen kann. Nach der Lektüre setzte ich mich damals sofort hin und meditierte in der festen Überzeugung, es ohne genaue Anleitung zu können.

Nur wenige Wochen später ahnte ich, dass Meditation und Psychologie irgendwie zusammengehören, und begann, die Bücher von Sigmund Freud zu lesen. Als ich ein halbes Jahr danach aufgrund meiner miserablen Schulzensuren ins Internat kam, hatte ich Freuds gesammelte Werke bereits verschlungen, und ich kaufte und las in den folgenden Jahren alles, was sich irgendwie mit den Themen Meditation oder Psychologie beschäftigte. Außerdem experimentierte ich in meiner Freizeit mit jeder interessanten Technik der Selbst- oder Fremdhypnose.

Wann immer mein Leben unüberschaubar wurde, setzte ich mich seitdem auf ein Kissen und schloss die Augen. Die relative Ruhe, die ich dabei und danach empfand, schenkte mir ein unbestimmtes Gefühl, das eigentlich belanglos, im Vergleich zu meinem Alltagsempfinden jedoch recht angenehm war. Ich meditierte auf diese Weise während all der folgenden Jahre und auch noch als Kaufmann, aber nur mit großen zeitlichen Abständen.

Auch nach jenem Arztbesuch erinnerte ich mich an die Übung, und wie ich es bei dieser Tasse Tee beschlossen hatte, nahm ich sie erneut auf. Und noch etwas anderes hatte ich beschlossen: nie wieder an Selbstmord zu denken. Drei Wochen später waren meine Blutwerte normal und die Gelbsucht verschwunden.

Im Alter von 31 Jahren war ich immer noch groß, schmal, blass, anfällig für Krankheiten, Kettenraucher, erfolgreicher Geschäftsmann, ständig auf der Suche nach sexuellen Abenteuern und außerdem seit gut zwei Jahren abhängig von einem starken Beruhigungsmittel.

An einem Freitag im November fuhr ich mit dem Auto nach Inzell zu einem Management-Seminar. Ohne den geringsten äußeren Anlass begann ich dort, als ich mich der Gruppe vorstellen sollte, zu weinen. Es war ein lautes, tränenreiches Weinen, das den Körper schüttelte und nicht zu stoppen war. Ich konnte nicht sprechen, mich nicht zusammenreißen – ich musste weinen, obwohl ich wusste, dass es anstößig laut war und dass Rotz, Tränen und Schweiß in nicht endenden Strömen flossen.

Ich weinte etwa sechs Stunden lang. Dabei empfand ich vom ersten Augenblick an einen furchtbaren Schmerz in mir, der so groß und grauenvoll war, dass es keine andere Möglichkeit gab, als zu weinen. Nach kurzer Zeit schmerzte dann auch der Körper, der die enorme Belastung durch die Weinkrämpfe nicht gewohnt war. Es tat überall im Rumpf so bestialisch weh, dass ich schon deshalb weinen musste.

Irgendwann entspannte sich plötzlich mein Körper. Ich lag auf einer Decke am Boden und hatte keinerlei körperliche Beschwerden mehr. Ich fragte mich, warum ich denn überhaupt weinte, und sofort schoss jener innere Schmerz wieder wie ein Blitz in mein Bewusstsein. Obwohl ich seine Botschaft nicht verstehen konnte, zerriss er mich buchstäblich.

Nach etwa einer Stunde trat eine erste plötzliche Unterbrechung auf. Das Weinen stoppte unvermittelt, und mir wurde klar, dass ich über mein Leben weinte. Diese Einsicht tat so weh, dass das laute Weinen als Reaktion darauf sofort wieder einsetzte.

Während des Weinens konnte ich nicht überlegen. Ich erlebte einfach nur den immensen inneren Schmerz. Aber nun traten in regelmäßigen Abständen sekundenkurze Weinstopps auf, und während dieser fragte ich mich, was denn in meiner Vergangenheit dermaßen traurig gewesen war. Sofort offenbarte sich dann jeweils eine besondere Situation meines bisherigen Lebens. Ich sah sie vor mir wie eine Erinnerung und befand mich gleichzeitig in ihr wie damals und erlebte sie noch einmal. Aber das ging alles sehr schnell und mit der ungeheuren Wucht eines Blitzschlages vor sich.

All diese Situationen der Vergangenheit schienen von großer Wichtigkeit für mich und mein weiteres Leben gewesen zu sein. In allen hatte ich jeweils das getan, was ich eigentlich nicht hatte tun wollen, oder ich hatte das nicht getan, was ich eigentlich hatte tun wollen. Dieses Erkennen war so ungeheuer schmerzhaft, dass das Weinen sofort wieder aus mir herausbrach.

Nach dem dritten oder vierten Blitzlicht auf meine Vergangenheit erlebte ich während des folgenden Weinstopps eine überwältigende Dankbarkeit dafür, dass dieser Vorgang jetzt stattfand. Mir war absolut bewusst, dass es ein ungeheures Geschenk für mich war, diese Dinge endlich sehen zu dürfen, die ich immer übersehen hatte. Ich nahm deshalb den Schmerz und das Weinen gern in Kauf. Auch diese Dankbarkeit empfand ich wie einen vernichtenden Blitzschlag, und auch sie war nur durch Weinen zu überstehen.

Blitzschlag für Blitzschlag erhellte mein zurückliegendes Leben.

Nach ungefähr sechs Stunden kam ein erneuter Weinstopp, und eine tiefe innere Ruhe erfüllte mich, die köstlich war. Ich wartete, dass mich wieder der nächste Blitz zerschmettern würde, aber er blieb aus. Ich putzte mir die Nase und merkte, dass das überwältigende Geschehen allem Anschein nach vorbei war.

Da ich nicht hatte sprechen können, weil ich ständig weinen musste, hatte niemand die leiseste Ahnung, was in mir vorging. Nun erhob ich mich von der Decke und hatte erstaunlicherweise nicht das Bedürfnis, mich zu erklären. Ich schwankte in mein Zimmer, holte die Packung mit dem Beruhigungsmittel aus meiner Aktentasche und leerte den Inhalt ins Klo. Ich war vollkommen ruhig und ganz bei der Sache.

„Nie wieder das Alte!“, schwor ich laut, als ich die Spülung betätigte. Der Satz klang seltsam, aber na gut. Vieles in meinem bisherigen Leben war anscheinend recht seltsam gewesen.

Dann bemerkte ich, dass ich Hunger und Durst hatte. Während des Essens wurde mir klar, dass ich nicht im Mindesten traurig, deprimiert oder gar verzweifelt war. Ich spürte in mich hinein und entdeckte eine wilde Entschlossenheit, ab jetzt alles anders zu machen. Ich wusste nicht, wie das genau vor sich gehen sollte, aber ich hatte immerhin etwas, an dem ich mich orientieren konnte: „Nie wieder das Alte!“

Grenzenlose Erleichterung

Подняться наверх