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3. Wonda Wayward

Die Leitung des Heimes beschloss, mir auf Jeffs Drängen hin noch mal eine Chance zu geben und mich weiterhin im Heim wohnen zu lassen. Allerdings sollte ich meine Verweise abarbeiten und soziale Dienste für die Stadt leisten. Meine erste Aufgabe war, den Rasen des örtlichen Baseballstadions zu mähen. Das Heim war recht gut organisiert und ich fand heraus, dass es sogar eine Art kleinen Kindergarten besaß, bei dem ich Baby-Gail für die Dauer meiner Strafarbeit abgeben konnte.

Ein Pförtner fuhr mich und eine weitere, eine schwarze Heimbewohnerin zusammen mit zwei antiquierten Rasenmähern zum Baseballstadion. Die Frau und ich saßen schweigend im Auto nebeneinander. Ich konnte nicht umhin, die andere eingehend zu mustern, denn von meiner Natur her war ich neugierig. Sie war ungefähr in meinem Alter und sehr mager. Ihre schmalen Hände mit den abgeknabberten Fingernägeln waren in ständiger Bewegung. Sie schien ein nervöser Typ zu sein. Als sie sich kurz in meine Richtung drehte, konnte ich einen Blick ihrer schönen schwarzen Augen erhaschen. Sie hatte einen leichten, nicht unattraktiven Silberblick. Ich lächelte sie ohne Erfolg an. Ihr Blick war reserviert und abweisend.

Im Stadium versorgte der Pförtner uns noch mit den alten Rasenmähern und verzog sich dann mit der Bemerkung, er werde uns rechtzeitig zum obligatorischen Abendessen wieder abholen. Für mittags hatte uns die Küche ein Essenspaket zurecht gemacht, das ich in meiner Ratlosigkeit, wie das mit dem Mähen gehen sollte, erst einmal aufaß. Die schwarze Frau stand ebenfalls nur an ihren Rasenmäher gelehnt und sah in die scheinbar unendliche grün-braune Weite des Stadiums. Während ich kaute, beobachtete ich die andere neugierig aus den Augenwinkeln.

Brote und Saft hatten mir zu neuen Energien verholfen. So oder so mussten wir die Arbeit hinter uns bringen, und ich hielt es für das Beste, mich mit der anderen Frau zu organisieren. Also stellte ich mich ihr vor und reichte ihr die Hand, ein Akt, der vielleicht schon Stunden früher hätte erfolgen sollen. Die andere, eine gewisse Wonda Wayward, schüttelte sie und schenkte mir zum ersten Mal ein freundliches Lächeln.

„Ich habe noch nie gemäht. Ich weiß nicht, wie man so ein Ding bedient, aber ich schätze, wir tun uns leichter, wenn wir vorab das Feld aufteilen.“

„Nein. Es ist besser, wenn wir nebeneinander mähen. Dann können wir uns unterhalten und wir spüren die Hitze nicht so“, schlug Wonda im Gegenzug vor.

„Weißt du denn, wie man mit so einem Rasenmäher umgeht?“

Wonda nickte und führte mir mit ihrem Mäher vor, wie man ihn bediente, indem sie einen Kreis um mich herum mähte. Sie wies mich darauf hin, dass man bei diesen alten und schlecht gewarteten Exemplaren viel Kraft anwenden müsse, um sie zu bewegen. Ich sagte ihr, dass, wenn sie, die viel kleiner und dünner war als ich, den Mäher bewegen könne, es mir nicht schwerer fallen dürfte. Tatsächlich aber brachte ich den Mäher kaum vorwärts. Nachdem ich mich eine Stunde lang durch die Stadionslandschaft gequält hatte, Wonda stets geduldig auf mich wartend, verfing sich in meiner Schneidschraube auch noch ein harter Metallgegenstand und setzte den Mäher außer Kraft. Also schoben wir Wondas Rasenmäher zu zweit vor uns her und erzählten uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten.

Wonda hatte zwei Söhne, die ebenfalls im Heimkindergarten saßen. Sie waren allerdings schon 5 und 11 Jahre alt. Sie selbst war doch um einiges älter als ich, war beinahe dreißig Jahre und hatte ihren Mann, einen stadtbekannten Kokainhändler, bereits zum dritten Mal verlassen, weil sie mit seinem Leben und seiner Moral nicht klarkam. Obwohl Wonda im Verlauf unseres Gesprächs ihren Mann nachhaltig verurteilte, hörte ich gleichzeitig auch Bewunderung und vor allem eine Sehnsucht nach ihm aus ihrer Stimme heraus. Offensichtlich kämpfte Wonda hier mit ihrer eigenen Moral. Sie war schon drei Mal in diesem Obdachlosenheim gestrandet und wollte nun endgültig einen Schlussstrich unter ihr altes Leben ziehen, sich und ihren Kindern mit einer Ausbildung, später einem Job und einer eigenen Wohnung zu einem anständigen Leben verhelfen. Sie klang vernünftig und klug. Ich empfand mit jeder Stunde mehr Sympathie für die kleine magere Frau, die häufig um sich blickte, als erwarte sie jemanden.

Am Abend als uns der Pförtner wieder abholte, war das Feld zwar nur zur Hälfte gemäht, Wonda und ich aber dennoch glücklich, da wir uns als Freundinnen in der Not gefunden hatten.

Beim Abendessen stellten wir gegenseitig unsere Kinder vor. Ellroy und Franky, Wondas Söhne, waren nicht weniger schweigsam und nervös als ihre Mutter. Ich hoffte, dass sie sich mit der Zeit entspannen würden.

Am nächsten Morgen mähten wir in stiller Harmonie die zweite Hälfte des Feldes, während Franky und Ellroy am Rande des Stadions auf Baby-Gail, die ich aus lauter Freude über diese neue Freundschaft mitgenommen hatte, aufpassten.

Einen Tag später tauchte Erin auf, um mir meine restlichen Habseligkeiten zu bringen. Seine Kühle und Abgeklärtheit, vor allem seine Unlust, das eigene Kind sehen zu wollen, versetzten mir einen herben Stich. Niedergeschlagen suchte ich Trost bei Wonda, die mir von ihren eigenen Erfahrungen mit ihrem Mann erzählte und versicherte, dass dieses stiefväterliche Verhalten keineswegs gegen das Kind gerichtet sei, sondern nur die Ratlosigkeit der Männer zum Ausdruck brächte. Ich hörte ihr dankbar zu, hatte aber meine Zweifel an ihren Theorien.

Mit den Kindern besuchten wir von nun an täglich den Stadtpark, setzten uns beim Essen zusammen. Wir erreichten, dass man uns zusammen für die täglichen Aufräumarbeiten in der Küche einteilte, anstatt uns den Rasen von Sportstadien mähen zu lassen. Während ich im oberen Stockwerk des Areals wohnte, hauste Wonda mit ihren Söhnen in einem dunklen Zimmer im Parterre unweit der Mülltonnen. Der Gestank des Abfalls drang bis in ihr Zimmer und für mich war es völlig unverständlich, dass Wonda sich nicht um ein anderes Zimmer bemühte. Doch sie erklärte mir, dass man ihr kein anderes Zimmer geben würde, weil sie bereits zum dritten Mal in dieses Heim zurückgekehrt sei.

„Hier gibt es doch viele Rückkehrer.“ Mich hätten keine zehn Pferde ein zweites Mal in ihr Zimmer gebracht. Wonda schwieg. Sie hatte diesen schicksalsergebenen Blick in den Augen, der von einer nicht nachvollziehbaren Unglückssträhne sprach, die nur Menschen ihrer Ethnie befallen würde. Ich akzeptierte ihr Schweigen, hielt mich aber von ihrem Zimmer so gut es ging fern.

In den folgenden Tagen beschlossen Wonda und ich, uns beim Wiedereinstieg in das Berufsleben unter die Arme zu greifen. Wir planten, uns gemeinsam auf dem örtlichen College anzumelden und uns nach einem Job umzusehen. Für die Schuleinschreibung stand der Heimpförtner Jeff wieder einmal mit Rat und Tat zur Seite. Er besorgte uns die Aufnahmebögen und fuhr uns später mit den Unterlagen zum College. Am Ende lud er mich und Wonda in der Cafeteria sogar noch zu einer Runde Pommes und Cola ein. Beim Essen besprachen wir das weitere Vorgehen, wir lachten viel über Jeffs Späße, der sich wunderbar darauf verstand, amerikanische Prominente, die wir aus dem Fernsehen kannten, nachzuahmen. Trotzdem beschlich mich der Verdacht, dass die Einladung nicht ohne Hintergedanken war, denn Jeff schien vor allem meine Reaktion auf seine Witzchen und Anekdoten zu prüfen. So schön der „Ausflug“ und das Gefühl eines Neubeginns mit der Einschreibung am College auch waren, fühlte ich mich seit dem Abend, als er neben mir auf dem Stockbett gesessen hatte, stets ein wenig aufgeregt in Jeffs Nähe.

Weil Wonda und ich mittellos waren, mussten wir uns noch einem Eignungstest unterziehen. Bestanden wir diesen, konnten wir im Anschluss einen Antrag auf kostenlose Schulbücher und Befreiung vom Schulgeld stellen. Am Tag unserer Prüfung nahmen wir beide den Bus zur Schule, worüber ich sehr froh war. Ich fühlte mich auf diese Weise freier und unabhängiger. Wir wollten uns ohnehin daran gewöhnen, den Schulweg ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Wonda war übernervös, ich fragte mich wieso, denn vielmehr hätte ich diejenige mit der Furcht im Nacken sein müssen. Es war nicht mein Land, nicht meine Sprache, nicht meine Schule. Aber die ganze Busfahrt über knabberte Wonda wie besessen an ihren kleinen weißen Fingernägeln herum und schielte skeptisch um sich, als traue sie dem ganzen Vorhaben gar nicht. Da Jeff uns am Vortag noch ein Buch mit Musterprüfungen aus der Stadtbücherei besorgt hatte, plapperte ich Wonda mit Textfragen aus verschiedenen Fachbereichen voll. In meiner freudigen Erregung bemerkte ich dabei nicht, dass Wonda nicht eine einzige Antwort auf meine gestellten Testfragen gab. Sie lauschte lediglich meinen Antworten, die selbstvergessen und stolz aus mir heraussprudelten.

Im Prüfungsraum knabberte Wonda dann zur Abwechslung an dem ausgehändigten Bleistift. Sie gab frühzeitig den Prüfungsbogen an die Aufsicht zurück und wartete dann vor dem Zimmer im Gang auf mich. Erstaunt stellte ich fest, dass die zu beantwortenden Fragen mir mehr Allgemeinwissen als echte Fachkenntnisse abverlangten und daher relativ einfach zu beantworten waren. Trotzdem nutzte ich die gesamte Prüfungszeit und arbeitete so sorgfältig wie man eben mit Multiple-Choice-Fragen arbeiten konnte.

Wonda war anschließend ganz in sich gekehrt und verhielt sich geradezu feindlich, so als gäbe es unsere Freundschaft nicht. Zwei Tage später wurde mir klar, warum. Mit der Post waren unsere Prüfungsergebnisse gekommen, und ich war ganz aus dem Häuschen vor lauter Freude. Neben meinem guten Testergebnis hatte das College auch gleich den Schülerbogen und die Anträge zur Mittelbefreiung beigefügt. Glücklich suchte ich nach Wonda, die ebenfalls ihr Prüfungsergebnis bekommen haben musste. Doch sie weigerte sich, mit mir zu sprechen und ging mir aus dem Weg. Beim Abendessen in der Heimkantine saßen wir uns nur schweigsam gegenüber. Die zwei kleinen Jungs von Wonda, Franky und Ellroy, stocherten genauso lustlos in ihrem Essen herum wie ihre Mutter. Obwohl es mir auf der Zunge brannte, sie nach ihrem Ergebnis zu fragen, weil ich in beiden Fällen schon einen Aktionsplan parat hatte (Bestanden: Wonda in die Arme fallen, Durchgefallen: trösten und sie ermuntern, gleich noch mal zur Prüfung gehen, aber vorbereitet), traute ich mich bei ihrer düsteren Stimmung nicht, das Thema anzuschneiden. Auch in den kommenden Tagen beschränkte sich unsere Konversation auf das Nötigste. Während ich jedoch mein Schreiben von der Schule überall mit mir herumschleppte, als wäre es eine Urkunde, erwähnte Wonda ihren Brief niemandem gegenüber. Er war ein Unglücksbrief, ein Brief, den man nirgendwo liegen haben will, nicht einmal im eigenen Mülleimer. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen.

Jeff war der Erste, bei dem ich meiner Freude endlich Ausdruck verleihen konnte. Wahrscheinlich war es falsch, dass ich ihm um den Hals fiel, als ich ihn in seiner nächsten Nachtschicht besuchte. War ich kindisch vor Freude? Jeff jedenfalls freute sich mit mir und zeigte sich betroffen, als er hörte, dass Wonda wahrscheinlich nicht bestanden hatte. Dann löste er sich sanft aus meiner Umarmung und spähte durch die große Glaswand, die zum Hof hin zeigte, ob uns jemand gesehen hatte. Für Bewohner des Heimes war es verboten, sich im Büro der Pförtner aufzuhalten. Doch der Innenhof war leer und still. Ermutigt tranken wir zusammen Kaffee und sahen auf seinem kleinen Fernsehgerät, einem Modell aus den 1960ern, fern. Das Kaffeetrinken, das Fernsehen, diese einst so leichthin genossenen Gewohnheiten, waren in den Tagen im Heim zu kostbaren Momenten geworden. Mein Wohlgefühl war so rund, dass ich das Geschrei meines Babys erst vernahm, als meine verärgerte Nachbarin zu uns ins Pförtnerbüro kam.

In dieser Nacht träumte ich jedoch nicht von Freudenfeiern und Erfolgen, sondern von Wonda. Sie stand am Grab ihres Testergebnisses und weinte. Meine Arme hatte ich tröstend um sie gelegt, sie war so klein gegen mich, dass ich einen großen Schatten über sie auf die schwarze Erde des Grabes warf. Im Traum dachte ich, dass es grotesk war, einen Brief zu begraben. Aber war es wirklich der Brief, den wir begraben hatten?

Frau in der Fremde

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