Читать книгу Frau in der Fremde - Filiz E. Krause - Страница 13

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6. Ellroy

Als erneut Arbeitslose hatte ich zunächst einmal wieder Zeit, mich mit Wonda zu befassen, die mir während meiner Tätigkeit als CNA stets das Baby gehütet hatte, ohne dafür bisher eine Gegenleistung erhalten zu haben. Bisher war ich stets zu müde gewesen, um ihr und ihren Kindern Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich von meiner Schicht heimgekommen war. Ich hatte stets einsilbig und mit mir selbst beschäftigt das Baby in Empfang genommen und war todmüde in mein Zimmer getrottet. Im August hatte zu allem Überfluss auch noch mein Kurs im College begonnen, und ich musste mich nun jeden Samstag per Bus zur Schule quälen, was sich einfacher anhört, als es war. Die öffentlichen Verkehrsmittel in Amerika – wenn es überhaupt welche gab – hatten ihre eigene Regelmäßigkeit, will sagen, gar keine. Der Bus kam oder kam nicht. Er fuhr Ewigkeiten um die gesamte Stadt, bis ich endlich am Ziel war und nur wenige Stunden später spielten der Stadtbus und ich das gleiche Spiel auf dem Nachhauseweg.

Doch nach meiner Schlappe als CNA war mir doppelt daran gelegen, die Chance auf eine richtige Berufsausbildung nicht zu vermasseln. Kurz und gut, wenn ich mich mit Wonda unterhielt, war ich sehr mit mir selbst beschäftigt und redete grundsätzlich nur von mir und meinen Ängsten und Nöten. Gedankenlos machte ich mein Leben zum Hauptort des Geschehens und verdammte Wonda zur Zuhörerin.

Tatsächlich hatte sich aber auch bei meiner Freundin etwas verändert. Diese Veränderung erfolgte nur viel unterschwelliger und erforderte einen schärferen Beobachter als mich. So stellte ich erst fest, dass Wonda unter Depressionen zu leiden schien, als diese bereits ein krankhaftes Stadium erreicht hatten. Wonda selbst führte ihre Schwermütigkeit auf den Umstand zurück, dass Ellroy nicht zur Schule gehen konnte, weil er unter einer besonderen Form von Verdauungsstörungen litt. Sie hatte schon früher des Öfteren erwähnt, dass Ellroy häufig mit Verstopfungen zu kämpfen hatte, was aus meiner Sicht und Unkenntnis heraus kein wirkliches Problem darstellte. Eine Verstopfung hatte jeder ab und zu. Da die Verstopfung ihres Sohnes Wonda aber über die Maßen beschäftigte und weil ich mich als Freundin ihr gegenüber verpflichtet fühlte, suchte ich gemeinsam mit ihr nach Lösungen. Die Wurzel des Übels lag für mich sofort auf der Hand, als ich Ellroy bei seinen Essgewohnheiten beobachtete. Der Junge ernährte sich hauptsächlich von diesem labbrigen Weizentoastbrot, das die Nationalbrotsorte Amerikas war. Wonda pflichtete mir sofort bei, als ich von den Nachteilen der einseitigen Ernährung sprach. In ihren Augen war daran eine Verschwörung der amerikanischen Industrie schuld, mit der die untere soziale Schicht mittels vitaminarmer verarbeiteter Nahrungsmittel handlungsunfähig und somit gesellschaftsunfähig gemacht werden sollte. Für sie lag es auf der Hand, dass in diesem Heim, diesem Auffangbecken für zum Scheitern Geborene, absichtlich dieser Labbertoast serviert wurde. Auf meinen Einwand hin, man könne doch einfach die ebenfalls angebotenen Cornflakes oder Obst zum Frühstück essen, winkte Wonda energisch ab und beharrte auf ihrer Verschwörungstheorie. Wir ließen es zunächst einmal dabei, wenigstens den Verursacher der Verstopfung, das Weizentoastbrot, gemeinsam entdeckt zu haben. Ich schlussfolgerte, dass Wonda die Angelegenheit einfach sehr nahe ging und hoffte, das Verstopfungsproblem von Ellroy in kleinen Schritten gemeinsam mit ihr lösen zu können.

Doch die Tage zogen vorbei und Ellroy aß nach wie vor nichts anderes, nur diesen vermaledeiten Labbertoast. Mir war vorher gar nicht aufgefallen, dass nicht nur er, sondern auch Wonda und Franky beinahe zu allen Mahlzeiten kaum etwas anderes zu sich nahmen. Gemeinsam kauten sie an dem trockenen Toast wie an einem schweren Problem herum. Es war mir unangenehm, da die sonst so sanfte Wonda beim Stichwort „Essen“ ungewohnt verbissen und verstockt war. Und doch musste ich auf den Toast zu sprechen kommen, schon weil mir nun verschiedene Zusammenhänge dämmerten, zum Beispiel, dass Wonda und ihre Söhne beinahe als unterernährt betrachtet werden konnten und vielleicht nicht nur Ellroys verhängnisvolle Verstopfung, sondern auch die Lethargie, die Wonda am Boden hielt, auf eine Mangelernährung zurückzuführen sein konnte.

Beim Thema „Toast“ änderte sich die Haltung von Wonda schlagartig. Die schwarze Frau schielte nur verstockt an mir vorbei; auf meine Befürchtungen, dass diese Diät zu Mangelernährung, ja, Unterernährung, Lethargie, geistiger Rückbildung ihres Gehirns, Rückständigkeit der Kinder führen konnte, ging sie mit keinem Wort ein. Sie konterte lediglich nach einer langen Pause, in der die Familie Wayward ihren Toast kaute wie eine Herde Kühe ihr Gras, mit ihrer Verschwörungstheorie. Auf meine offene Kritik, warum sie denn unbedingt nur dieses Brot essen müssten, lachte sie bitter und meinte, dies sei die einzige Möglichkeit, einem landesweit geplanten Vergiftungsangriff zu entgehen, immerhin seien ihr die Zutaten, die zur Herstellung dieser Brotsorte verwendet wurden, bestens bekannt. Sie ließe sich und die Kinder nicht zu Versuchen mit Nahrungsmitteln missbrauchen, die sie krank machen könnten.

Ich hielt es für überflüssig, ihr mitzuteilen, dass dies bei ihrem älteren Sohn bereits der Fall war, allerdings kaum aufgrund einer industriellen Verschwörung. Wenn Wonda sich dann zu einer ihrer seltenen langen Ausführungen über die Verschwörung von Amerika ausließ, trat zutage, wie gut sie sich eigentlich auszudrücken wusste. Es war mir völlig schleierhaft, wie sie diese lächerlich einfache Aufnahmeprüfung am College hatte vergeigen können, wo sie doch ganz offensichtlich über einen höheren Bildungshorizont als der Durchschnittsamerikaner verfügte. Ihre kritische Betrachtung gegenüber dem amerikanischen Wirtschafts- und Staatssystem wirkte keineswegs lächerlich, sondern einleuchtend – aus ihrem Blickwinkel betrachtet. Daher brauchte ich lange, um zu verstehen, wie viel innere Verwirrung sich tatsächlich hinter Wondas Ängsten verbarg.

Das bedeutete, dass Ellroy sich noch etliche weitere Wochen mit Toast vollstopfte und dadurch verstopfte, bis ich endlich die Initiative ergriff und einen Dritten ins Vertrauen zog. Nachdem ich erfahren hatte, dass Jeff nicht nur schwul, sondern wegen seines Geliebten auch noch in Trauer war, war ich ihm, soweit dies möglich war, aus dem Weg gegangen. Zu sehr schämte ich mich dafür, dass ich einfache und ehrliche Nächstenliebe mit Avancen verwechselt hatte.

Für Jeff fiel meine Abwesenheit nicht weiter ins Gewicht. Er arbeitete nur zweimal die Woche in diesem Heim, das auch nur nachts, und im Übrigen gab es hier genügend Frauen, die ihn um Rat und Tat baten. Trotzdem zeigte er sich erfreut, als ich ihn nach langem wieder aufsuchte, um mich mit ihm wegen Ellroys Verstopfung zu beraten. Da er tagsüber weniger mit den Heimbewohnern zu tun hatte, konnte er meine Vermutungen bezüglich Ellroy nicht bestätigen, glaubte mir aber gern, dass Wonda, die er nun schon seit Jahren kannte, möglicherweise in einer massiven psychischen Krise steckte. Er bot mir an, Ellroy zum Arzt zu fahren. Ich musste nur Wonda davon zu überzeugen, einen Arzt aufzusuchen und einen Termin in einer Praxis zu vereinbaren. Jeff würde für den Transport zum Arzt sorgen.

Mit den Tücken des amerikanischen Gesundheitssystems der 1980er Jahre hatte ich natürlich nicht gerechnet. Krankenversicherungen für Sozialhilfeempfängerinnen, also auch für Wonda und ihre Kinder, beschränkten die Arztwahl. Man konnte also nicht einfache irgendeine Praxis aufsuchen, sondern bekam bestimmte Adressen je nach Art des Problems zugewiesen, die man zu kontaktieren hatte. Für Verstopfungen war in unserem Bezirk ein gewisser Dr. Heim Shmirch zuständig. Ich war sehr erleichtert, dass Wonda einem Arztbesuch zugestimmt hatte. Insgeheim hatte ich befürchtet, dass ihre Verschwörungstheorien auch das Gesundheitswesen einschlossen und ein Arztbesuch nicht infrage käme. Die Frage, ob dieser Arzt tatsächlich geeignet und erfahren genug war, um Ellroy zu helfen, schob ich dabei weit von mir. Ich ging davon aus, dass jeder Arzt mit Praxis etwas zum Thema Verstopfung zu sagen hätte. Und wie freuten wir uns, als Dr. Shmirch uns, nach eingehender Untersuchung von Ellroys Hinterteil, ein Rezept aushändigte. Es ist immer wieder trostlos, wenn man stundenlang in einer Praxis ausharrt, sich währenddessen alles Mögliche über den eigenen unbekannten Körper ausmalt, und dann wird man vom Arzt ohne Medizin, ohne irgendein Mittelchen oder eine Therapie wieder heimgeschickt.

Wir jedenfalls bekamen in der Apotheke ein Plastikfläschchen voll mit kleinen Pillchen. Heute weiß ich, es waren Placebo, die mit einem nicht aussprechbaren Namen betitelt waren und kleine Prozentrechnungen aufwiesen, für die man ein mathematisches Studium benötigt hätte. Wonda unterzog das Fläschchen und seinem Inhalt einer genauen Untersuchung, während ich Ellroy tröstend in die Arme schloss und ihn aufzumuntern versuchte mit den Worten, seiner Verstopfung würden wir jetzt aber den Garaus machen. Er hatte mir schon sehr leidgetan, als er bei Dr. Shmirch auf der schäbigen Liege in Embryonalstellung kauern musste, während der Arzt in seinem Innern bohrte. Wonda hatte mit Befriedigung festgestellt, dass der Medizin keine Giftstoffe beigemengt waren und gab somit die Pillen für Ellroy frei. Wir verabreichten ihm gleich auf dem Nachhauseweg eine Dosis und dann noch mal zum Abendessen.

Dass Dr. Shmirch ein Kurpfuscher war und seine Pillen keine Besserung brachten, stellten wir fest, als alle Zuckerkugeln vertilgt und Ellroy eines Nachts mit blauen Sirenen von der Ambulanz ins Krankenhaus gefahren werden musste. Natürlich lag es in der Verantwortung der Mutter, auf die Ernährung ihrer Kinder zu achten. Trotzdem wäre es die Aufgabe von Dr. Shmirch gewesen, Wonda aufzuklären und ihr von Weißbrot strikt abzuraten. Denn auf mich und Jeff hörte sie ja nicht und die mahnenden Worte eines Fachmannes hätten vielleicht den Mutterinstinkt in ihr geweckt. Tatsache war, dass Wonda selbst und ihr zweiter Sohn Franky ebenso manisch am Verzehr von Weizentoastbrot festhielten, selbst dann noch, als Ellroy in der Notaufnahme an den Folgen eines akuten und entzündeten Darmverschlusses verstarb.

So lächerlich ist das Ende manchmal. An den Folgen einer Darmverstopfung. Ich hatte Wonda wirklich als Freundin schätzen gelernt. Aber diese Fahrlässigkeit ihrem Sohn gegenüber, dieses Beharren auf ihren Überzeugungen konnte ich ihr einfach nicht verzeihen. Vielleicht bin ich nicht leidenschaftlich genug. Vielleicht war ich einfach zu pragmatisch veranlagt.

Die Nacht, in der Ellroy starb, verlief beinahe so schlimm, wie die Nacht, in der ich das Haus von Gail in Brand gesetzt hatte. Es war Jeff und nicht Wonda, der zu mir kam und mir gegen zwei Uhr morgens mitteilte, man habe Ellroy ins Krankenhaus gebracht. Zwar war die Ambulanz bis in den Hof des Heims gefahren. Doch da die Ambulanzen in Amerika, anders als in Deutschland, die eine minutenlange Terrormusik mit ihren Sirenen veranstalten, nur kurz aufwiehern, bevor sie am Tatort Halt machen, hatte ich das Eintreffen der Ambulanz verschlafen. Wonda war gleich mitgefahren und wartete im Krankenhaus. Jeff meinte, er könne mich höchstens nach Beendigung der Schicht ins Krankenhaus bringen, da er seinen Posten nachts nicht verlassen dürfe. Wir vereinbarten, gemeinsam früh morgens um sieben Uhr in die Klinik zu fahren. Ich sah kurz nach Franky, der ganz allein in dem düsteren Zimmer von Wonda in seinem Bett schlief und nur kurz traumverloren seine großen dunklen Augen öffnete, als ich zur Tür hereingeschlichen kam. Ich hielt Schlaf für den besten Trost für Franky und bedeutete ihm, weiter zu schlafen.

Wir mussten gute drei Stunden warten, bis wir Näheres über den Patienten Ellroy Wayward erfuhren. Dies lag nicht nur an dem Massenabfertigungsbetrieb des öffentlichen Krankenhauses, sondern auch an dem Umstand, dass Ellroy in Wirklichkeit einen anderen Familiennamen hatte. Nicht einmal Jeff wusste, dass Wonda sich und ihre Kinder im Heim unter einem Decknamen eingetragen hatte, um nicht wieder in die Fänge ihres kriminellen Ehemannes zu geraten. Jeff war einigermaßen ungehalten über diese Entdeckung, da er ja die ganze Nacht nicht geschlafen hatte und sich in dem überfüllten muffigen Warteraum noch nicht einmal bequem hinsetzen konnte.

Als sich ein Arzt endlich um uns bemühte, brachten wir lediglich in Erfahrung, dass Ellroy um 05: 02 Uhr verstorben war, dass zwar eine Notoperation eingeleitet worden, jedoch jede Hilfe zu spät gekommen sei. Man sagte uns, dass es kriminalärztliche Untersuchungen geben würde, um festzustellen, ob im Fall Ellroy Smith jr. fahrlässiges Verhalten seitens Erziehungsberechtigter oder Ärzten vorläge. Auf unsere Frage, wo denn die Mutter des Verstorbenen sei, ernteten wir nur Achselzucken. Man habe sie seit Stunden nicht mehr gesehen. Im Krankenhaus sei zu viel Betrieb, man könne nicht jeden Einzelnen im Auge behalten. Jeff und ich vermuteten, dass sie mit den Öffentlichen ins Heim zurückgekehrt war – wobei ich mich fragte, ob der unzuverlässige Stadtbus auch nachts verkehrte.

Sie war nicht im Heim. Nicht an diesem Tag, auch nicht am nächsten. Die Polizei fand Wonda Wayward, alias Amber Smith, im Morgengrauen des dritten Tages an einem Kirchengemäuer hinter einem alten Grabstein kauernd und wies sie in das örtliche Nervensanatorium ein.

Die erste Reaktion der Leitung des Obdachlosenheimes war, Franky in ein Kinderheim einweisen zu lassen. Sie ging davon aus, dass Wonda nicht mehr ins Heim zurückkehren würde, und Franky durfte als Minderjähriger nicht allein in einem Zimmer bleiben. Ich war so geschockt und betroffen vom Tod seines Bruders, dass ich nicht zusehen konnte, wie der Junge einfach so in ein Kinderheim abgeschoben wurde. Selbstlosigkeit in einem Obdachlosenheim ist keine Selbstverständlichkeit. Die Vergangenheit der Bewohner in diesem Heim war fast ausschließlich von Tragödien durchzogen, und da die Welt außerhalb dieser Mauern keine Perspektiven für die Gestrandeten zu bieten schien, entwickelten die meisten wenig Empathie für das Schicksal der anderen „Verlierer“. Trotzdem schaffte ich es, einige Bewohnerinnen dafür zu gewinnen, sich gemeinsam mit Jeff als Sprachrohr für eine Aufschiebung von Frankys Umzug in das Kinderheim einzusetzen.

Selbstverständlich wurde unserem Drängen, den Jungen erst einmal hier zu behalten, nur unter der Bedingung nachgegeben, dass wir ihn lückenlos betreuen und uns mit seinem Vater in Verbindung setzen, damit geklärt werden konnte, ob er das Kind bei sich unterbringen würde.

Für die anderen Frauen war klar, dass die „Weiße“, die so viel Wind um das Kind einer „Drogenabhängigen“ gemacht hatte, das Kind auch aufnehmen sollte. Abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht verstand, wie das Gerücht, Wonda sei drogenabhängig, in die Welt gekommen war, nahm ich diese Auflage erst einmal selbstverständlich an, obwohl ich eigentlich kein Muttertyp bin, und Franky mir fast ebenso unangenehm war wie ich wohl ihm.

Ich nahm es daher auch kommentarlos hin, dass sich Franky mit seinem spärlichen Gepäck unter dem Arm wortlos von mir ins Zimmer führen ließ und sich anschließend für den Rest des Tages in eines der zahlreichen leeren Betten in meinem Schlauchraum verkroch. Baby-Gail und ich beanspruchten nur das linke untere Stockbett. Also hatte sich Franky möglichst weit im Dunkeln in das obere rechte Stockbett zurückgezogen. Dort lag er stundenlang apathisch da und kaute wie einst seine Mama nervös an den Fingern herum. Ich spürte vom ersten Moment unseres kurzen Zusammenwohnens, dass ich mit der Aufgabe überfordert war, diesen verwirrten kleinen Menschen irgendwie aufzurichten und zu betreuen, bis sein Vater kam oder sich eine bessere Lösung auftat, als mit mir zu leben.

Es kostete mich ungeheure Mühe, ruhig zu bleiben, wenn ich versuchte, ihn aus dem Zimmer zu locken, gleich ob zum Essen oder zum Spielen. Da ich Franky nicht allein lassen wollte, verdonnerte er uns beide zu Stubenhockern. Zu den Mahlzeiten, die wie schon erwähnt Pflicht waren, schlich ich mich aus dem Zimmer, während Franky mit baumelnden Beinen am Rande seines Stockbettes lümmelte und auf seine Hände starrte. Heimlich schleuste ich Essen für ihn in das Zimmer, was aus verständlichen Gründen strengstens verboten war; jeder Krümel Essbares, der zu Boden fiel, generierte eine neue Generation von Kakerlaken. Das Risiko, die Küchenschaben bei ihrer Vermehrung zu unterstützen, nahm ich gerne in Kauf, denn ich stellte mit Genugtuung fest, dass Franky außer weißem Weizentoast sehr wohl auch andere Lebensmittel aß, wenn man sie ihm anbot, und das beruhigte mich sehr. Insgeheim nagte nämlich auch die Angst in mir, dass er der nächste sein könnte, der einen tödlichen Darmverschluss erlitt – und das obendrein noch in meinem Zimmer. Ich verfolgte daher argwöhnisch seine Toilettengänge, ertappte mich sogar dabei, dass ich nach Resten von Fäkalien Ausschau hielt, wann immer Franky auf dem Klo war.

Schon nach wenigen Tagen war ich mit meinen Nerven am Ende und ärgerte mich über Oray und Louise, die doch ebenso wie ich darauf gepocht hatten, dass Franky nicht „abgeschoben“ werden sollte, und die jetzt keine Anstalten machten, mir unter die Arme zu greifen. Aber ich hätte schon vorher wissen müssen, dass die beiden Frauen ihr Äußerstes gegeben hatten, als sie bei meiner Petition mitgemacht hatten. Sie hatten sich für eine weiße Ausländerin weiter aus dem Fenster gelehnt, als die anderen siebzig Einwohner es je tun würden. Ich spürte allerdings, dass Franky, neben einer Betreuungsperson auch ganz dringend Freunde brauchte. Daher musste ich mich also doch wieder an Oray und Louise wenden, die immerhin Söhne in seinem Alter hatten, während meine Baby-Gail Franky allenfalls vom Schlaf abhalten konnte.

Zunächst stieß ich erst einmal auf eine fast schon reflexhafte Ablehnung der zwei schwarzen Frauen.

Weil ich aber nicht locker ließ und bei jeder Gelegenheit Franky zum Thema machte, schlug Oray dann doch vor, ihn auf einen der Ausflüge von Pfarrer Webber mitzuschicken. Auf diese Weise meinte Oray, würde er ja auch mit anderen Kindern zusammenkommen. Ich willigte sofort recht egoistisch ein; ein paar Stunden ohne den Fingernägelkauenden, wortkargen und introvertierten Franky hatte ich dringend nötig.

Frau in der Fremde

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