Читать книгу Frau in der Fremde - Filiz E. Krause - Страница 9
Оглавление2. Keine Frage des Glaubens
Am nächsten Morgen wurde ich gebeten, mich beim ‚Hauspfarrer’ zu melden. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass es so etwas gab: einen Hauspfarrer. Tatsächlich aber befanden sich im südlichen Teil des kasernenartig angelegten Obdachlosenheims eine kleine Kapelle und ein Büro für einen gewissen Pfarrer Roland Webber. Er ließ mich eine halbe Stunde vor seinem Büro warten, ehe er endlich erschien und mich hereinbat. ich war schon drauf und dran gewesen zu gehen; schließlich hatte ich mit Religion gar nichts am Hut. Doch der Besuch beim Pfarrer gehörte zu den Auflagen für ein Dach über dem Kopf, daher versuchte ich die Sache schnell hinter mich zu bringen.
Der Hauspfarrer war ein großer Mann Ende dreißig oder Anfang vierzig. Das Alter der Amerikaner war für mich manchmal schwer zu schätzen. Sie tranken keinen Kaffee und rauchten keine Zigaretten, und so marschierte das Leben an ihnen vorüber, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Der vielleicht nachhaltigste Eindruck in ihren Gesichtern war oft eine Art Verdutztheit, die Frage, worum das Leben sich denn nun eigentlich drehte oder ob es völlig bar von Sinn und Zweck war. Webber jedenfalls war hochgewachsen und merkwürdig junggeblieben, er schaute mich unter wildwuchernden schiefergrauen Augenbrauen aus verschlagenen grünen Augen an und hatte die Angewohnheit, seine Sätze mit zahlreichen Einwürfen zu stützen, so als ob er sich nicht vorbereitet hätte oder das Thema ein äußerst delikates Unterfangen darstellte. Während er sich also umständlich zu dem Punkt hinquälte, den er mir begreiflich zu machen suchte, tastete er zusätzlich die Luft mit langen Fingern ab. Vielleicht verbarg sich in seinem Büro mehr, als für mich sichtbar war. Jedenfalls hatte ich nach Abschluss unserer Unterredung eine Angst entwickelt, die meiner Person bislang nicht eigen war. Webber war sehr ungehalten darüber, dass ich einen Besuch in seiner kleinen Kapelle rundheraus ablehnte, und auch darüber, dass ich mich offen zum Agnostizismus bekannte, auch wenn ich damals das Wort noch nicht kannte. Er hatte sich doch solche Mühe gegeben, mir die schwierige Frage des Glaubens zu vermitteln. Immer wieder betonte er, dass mir die Teilnahme am sonntäglich abgehaltenen Gottesdienst absolut frei stünde. Was solle er auch mit Gästen im Gotteshaus, die unter Zwang seinen wegweisenden Worten lauschten. Zusätzlich dürfe ich, auch wenn ich nicht dem Gottesdienst beiwohne, an den wöchentlich organisierten Aktivitäten teilnehmen, als da wären: Ausflüge ins Blaue, Picknick am Strand, Besuch des Schwimmbads, gelegentliche Kulturfahrten, um nur einige zu nennen. Ich lehnte auch diese Angebote freundlich, aber bestimmt, ab. Die Vorstellung, mit diesem langgliedrigen Pfarrer und seinen verschlagenen Augen baden zu gehen, wollte mir in keiner noch so malerischen Umgebung gefallen. Abschließend saßen wir uns noch einige Minuten schweigend gegenüber. Eine Stille, in der mir der Pfarrer mit vielsagenden Blicken zu verstehen gab, dass er ein derart uneinsichtiges und undankbares obdachloses Subjekt wie mich noch nicht zu Gesicht bekommen habe. Weiter, dass er es mir möglicherweise verziehen hätte, dass ich deutsch bin, aber eben nicht diese unbegründete Ablehnung des Glaubens – gerade in Zeiten, wie ich sie nun durchlebte. Eine Abfolge stützender Einwürfe, sein „well well, you know“, rettete uns aus den Vorwürfen seinerseits und der trotzigen Haltung meinerseits. Er bedankte sich für mein Kommen und schickte mich meiner Wege, zweifellos überzeugt, dass diese sich unter der Last meiner Ungläubigkeit gefährlich krümmen würden.
Ich war froh. Der Pflichtbesuch war abgehakt. Das Dach über dem Kopf gesichert. Und doch drohte mir das Heim, das ich bisher nur als unsauber und schäbig empfunden hatte, auch unheimlich zu werden. Ich flüchtete in mein Zimmer zurück.
In den nächsten zwei Tagen fiel ich in jene Depression zurück, die seit meiner Ankunft von mir Besitz ergriffen hatte und mich in meinem ganzen Tun und Denken lähmte. Ich schaffte es kaum, meine kleine Tochter zu versorgen, sie zu pflegen, geschweige denn für sie da zu sein. Da das Heim eine Reihe von verpflichtenden Regeln für seine Obdachlosen vorsah, darunter die Einhaltung von Essenszeiten, zu welchen ich nicht erschien, oder die Übernahme von täglichen Aufgaben zur Erhaltung der häuslichen Reinlichkeit, die ich nicht ausführte, hatte ich nach 48 Stunden bereits mehrere Verweise gesammelt. Die Leitung des Heimes war kurz davor, mich in hohem Bogen wieder auf die Straße zu setzen. Ich wusste, dass ich diese Lähmung, die von mir Besitz ergriffen hatte, abschütteln musste; dass ich mich und das Kind nicht einfach so gehen lassen konnte. Dennoch lag ich regungslos den ganzen Tag auf meinem Bett, unfähig, mich selbst vor einem vielleicht noch schlimmeren Schicksal zu bewahren. An meinem kleinen Fenster am anderen Ende des langen schmalen Zimmers zogen Tag und Nacht vorbei, ohne dass ich davon Kenntnis nahm, und die Kakerlaken regierten ungeniert in meinem bescheidenen Heim.
Dass mein Leben an dieser Stelle keine noch schlimmere Wendung nahm, verdanke ich Jeff, der in seiner Nachtschicht meine Ausweisung auf dem Schreibtisch vor sich liegen sah und beschloss, mich nicht einfach hinauswerfen zu lassen.
Als er bei mir anklopfte, war ich überzeugt, dass Pfarrer Webber Eintritt einforderte, um mich aus seinem Obdachlosenheim hinauszukomplimentieren. Ich war durch den Mangel an Schlaf, Essen und Körperpflege ziemlich wirr im Kopf und bildete mir alles Mögliche ein. Da Jeff auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, ließ er sich selbst durch die Tür hinein. Ich erschrak heftig und wurde mir plötzlich meiner eigenen Wirrheit bewusst. Dass ich wahrscheinlich schrecklich ungepflegt und irre aussah, war mir sehr peinlich und ich wandte mich von Jeff ab, der sich zu mir in das untere Stockbett gesetzt hatte, wo wir beide, groß wie wir waren, nicht so recht hinpassten. So verharrten wir zunächst einige Momente lang, Jeff und ich, in halb liegender Stellung, unangenehm geduckt durch das obere Bettgestell, das ich so wenig benötigte wie das zweite Stockbett auf der gegenüberliegenden Seite.
‚Ich weiß, wie du dich fühlst’.
Es war eine Anmaßung, zu wissen wie sich ein anderer fühlte. Dennoch rührte die Stimme an meinem versteinerten Selbst. Ich hoffte, er würde nicht weitersprechen, sonst würde ich anfangen zu weinen, sicherlich nicht wegen dem, was er sagte, sondern, weil seine Stimme so nah an meinem Ohr war und mich daran erinnerte, dass es da noch andere Männer gab außer Erin.
„Es liegt ganz bei dir, Roda. Du kannst dich hier rausschmeißen lassen und dann weiter abdriften, nach unten, verstehst du.“ Jeff machte eine Pause. Sein Atem trug das schwache Nachtlüftchen zu mir und ich, die seit mehr als drei Tagen nichts mehr gegessen hatte, roch Vanille und Milch. Mein Leben brach aus seiner Verkrustung. Er berührte leicht meinen Arm.
„Oder du reißt dich zusammen und ich helfe dir wieder nach oben. Was du erlebt hast, das kommt hier beinahe täglich vor. Das ist nicht Besonderes. Nichts, warum man sich oder sein Kind vernachlässigen müsste. Hörst du mich?“ Ich nickte leicht, ließ ihn weiterreden.
„Vielleicht ist das bei euch in Deutschland anders, aber hier in Amerika passieren diese Dinge. Du verliebst dich und es geht schief, total schief. So schief, dass ein Unglück passiert. Na und? Es ist niemand verletzt worden. Du hast deinem Alten eine Bude aus Militärnachlässen abgefackelt und wirst sicher den Schaden, denn Du angerichtet hast, bezahlen müssen, aber sonst ist nichts passiert. Du musst weiter machen. Wenn es mit diesem Mann nicht geht, dann mit dem nächsten. Du bist doch nicht von vorgestern. Oder kommst du nicht über ihn hinweg? “
Ich schüttelte den Kopf leicht, ohne zu wissen, ob ich nun über Erin hinweg war oder nicht. Ich bemerkte, dass ich eigentlich überhaupt nicht wusste, woher meine Depression herrührte. Ich fühlte mich einfach zum Stillstand gezwungen.
„Siehst du? Mein Gott! Schau dich doch an. Du bist noch so jung. Du nimmst keine Drogen und machst auch sonst keinen Scheiß, oder doch?“
Wir lachten beide ein bisschen. Ich hatte meine aufkommenden Tränen erfolgreich zurückgedrängt und konnte mich nun zu Jeff umdrehen. Das Baby atmete erleichtert im Schlaf auf.
„Also dann! Das ist mehr als die meisten hier von sich behaupten können. Weit mehr. Du bist dir über deine Chancen gar nicht im Klaren. Sieh doch mal, die meisten Leute, die hier wohnen, sind arme verkommene Junkies mit einer Handvoll unehelicher Kinder, die bereits ebenfalls drogenabhängig sind. Wenn sie dann noch schwarze Hautfarbe haben, ist hier Endstation. Sie kommen immer wieder zurück in dieses Obdachlosenheim, weil sie draußen im wirklichen Leben unfähig sind, sich über Wasser zu halten. Aber du, du kannst weg, wenn du willst. Du hast noch alles vor dir. Also hör auf dich zu bemitleiden und komm in die Gänge. Ich helfe dir.“
Ich musste lachen. Es war ein triumphierendes Lachen. Ich hatte zum ersten Mal wieder das Gefühl, eine Chance zu haben, eine zu sein, die es schaffen konnte, obwohl Jeff nur von meinem eigenen, kleinen und ganz gewöhnlichen Leben sprach – das ich nicht verachten durfte.
Baby-Gail und ich verbrachten die halbe Nacht in dem kleinen Pförtnerbüro. Jeff machte uns Kaffee und Sandwiches und wir schauten gemeinsam fern, bis mich endlich die Müdigkeit übermannte und ich mich von ihm verabschieden musste. Jeff versicherte mir noch einmal seine Unterstützung für die Aufgaben, die mich erwarteten. Dann entließ er mich in einen neuen Lebensabschnitt.
Nachts träumte ich davon, dass Jeff und ich uns liebten und heirateten. Es war ein guter Start, am nächsten Morgen mit diesen Bildern aufzustehen.