Читать книгу Frau in der Fremde - Filiz E. Krause - Страница 14
Оглавление7. Lausige Versprechen
Da Wonda mir und Jeff gegenüber oft genug erwähnt hatte, was für ein kriminelles Kaliber der Vater ihrer Kinder war, kamen wir beide überein, vorerst einmal nicht nach ihm zu suchen. Wir wollten lieber erst einmal abwarten, wie es um Wonda stand, die mittlerweile in Untersuchungshaft überführt worden war. Die Einrichtungen in Tampa waren hoffnungslos überfüllt. Auch wenn Wonda von den ebenso überlasteten Gerichten wegen Totschlags für schuldig befunden oder für nicht zurechnungsfähig erklärt würde, war es gut möglich, dass man sie nur in eine Art offenen Vollzug oder gar gleich auf die Straße schickte. So stand es um die Betreuung der Ärmsten der Armen in Amerika, erklärte mir Jeff.
Er organisierte daher einen Besuchstermin in dem Untersuchungsgefängnis, in dem Wonda bis zum Abschluss der Verhandlungen untergebracht war. Da weder Jeff noch ich Angehörige waren, lehnten die Behörden unseren Antrag ab. Erst als Jeff sich als Leitung des Heimes ausgab, erhielten wir doch einen Besuchstermin.
Wir waren so beschäftigt mit dem Schicksal von Wonda gewesen, dass wir eine andere Angelegenheit völlig aus den Augen verloren hatten. Ellroy lag zwei Wochen nach seinem Ableben immer noch im Eisschrank der Klinik. Aufgrund der gerichtsmedizinischen Obduktion, die Verschiedenes zutage gefördert hatte, war seine Beerdigung zum Regeltermin nicht möglich gewesen. Nun aber stand der Obduktionsbefund fest und alle weiteren Nachforschungen konnten ohne den Leichnam durchgeführt werden. Daher war Ellroy plötzlich für seinen Gang zur letzten Ruhe freigegeben worden. Die tatsächliche Heimleitung, eine Mrs. Karhurst, musste nun doch den Vater des toten Jungen ausfindig machen, was mir und Jeff sehr ungelegen kam, da wir ja warten wollten, ob Wonda nicht doch wieder die Fürsorge für ihren verbliebenen Sohn übernehmen könnte, wenn man sie entließ. Wir beide hofften also, dass der Mann entweder von Mrs. Karhurst nicht gefunden oder wenn doch, er zu wenig Interesse an seinen Söhnen haben würde, um sich im Heim blicken zu lassen.
Wir hatten uns jedoch in Ellroy Smith senior getäuscht. Keine zwei Tage später tauchte er im Heim auf. Ein bildschöner hellhäutiger Afroamerikaner, hochgewachsen und schlank, mit feuchtem Glanz in den Augen, die ihnen Wärme verliehen -optisch eine makellose Erscheinung. Ich begriff zum ersten Mal, was Wonda jahrelang an diesen Gauner gefesselt hatte und warum sie sich geradezu vor ihm verstecken musste, um nicht von selbst wieder zurück in die Arme dieses schwarzen Dandys zu laufen.
Der Besuch bei Wonda wurde nun aus zwei Gründen immer dringlicher. Erstens war der Vater aufgespürt und zweitens warf das Protokoll des Untersuchungsbefundes mehrere Fragen auf, die Wonda in einem Verhör des Jugendamtes zu beantworten hatte. Ich hielt es für meine Pflicht, sie als Freundin darauf vorzubereiten. Ich war plötzlich vollauf mit dem Leben von Wonda Wayward und meiner neuen Rolle als Amateurdetektivin beschäftigt und versuchte, Informationen von A nach B zu tragen. Mein eigenes Leben hatte ich ganz in den Hintergrund meines Bewusstseins verbannt und dabei sogar einen Anruf von Abigail verpasst, die sich nach ihrer Enkeltochter erkundigt hatte.
Auf dem Weg zum Untersuchungsgefängnis hatte Jeffs Auto eine Panne. Im Schutz einer riesigen Palme warteten wir eine Stunde auf den Reparaturdienst. Das Schweigen zwischen uns beiden, die nur noch die gemeinsame Freundschaft zu Wonda zu verbinden schien, war erdrückender als die brennende Mittagssonne am Straßenrand von nirgendwo. Da fing ich einfach an, über Jeffs Freund zu sprechen. Mein Mund öffnete sich tatsächlich schneller, als ich denken konnte.
„Wie geht es Harry, Jeff?“
Jeff sah mich zunächst nur erschrocken an, mit einem leichten Anflug von Ärger im Gesicht. Dann schien er für sich selbst zu beschließen, dass es in Ordnung war, wenn ich über seinen Freund und seine Homosexualität Bescheid wüsste. „Es geht ihm schlecht“, antwortete er ruhig.
„Hey, das tut mir leid.“ Mit diesen Worten entschuldigte ich mich für die gemeinen Dinge, die ich über Jeff gedacht hatte. Für den anderen, seinen Freund, empfand ich kein Mitleid. Er war ein Unbekannter und irgendwie immer noch mein Rivale.
„Wir wünschten beide, es wäre vorbei“.
„So etwas darfst du nicht sagen, Jeff. Jeder Tag mit einem geliebten Menschen ist ein Geschenk.“ Die Worte klangen sogar in meinen Ohren hohl und verlogen. Ich sprach über einen Menschen, geliebt ja, aber in Blut und Windeln, der Jeff nicht mehr erkannte – für den er schon längst vergessen war.
„Sei froh, dass du so was nicht mitmachen musst, Roda. Das ist weiß Gott nicht einfach. Alles andere, nur nicht einfach.“
Die Sonne föhnte wie ein Strahlenstaubsauger über das Land und saugte die Feuchtigkeit aus allen Lebewesen. Mit fest zusammengekniffenen Augen scannte ich die Landschaft um mich herum, die aus einem unkenden Dschungel bestand, der durch eine Autobahn mit laut dahinröhrenden Fahrzeugen scharf zerrissen wurde. Ich konzentrierte mich darauf, meine Klappe zu halten, nicht noch mehr Blödsinn, noch mehr Verletzendes zu äußern. Dabei stellte ich wieder fest, wie sehr ich dieses komische, dieses tragische, dieses total verkehrte Land liebte. Auch jetzt noch, in diesem Moment.
Ich leckte meine aufgerissenen Lippen und stellte mir diesen unbekannten Harry vor, der irgendwo auf Davis Island in einem Krankenhaus vor sich hin verrottete, reduziert zu einem mutierten Scheintoten, eine Kralle am fleischigen Arm von Jeff, der vor Lebenskraft nur so strotzte. Ist das mein Amerika? Für einen Moment bildete ich mir ein, dass es so was in Deutschland nicht gäbe, aber nur für einen Augenblick.
Ich muss ziemlich jämmerlich ausgesehen haben, denn plötzlich nahm mich Jeff in den Arm, er, der das Umarmen gar nicht so mochte, geschweige denn das Küssen, und tröstete mich. „Mach dir nicht so viele Gedanken, Roda. Jeder hat seine Zeit. Wichtig ist, dass man keinen Tag ungelebt vergehen lässt und dankbar dafür ist. Dann hat man nichts versäumt und muss den Abschied nicht bereuen.“ Und da fing ich tatsächlich zu weinen an, beinahe verpflichtend, denn ich bildete mir ein, nicht ich, sondern Jeff selbst hätte diesen Trost verdient. Der Reparaturdienst erlöste uns beide von diesem peinlichen Moment.
Ein ewiges Warten. Es war immer das gleiche in diesen öffentlichen Anstalten. Wenn man nicht gerade der Präsident oder der Papst ist, muss man sich in Geduld üben. Ich dachte an Baby-Gail, die bei Oray mit den schönen, schlagkräftigen Händen weilte und hoffte, dass die Kleine ihre Babywutausbrüche nicht ausgerechnet bei ihr bekam. Es war überhaupt ein Glück gewesen, dass Oray sich zum Babysitten angeboten hatte. Sie hatte mir zwar einmal gestanden, dass sie kleine Mädchen besonders gerne mochte. Trotzdem saß ich wie auf Kohlen auf meinem orangefarbenen Plastikstuhl, weil ich mir die schlimmsten Kindesmisshandlungen ausmalte. Auch Jeff, der gewöhnlich die Ruhe selbst war, tigerte nach Stunden einigermaßen beunruhigt auf und ab.
Viel später also führten sie dann eine Wonda herein, die struppig und traumatisiert aussah, so als hätte man sie nach Jahren aus einer Versenkung hervorgezogen und als wäre unbemerkt ein halbes Jahrhundert Zivilisierung an ihr vorbeigerauscht. Erleichtert stellten wir fest, dass sie uns sofort erkannte. Sie torkelte mit einem schiefen Lächeln auf uns zu und flüsterte heiser unsere Namen. Ich umarmte sie und führte sie wie eine alte Oma beruhigend am Oberarm tätschelnd an einen Tisch. Jeff folgte uns ein wenig betreten.
Fragen zu ihrem Befinden beantwortete Wonda alle mit einem lahm klingenden ‚gut’, genau der Art von ‚gut’, die man immer dann sagt, wenn man sich alles andere als gut fühlte. Wir versuchten dieses nagende Gefühl der Hilflosigkeit loszuwerden, indem wir versprachen, ihr alles zu bringen, was sie sich wünsche. Dieses Versprechen schien eine Unmöglichkeit, wenn man den behördlichen Aufwand bedachte, der hier für jede Handbewegung betrieben wurde. Glücklicherweise machte Wonda keinen Gebrauch von unserem Angebot.
Dann erzählte sie aus freien Stücken von ihrem Grabsteinerlebnis und lieferte gleich das Motiv für ihr spurloses Verschwinden. ‚Er’ habe sie zu sich bestellt, und zwar an eben jenen Ort, an dem sie die Polizei aufgelesen hatte. Da sie die Stelle nicht genau gekannt habe, zu der sie hinbestellt worden sei, habe sie sich verirrt. ‚Er’ habe ihr versprochen, noch ein letztes Mal mit Ellroy reden zu dürfen, da der Junge sie ohne Abschied verlassen hatte. Dann sei aber die Polizei gekommen und habe die Unterhaltung mit Ellroy gestört. Wonda schielte glücklich, wann immer sie von ‚ihm’ sprach. Jeff und ich wollten gleichzeitig wissen, wer ‚Er’ sei. Für Wonda eine überflüssige Frage. ‚Er’ sei niemand anderer als Gott selbst, das sollten wir eigentlich wissen.
Ich wollte, dass Wonda sich auf das Gespräch für das Jugendamt vorbereitete und auch wieder an ihrer geistigen Zurechnungsfähigkeit arbeitete. Auch wenn sie mit ihren schielenden Augen, den hängenden Wangen und dem struppigen Wollknäuel auf dem Kopf, auf dem etliche Staubfusel klebten, aussah wie der Dorftrottel persönlich, so war ich doch fest von Wondas geistiger Gesundheit überzeugt. In meinen Augen hatte sie sich nur in diese Verwirrtheit geflüchtet, weil sie mit den realen Ereignissen überfordert war. Wenn man sie stützte und die Idiotin, die sie einem vorspielte, nicht duldete, hoffte ich, würde sie wieder zu uns, in die Realität zurückkehren.
„Wonda! Du darfst jetzt nicht nur an dich denken. Franky ist da draußen und sein Vater wird ihn zu sich nehmen, wenn du nicht bereit bist, hier herauszufinden.“ Ich fixierte sie mit den Augen. Wonda schien wieder wacher zu werden. Sie wimmerte den Namen des jüngeren Sohnes und ich nutzte den Augenblick.
„Hör mal, Wonda. Du weißt genau was das für Franky bedeutet. Du hast mir so oft erzählt, warum du vor deinem Mann flüchtest, wegen der Kinder. Damit die nicht so werden wie er. Du kannst doch dieses Ziel nicht einfach so aus den Augen verlieren. Mir ist klar, dass du momentan eine tiefe Wunde in dir trägst, aber du darfst jetzt Franky nicht im Stich lassen. Auch er ist dein Sohn. Du musst zu uns zurück. Ich bitte dich darum. Hörst du?“
Wonda nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Soviel Bedeutung in so wenig Gestik. Jeff verstand.
„Wir tun unser Möglichstes, dich hier rauszuholen, Wonda. Roda passt auf deinen Jungen auf, damit sie ihn nicht ins Kinderheim stecken und ich bearbeite die ganze Zeit unser Heim, damit sie deine Wiederaufnahme befürworten. Aber du musst unbedingt wieder normal wirken. Sonst lassen sie dich hier nie raus – gleich, ob wir uns für dich vierteilen. Das verstehst du doch?“
Wonda starrte Jeff mit offenem Mund an. Ihre fleischigen Lippen waren spröde und aufgerissen.
Jeff war nicht zufrieden mit dem Ergebnis seiner Rede.
„Du musst ganz einfach kooperieren mit dem Personal und vernünftige Dinge sagen. Hörst du, Wonda?“, stand ich ihm bei. „Zum Beispiel, dass du mit dem Jugendamt in Kontakt treten möchtest. Und mit dem Obdachlosenheim. Sie müssen erkennen, dass du dir wieder Gedanken über das machst, was passiert.“
„Du musst dich für die Beerdigung deines Sohnes interessieren“, warf Jeff ein. „Auch wenn es wehtut. Du solltest sogar die Organisation der Beerdigung vorantreiben. Nur so können sie sehen, dass du wieder bei Verstand bist.“
„Aber ich bin doch bei Verstand. Ich bin doch bei Verstand.“ Ihre Augen wurden immer größer. Die nackte Verzweiflung schrie aus ihren schwarzen Pupillen.
„Natürlich bist du das.“ Ich hatte das Gefühl, dass Wonda jeden Moment überschnappen und davonlaufen könnte. Daher nahm ich sie fest in die Arme und zwang sie, mich anzusehen „Aber du musst es auch zeigen. Und es ist doppelt wichtig, dass du diese Prüfung bestehst, weil das Jugendamt auf dich zukommen wird. Die haben wegen… wegen Ellroy noch ein paar Fragen an dich. Ach Wonda, es tut mir alles so leid … Jeff, sag du doch mal.“
„Okay Wonda, lass es dir erklären. Das Jugendamt wird dich bestimmt auf die Ernährung der Kinder ansprechen. Aus den Befunden geht hervor, dass sich Ellroy viel zu einseitig ernährt hat. Auch getrunken hat er zu wenig, meinen die Ärzte. Er hat, soviel ich weiß, an einem so genannten CED, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, gelitten. Er muss schon als Baby Blähungen, einen Reizmagen und Verstopfungen gehabt haben. Sie werden dich fragen, ob du davon wusstest.“
Wonda schrie beinahe. „Aber du weißt doch, dass er nichts anderes als Brot gegessen hat. Er wollte nichts anderes. Nichts. Nur Brot. Er verweigerte alles. Er hatte Angst. Er hatte ganz einfach Angst davor. Er war nicht krank. Er war niemals richtig krank. Die Gesellschaft hat ihn krank gemacht. Sie macht uns alle krank.“ Wonda riss sich abrupt von mir los. Mit beiden Händen griff sie sich barsch in die Haare und zog an ihren verfilzten Zotteln. Wir wagten nicht zu widersprechen. Ich versuchte das Gespräch wieder in normale Bahnen zu lenken.
„Gut, Wonda. Auf jeden Fall hast du hierfür schon eine Erklärung. Aber es gibt da noch eine andere Sache. Im unteren Darmbereich sind bei Ellroy neue Risse und Narben von alten Rissen gefunden worden. Da er zu Krampfadern am Darmausgang neigte, kann es möglich sein, dass sie von einem sehr harten Stuhlgang verursacht wurden. Wenn aber nicht, dann schließen die Ärzte natürlich auch die Möglichkeit nicht aus, dass die Verletzungen durch einen…. gewaltsamen Eingriff entstanden sind.“
„Er hatte doch Angst davor, was anderes zu essen, genau wie ich.“ Wonda murmelte vor sich hin und starrte auf ihre dürren Finger. Ich packte sie erneut am Arm. Sie durfte sich einfach nicht so gehen lassen.
„Wonda! Hör mal, die sprechen von sexuellem Missbrauch. Ich meine: hast du irgendeine Vermutung oder gibt es irgendetwas in Ellroys Vergangenheit, das auf Analsex hindeuten würde?“ Ich sah deutlich, dass Wonda mit meinen Ausführungen nicht zurechtkam. Sie steckte wie eine verkratzte Platte in der ersten Rille, denselben Satz mit dem Brot vor sich herleiernd.
„Mensch Wonda! Begreifst Du nicht?“ Unterbrach sie nun Jeff. „Verführung Minderjähriger ist ein schweres Verbrechen. Wenn auch nur der Verdacht darauf fällt, dass du hier was bei Ellroy übersehen hast oder übersehen wolltest, wird das für dich zur Hölle. Also, im eigenen Interesse: Erinnere dich oder sag was dazu, denn im Jugendamt wirst du genau das mit Sicherheit tun müssen.“
Jeff und ich warteten gespannt auf eine Antwort. Wonda schüttelte den Kopf und sagte in klaren Worten: „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ellroy irgend so etwas passiert sein sollte. Sein Vater ist ein Dealer, ein Schläger, ein Betrüger, ja.
Aber er ist kein Kinderschänder. Das hätte er nie getan.“
Wir versprachen, sie aus dem Untersuchungsgefängnis zu holen und gingen.