Читать книгу Am Abgrund balanciert es sich am besten - Fiona Lucas - Страница 10
7.
ОглавлениеDie kalte Februarluft strich über Annas Gesicht, als sie nach Hause ging. Sie hatte gewusst, dass es ein Fehler war, an diesem Abend rauszugehen, aber sie war trotzdem gegangen, nur um sich zu beweisen, dass sie recht gehabt hatte. Sie fühlte sich nicht munter und voller Energie, wie Gabi ihr versprochen hatte, sondern lustlos und erschöpft.
Sie und Gabi nahmen jetzt seit sechs Wochen an einem Salsakurs teil, allerdings hatte Anna – sehr zu Gabis Verdruss – darauf bestanden, den Dienstagskurs zu nehmen und nicht den am Mittwoch, den Jeremy besuchte. Doch einmal im Monat gab es in der Salsaschule eine »Party«, bei der Teilnehmer beider Kurse Gelegenheit hatten, sich kennenzulernen und das Gelernte in einer lockereren Atmosphäre zu üben.
Die Januarparty hatte Anna abgesagt, aber Gabi hatte darauf bestanden, dass sie zu der im Februar gingen, zumal sie auf den Valentinstag fiel. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass es bestimmte Tage im Jahr gab, mit denen Anna Schwierigkeiten hatte. Sie hatte Gabi versichert, sie sei zu Hause sehr viel besser aufgehoben, abseits all der verliebten Pärchen, und freue sich schon auf die neue Dramaserie, die sie auf ihrer Watchlist hatte, aber Gabi hatte sich nicht erweichen lassen, und so waren sie zusammen zum Civic Centre getrottet.
Gabi hatte sich prächtig amüsiert – es war ihr gelungen, die Aufmerksamkeit von Lee auf sich zu lenken, dem Typen, für den sie seit der letzten Party schwärmte –, aber für Anna war der Abend, nun ja, nicht so gelaufen, wie sie gedacht hatte.
Jeremy war auch dagewesen. Damit hatte sie gerechnet. Er hatte sie aufgefordert. Auch damit hatte sie gerechnet. Er war charmant gewesen und hatte sie mit der Bemerkung zum Lachen gebracht, dass er nun doch lieber beim Salsa bleiben würde, anstatt seine Schwester bei ihrem neuesten Fitnessprojekt, einer Variante von Poledancing, zu begleiten, doch nach dem Ende des Stücks war er nicht bei ihr geblieben, sondern hatte direkt mit einer anderen Frau getanzt. Anna hatte das deutliche Gefühl, dass er nur höflich gewesen war, dass sie für ihn nichts weiter war als eines von vielen Mauerblümchen, denen er etwas Gutes tun wollte. Und das hatte sie aus irgendeinem Grund geärgert.
Aber was hatte sie denn erwartet? Dass jemand wie Jeremy sich sechs Wochen lang nach ihrer strahlenden Lebensfreude und geistreichen Konversation verzehrt hatte? Dass er in der Hoffnung hierhergekommen war, sie wiederzusehen?
Nein, es war gut so. Sie wollte gar nicht, dass er sie wollte. Und sie wollte ihn erst recht nicht, so nett er auch war. Doch als sie zugesehen hatte, wie er auf deutlich fortgeschrittenerem Niveau als sie mit einer Frau mit keckem Pferdeschwanz tanzte, hatte sie gemerkt, wie trotz all ihrer Beteuerungen eine Tür in ihr zugeknallt war, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie offen gewesen war.
Das war der Moment, in dem sie beschlossen hatte, sich von Gabi zu verabschieden und nach Hause zu gehen.
Als Anna ihr Haus betrat, kam es ihr leer vor, obwohl all ihre Sachen immer noch genau da waren, wo sie immer waren. Nichts fehlte. Abgesehen vielleicht von der Karte, die auf ihrem Kaminsims stehen sollte, und den Blumen in der Vase auf dem Esstisch. Im Kühlschrank stand kein Valentinssekt, und in ihrem Bett erwarteten sie kein Lachen und keine Wärme, wenn sie später unter die Decke kroch.
Er fehlte ihr so sehr.
Am meisten fehlte ihr seine Berührung. Nicht nur der Sex – der wäre leicht zu bekommen, wenn sie denn wollte, ein körperliches Bedürfnis, das man stillen konnte wie Hunger oder Durst –, sondern die kleinen Berührungen, die nur durch Vertrautheit und Intimität entstehen. Ihr fehlte jemand, an den sie sich auf dem Sofa kuscheln konnte. Jemand, der ihr morgens einen Abschiedskuss gab. Jemand, an dessen Schulter sie einschlafen konnte, wenn sie nach einer Party von London mit dem Zug zurückfuhr. Alles scheinbar kleine, unbedeutende Dinge. Erst als sie sie verloren hatte, war ihr klargeworden, wie wichtig sie waren.
Anna fühlte sich, als wäre sie eine leere Hülle, als bestünde sie nur aus dieser Sehnsucht nach etwas, das sie nicht haben konnte. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie sich die Schuhe auszog, den Mantel aufhängte und sich einen Kräutertee kochte, den sie eigentlich gar nicht wollte. Doch die Leere pulsierte förmlich in ihr.
Schließlich schaltete sie eine einzelne Lampe im Wohnzimmer ein und setzte sich in die Sofaecke. Alles war so ordentlich, so aufgeräumt. Das war für Anna ganz natürlich; es fiel ihr leicht, die Dinge an ihren Platz zurückzuräumen. Aber als Spencer noch lebte, hatte es hier ganz anders ausgesehen.
Sie beugte sich vor und zog die Zeitung aus dem Fach unter dem Beistelltisch. Sie schlug sie auf, schob die Seiten ein wenig auseinander, zerknüllte einen Teil und ließ ihn zu Boden fallen. So hatte er sie immer zurückgelassen. Damals hatte es sie wahnsinnig gemacht, aber jetzt vermisste sie beinahe seine Socken zwischen den Sofakissen und die Boxershorts, die halb aus dem Wäschekorb heraushingen.
Mit einem Seufzer lehnte sie sich zurück. Würde dieser Schmerz jemals aufhören? Hieß es nicht, dass die Zeit alle Wunden heilte? Dann machte die Zeit ihren Job aber ziemlich schlecht. Reiß dich zusammen, Zeit, und sieh zu, dass du in die Gänge kommst! Schließlich führte sie sie unerbittlich weiter von jenem Augenblick fort, als sie Spencer zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Da schuldete sie ihr doch einen kleinen Gefallen, oder nicht?
Sie zog die Beine unter sich und nahm ihr Handy heraus. Das war keine gute Idee, aber der Abend war mühsam gewesen, da durfte sie sich eine kleine Schwäche gestatten.
Sie rief die Nachrichten auf, klickte Spencers Namen an und scrollte zurück zum 14. Februar vor drei Jahren. Etwas über einen Monat später war er gestorben, aber an dem Valentinstag hatte Spencer ihr eine ganze Reihe lustiger kleiner Nachrichten geschickt, vollgestopft mit Emoticons und schlüpfrigen Andeutungen, wie sie den Abend verbringen sollten, sobald er nach Hause kam.
Lächelnd las Anna sie erneut und schwelgte nicht nur in seinen Worten, sondern auch in den Erinnerungen an den Abend. Erinnerungen, die nur zwei Menschen auf der Welt geteilt hatten, und nun war sie die einzige Hüterin. Es wäre falsch, sie verblassen und sterben zu lassen.
Doch sie erneut zu lesen und sich an alles zu erinnern, war, wie den Schorf von einer Wunde zu kratzen. Es begann mit diesem Reiz, dieser köstlichen Versuchung, wohl wissend, dass man es besser lassen sollte. Und dann kam der Moment, wenn die Selbstbeherrschung zusammenbrach und man dem Drang nachgab. Wonne. Erlösung. Nichts existierte außer diesem Augenblick himmlischen Genusses.
Doch der hielt nicht lange an. Die Wunde war wieder offen, und sie begann zu stechen und zu schwären. Dieser kurze Rausch hatte seinen Preis, und Anna bezahlte ihn mit Zins und Zinseszins. Sie blickte auf den hellen Bildschirm ihres Handys, auf dem Spencers Wesen in Form von lauter Buchstaben und albernen kleinen Smileys verewigt war, und der Schmerz verstärkte sich, bis er fast nicht mehr auszuhalten war.
Doch dann schlich sich ein Gedanke in ihren Kopf, der sie wie ein Magnet in eine Richtung zog, in die sie nicht gehen wollte. Um sich davon abzulenken, klickte sie die Foto-App an, wanderte rückwärts durch die Bilder von ihnen beiden und betrachtete sie so ausgiebig, wie sie es gerne am vergangenen Sonntag bei ihren Schwiegereltern getan hätte (diesmal waren es Fotos von der Highschool gewesen: breites Grinsen, Pokale und zu große Blazer), doch schließlich kam sie bei den ersten an, und so oft sie auch versuchte weiterzuscrollen, es kam nichts mehr.
Und der Zug in diese ungute Richtung, zu diesem schwarzen Loch, war immer noch da, und er lockte und hypnotisierte sie so lange, bis sie wie ferngesteuert ihre Kontakte anklickte und die Favoriten auswählte. Spencers Name stand ganz oben. Sie starrte darauf.
Du hast gesagt, dass du das nicht mehr tust, protestierte die kleine vernünftige Stimme in ihrem Kopf. Du hast dir geschworen, dass der Valentinstag anders wird als Silvester. Doch noch während die Stimme sprach, tippte sie auf den Bildschirm, und das Handy begann, seine Nummer zu wählen. Obwohl ihr Herz bei der Erinnerung daran, was letztes Mal passiert war, wild pochte, hob sie das Handy ans Ohr.
Das Klingeln am anderen Ende hörte auf, und sie hielt gebannt den Atem an. Doch statt Spencers Ansage hörte sie eine Roboterstimme, die sie aufforderte, nach dem Piepton eine Nachricht zu hinterlassen.
Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? War sie letztes Mal so durch den Wind gewesen, dass sie irgendwo draufgedrückt und versehentlich seine Ansage gelöscht hatte? Nein, das konnte nicht sein. So was ging nur bei der eigenen Ansage, nicht bei der eines anderen. Das Ganze ergab keinen Sinn.
Frustriert drückte sie auf »Beenden«. Was war da eben passiert? Hatte sie die falsche Nummer gewählt? Mit angehaltenem Atem starrte sie auf den Bildschirm, dann wählte sie erneut. Diesmal kam keine Nachricht.
Jemand nahm ab.
»Hallo?«
Anna erstarrte.
War er das? Er hatte nur ein Wort gesagt. Sie wusste es nicht! Sie konnte nicht klar denken! Früher hatte sie seine Stimme sofort erkannt, und es traf sie in ihrem Innersten, dass sie diese kostbare Fähigkeit, ohne es zu merken, verloren hatte.
»Spencer?«, krächzte sie. »Bist du das? Bitte sag, dass du es bist.« Sie fing an zu weinen. »Es gibt so viel, was ich dir sagen will …«
Am anderen Ende war nichts als Stille. Keine Stimme, nicht mal ein Atmen – was auf ziemlich morbide Weise auch wieder Sinn ergab –, aber sie spürte, dass da jemand war. Jemand, der ihr zuhörte.
Und so begann sie zu reden. Sie wollte alles loswerden, was sich während der letzten zwei Jahre, zehn Monate und zweiundzwanzig Tag aufgestaut hatte.
»Spencer, ich bin’s …« Ihre Kehle schnürte sich zu, und sie bekam die nächsten Worte nur mit Mühe heraus. »Ich liebe dich, Spencer. Ich weiß, du hast immer über die Vorstellung von Seelenverwandten gelacht, aber du warst meiner. Du bist meiner. Und du fehlst mir so sehr … Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich mich nie wieder normal fühlen. Nein, stimmt nicht, eigentlich kommt es mir immer so vor. Und wie sollte ich mich auch ohne dich je wieder normal fühlen? Ich begreife ohnehin nicht, wie ich ohne dich weiterleben und -atmen kann.«
Plötzlich wallte ein neues Gefühl in ihr auf. »Und ich bin wütend auf dich! Ich bin sauer, weil du mich hier alleingelassen hast, als wäre alles nur ein Streich. Als würdest du hinter der nächsten Ecke hervorspringen und ›Ätschibätsch!‹ rufen. Aber das ist nicht witzig, Spencer! Also lass den Quatsch, hörst du? Weil ich dich zurückhaben will.« Sie schluchzte auf, dann flüsterte sie: »Bitte komm zurück.«
Keine Antwort.
Tränen hatten sich in ihren Wimpern verfangen, und sie wischte sie mit der Hand weg. »Bitte rede mit mir.« Sie wartete. Am anderen Ende herrschte immer noch Stille, aber sie konnte ihn dort spüren. Ganz eindeutig.
»Spencer?«, sagte sie nach einer Weile. Es war, als würde sie sich auf Zehenspitzen jenseits der Grenze des Lebens, der Wirklichkeit bewegen. Vielleicht herrschten dort andere Regeln. Vielleicht war dort manches anders. »Kannst du mich hören? Erinnerst du dich an mich? Ich bin’s, Anna …«
Sie wartete darauf, dass er ihren Namen sagte, so sanft und sexy, wie er es immer getan hatte, wenn sie ihn anrief, als hätte er ein besonderes Lächeln extra für sie. Anna, hatte er gesagt, und in das eine Wort hatte er alles gelegt, was er für sie empfand. Er hätte ihr gar nicht jeden Tag zu sagen brauchen, dass er sie liebte, obwohl er es immer tat. Es hätte genügt, ihren Namen aus seinem Mund zu hören.
Und dann geschah es. Das, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte.
»Anna?«