Читать книгу Am Abgrund balanciert es sich am besten - Fiona Lucas - Страница 15

12.

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»Anna.«

Seine Stimme klang nicht überrascht. Genau genommen klang sie gar nicht irgendwie.

Anstatt sich zu entschuldigen und aufzulegen, wie es jeder vernünftige Mensch getan hätte, fragte sie: »Erinnern Sie sich an mich?«

Es folgte ein Schweigen, das sie nicht deuten konnte, dann antwortete er: »Ja. Ich erinnere mich an Sie.«

Eine schlichte Feststellung. Keine Frotzelei, dass er eine fremde Frau, die mitten in der Nacht bei ihm anrief, wohl kaum vergessen würde. So etwas hätte Spencer gesagt, aber dieser Mann war nicht Spencer. Das durfte sie nicht vergessen.

Ihre Kehle wurde trocken. Wo waren die Worte, wenn man sie brauchte? Sie hatte Tausende davon parat gehabt, aber jetzt waren sie anscheinend alle davongerannt und hatten sich versteckt.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie noch mal anrufen würden«, sagte er.

»Wirklich? Haben Sie damit gerechnet?« Bis zu diesem Abend war sie nicht mal auf die Idee gekommen. Woher hatte er es gewusst?

»Nein. Nur die Möglichkeit abgewogen.«

Und dann war es wieder still. Schließlich hatte sie ja bei ihm angerufen, um zu reden, aber jetzt fiel ihr absolut nichts ein.

Und offensichtlich hatte er ihr auch nichts zu sagen.

Plötzlich wusste sie, dass sie einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Ihre Worte fielen wie Nägel auf nackten Beton. Das hier war nicht das warme, wohltuende, tröstliche Gespräch, das sie sich ausgemalt hatte. Es war nicht der Ort, wo sie ihre Seele offenbaren und Heilung finden konnte.

Oh, Anna, was hast du getan? Entschuldige dich bei ihm für die Störung und leg auf. Du hast dir wieder etwas zusammengesponnen, das gar nicht existiert.

Diese Erkenntnis war mit einem schrecklichen Gefühl des Verlusts verbunden. Doch eines musste sie noch wissen, bevor sie den Anruf beendete. »Als wir neulich miteinander gesprochen haben … Woher wussten Sie es?«

»Woher wusste ich was?«

»Wie es in mir aussieht.«

Er stieß hörbar die Luft aus. »Ich weiß es einfach.«

Das genügte, nur diese vier Worte. Er hatte genau das gesagt, was sie hören wollte.

Er verstand es. Nicht weil jemand es ihm erzählt hatte, sondern weil er es selbst erlebt hatte.

Anna kämpfte gegen ein Schluchzen an. »D-Danke«, stammelte sie, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

Wieder Stille, aber diesmal war sie warm. Offen. Gab ihr Raum und Erlaubnis. Plötzlich musste Anna so heftig weinen, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Sie verlor jegliches Gefühl für Ort und Zeit.

Schließlich schob sie die Decke beiseite, zog ein Taschentuch aus der Schachtel auf dem Nachttisch und putzte sich geräuschvoll und nicht sehr damenhaft die Nase. »Tut mir leid«, murmelte sie leise und wusste selbst nicht, ob sie damit das Schnauben meinte oder das Weinen als solches.

»Spencer ist also nicht zurückgekommen?«, fragte er.

Anna runzelte verwirrt die Stirn. »Was?«

»Sie waren doch wütend auf ihn, weil er Sie alleingelassen hat.«

Da erinnerte sie sich wieder, wie sie beim letzten Mal wirr drauflosgefaselt hatte. O Gott … Sie hatte sich völlig zum Narren gemacht. Aber er verdiente eine Erklärung. »Ja, das war ich. Aber er kommt nicht zurück. Das weiß ich jetzt.«

Vom anderen Ende kam nur ein kleiner Laut, aber er signalisierte Verständnis. »Und sind Sie ohne ihn besser dran?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem halben Lächeln. Obwohl er sie missverstanden hatte und dachte, Spencer hätte sie aus freien Stücken verlassen, gefiel ihr die Art, wie er den Satz formulierte; er erklärte ihr nicht, dass sie ohne ihn besser dran war, sondern fragte sie nach ihrer Meinung. »Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Definitiv nicht.«

Wieder dieser kleine Laut. Auch das verstand er.

»Wird es immer so wehtun?«, fragte sie.

»Wahrscheinlich.«

Beinahe hätte sie gelacht. Wie erfrischend, mal keine leeren Trostworte oder einen Kalenderspruch zu hören.

»Er ist gestorben«, sagte sie leise, und erst als die Worte heraus waren, wurde ihr bewusst, dass sie bereit war, darüber zu sprechen. »Er war einunddreißig, und er ist gestorben.«

»Trotzdem haben Sie ihn angerufen.« Er klang verwirrt.

»Ja. Dumm, nicht? Mit jemandem reden zu wollen, der einen nicht mehr hören kann, der niemals antworten wird.«

Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Nein.«

Anna schloss die Augen, und wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. »Sie ahnen ja nicht, wie gut es tut, das alles offen sagen zu können und verstanden zu werden.«

»Dann erzählen Sie mir mehr.«

Sie riss die Augen wieder auf. »Oh, ich glaube, das sollte ich lieber nicht … Ich meine, ich habe Ihnen schon genug Zeit gestohlen. Sie haben bestimmt Wichtigeres –«

»Nein«, unterbrach er sie. »Habe ich nicht.«

»Aber warum wollen Sie –«

»Weil ich wünschte, ich hätte so jemanden gehabt.« Er schwieg einen Moment, und es war eine schwere Stille. »Jemanden, den ich nicht kannte. Der mich nicht verurteilte … Ich werde Sie nicht verurteilen, Anna.«

Nein, das würde er nicht. Das wusste sie. Sie hatte es schon gewusst, bevor sie nach dem Handy gegriffen hatte.

Und so erzählte ihm Anna von dem Tag, als Spencer gestorben war, von der Dunkelheit danach. Sie erzählte ihm von dem furchtbaren Tag am Strand mit Spencers Familie. Und er hörte ihr zu. Er sagte nichts, kommentierte nichts, bis sie fertig war. »Tut mir leid«, murmelte sie erneut, als keine Worte mehr kamen.

»Warum entschuldigen Sie sich dauernd?«

»Weil … Weil normale Leute so was nicht machen«, antwortete sie.

»Vielleicht sollten sie.«

»Auch wenn ich Sie nerve?«

»Tun Sie nicht.«

Sie zog die Nase kraus. »Nicht?«

»Wenn, dann hätte ich es Ihnen gesagt und aufgelegt.«

Anna musste lachen. Sie wusste zwar nicht viel über diesen Mann, aber seine direkten, klaren Antworten verrieten ihr, dass er es ernst meinte, und dadurch wurde es irgendwie komisch.

»Jetzt kennen Sie meine Lebensgeschichte«, sagte sie, »und ich weiß gar nichts über Sie.«

»Nein.«

Wieder schmunzelte sie. »Abgesehen davon, dass es Sie nicht aus der Fassung bringt, wenn wildfremde Frauen Sie anrufen und Ihnen ihr Herz ausschütten. Ist das eine Spezialität von Ihnen?«

Sie hörte ein kleines Schnauben, das amüsiert klang. »Ich muss zugeben, Sie sind die Erste.«

Aus irgendeinem Grund wurde ihr bei seinen Worten warm ums Herz. Sie seufzte. »Ich sollte jetzt besser Ihre Leitung freigeben. Vielleicht versucht jemand anders, Sie zu erreichen.« Sie stellte sich vor, wie Freunde oder sogar eine Ehefrau sich ärgerten, weil sie immer nur die automatische Ansage hörten, dass der Anschluss besetzt war.

»Das bezweifle ich«, erwiderte er auf seine direkte Art. »Die Nummer ist neu, und ich habe sie noch niemandem gegeben.«

»Oh.« Anna beugte sich vor, rückte die Kissen hinter ihr zurecht und lehnte sich wieder an. »Aber seit meinem ersten Anruf sind fast vier Monate vergangen. Bin ich die Einzige, mit der Sie in der ganzen Zeit telefoniert haben?«

»Sie sind das einzige menschliche Wesen, mit dem ich seither gesprochen habe.«

»Sprechen Sie auch mit nicht menschlichen Wesen?«, rutschte es ihr heraus. Es war das Albernste, was sie hätte sagen können, aber dass sie ihn überhaupt angerufen hatte, war auch ziemlich albern, also war sie immerhin konsequent.

Und dann begriff sie, was er gerade gesagt hatte: Er hatte seit fast vier Monaten mit niemandem gesprochen. Das war doch nicht normal. Warum nicht? Sie war so auf ihre eigenen Probleme fixiert gewesen, dass sie nicht mal über das nachgedacht hatte, was sie selbst gerade festgestellt hatte – nämlich, dass sie nichts über ihn wusste. Wer weiß, vielleicht saß er im Gefängnis, in Einzelhaft. Das wäre ein ziemlich guter Grund, keinerlei soziale Kontakte zu haben. Vielleicht war er gefährlich oder gestört. Oder beides. Und sie plapperte einfach drauflos und erzählte ihm alles über sich.

Er gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen hätte sein können, wenn es nicht so voller Schwere gewesen wäre. »Ich rede ab und zu mit dem Hund, damit meine Stimmbänder nicht völlig einrosten.«

Stimmbänder. Das war ein gutes Wort. Ein ungebildeter Mann hätte es sicher nicht verwendet. Also war er vielleicht doch kein psychopathischer Axtmörder hinter Gittern. Und er hatte einen Hund. Das sagte doch etwas darüber aus, was er für ein Mensch war, oder?

»Warum sprechen Sie mit niemandem?«

»Mein eigener Entschluss. Ich wohne mitten im Nirgendwo. Da kriege ich nicht viel Besuch.«

Anna runzelte die Stirn. War er doch ein Lügner? »Und trotzdem haben Sie vernünftigen Handyempfang?«

»Ich habe einen Booster, der das Signal verstärkt. Als wir kurz vor Weihnachten einen Sturm hatten und zum vierten Mal innerhalb von vier Monaten das Festnetz ausfiel, habe ich beschlossen, dass ich eine Alternative brauche.«

»Daher also das Handy und die neue Nummer«, sagte Anna mit einem Seufzer. »Ich wette, mit so jemandem wie mir haben Sie nicht gerechnet, als Sie sich das zugelegt haben.«

»Nein.« Noch immer lag keine Gereiztheit oder Ungeduld in seiner Stimme. Noch vor kurzem hätte sie vermutet, dass er tatsächlich ein wenig seltsam sein musste, wenn ihn ihre seltsamen Anrufe nicht störten, doch nun, da sie etwas mehr über ihn wusste, fragte sie sich, ob er vielleicht einsam war. Das würde einiges erklären.

Sie strich gefährlich und psychotisch von ihrer Liste und fügte ein paar neue Eigenschaften hinzu: geduldig, ruhig und … nett. Ja, trotz seiner Direktheit und wortkargen Art war es sehr nett von ihm gewesen, ihr zuzuhören.

Doch dann fiel ihr auf, dass ihr noch eine ganz wesentliche Information über ihn fehlte. »Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.«

»Brody.«

Das passte zu seiner tiefen, ein wenig rauen Stimme. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen, und sah dunkles, mit Grau gesprenkeltes Haar, vielleicht auch einen Bart. Sie hatte das Gefühl, dass er älter war als sie, aber an der Stimme allein war das schwer festzumachen. Er klang müde, als hätte er viel durchgemacht.

»Brody«, wiederholte sie leise. Dann erinnerte sie sich an ihre gute Erziehung und fügte hinzu: »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

Da lachte er, ein richtiges, tiefes Lachen. »Ob Sie’s glauben oder nicht, das geht mir genauso.«

Nun gab es nicht mehr viel zu sagen. Die Bombe in ihr hatte aufgehört zu ticken. Er hatte sie sauber und mühelos entschärft, während sie sich unterhielten, und sie hatte es nicht einmal gemerkt. Es war keine Explosion mehr zu befürchten.

Dann war es das wohl. Es war Zeit aufzulegen. Nur hatte sie keine Ahnung, wie man ein solches Gespräch beendete. »Tja«, begann sie, wurde jedoch im gleichen Moment von lautem Gebell am anderen Ende unterbrochen.

»Moment mal«, brummte Brody, dann hörte sie, wie er das Handy hinlegte, sich entfernte und dann etwas sagte wie: »Ist ja gut! Das ist doch nur eine Eule.« Kurz darauf war er wieder dran, und diesmal klang auch er ein klein wenig aus der Ruhe gebracht, was sie tröstlich fand. »Entschuldigung.«

»Macht nichts«, erwiderte Anna lächelnd. Sie mochte Hunde. Sie und Spencer hatten kurz vor seinem Tod überlegt, sich einen zuzulegen, dann aber beschlossen, noch zu warten, weil Anna die Pille abgesetzt hatte und sie versuchen wollten, ein Kind zu bekommen. Noch etwas, das ihr gestohlen worden war. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. »Wie auch immer, was ich sagen wollte –«

Erneutes Gebell.

»Lewis!«, rief er. »Aus!«

Sein Ton war so bestimmt, dass der Hund sofort verstummte.

»Ihr Hund heißt Lewis?«, fragte Anna heiser.

Sie hörte Bewegung und leises Hecheln, dann sagte er leise »dummes Vieh«, und sie sah förmlich vor sich, wie der Hund vor ihm saß und verzückt zu ihm hochsah, während Brody ihm den Kopf kraulte. »Ja.«

Es war ein Zeichen.

Nicht von ihrem verstorbenen Mann oder irgendetwas Albernes in der Art, aber es war ein Zeichen. Warum sonst sollte dieser Fremde nicht nur die Handynummer ihres Mannes haben, sondern auch noch einen Hund, der denselben Namen trug wie Spencers geliebter Hund aus Kindertagen? Das war eine weitere Verbindung, die sie nicht ignorieren konnte.

»Darf ich Sie wieder anrufen?«, platzte es aus ihr heraus.

Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. »Wenn es Ihnen hilft.«

»Danke«, sagte sie leise.

»Machen Sie’s –«

Sie ging dazwischen, bevor er zu Ende sprechen konnte. »Ist es okay, wenn wir keine Abschiedsformeln verwenden? Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich habe heute genug Abschied gehabt. Können wir irgendwas anderes sagen oder einfach auflegen?«

Offenbar hatte er sich mittlerweile an ihre Absonderlichkeiten gewöhnt, denn er sagte nur: »In Ordnung«, und klang dabei überhaupt nicht irritiert. Gott sei Dank. »Schlafen Sie gut, Anna.«

Sie brauchte ihre ganze Entschlossenheit, um auf den roten Button zu drücken und das Gespräch zu beenden. Ein paar Sekunden sah sie noch auf ihr Handy, dann schaltete sie vollkommen erschöpft das Licht aus. Sie legte sich auf den Rücken, den Blick zur Decke gerichtet, und zum ersten Mal an diesem Tag atmete Anna richtig aus.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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