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6.

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Anna war ein wenig nervös, als sie den Weg zu Gabis Wohnung hinaufging. Auf dem Rückweg von Gayle und Richard hatte sie an einer Tankstelle angehalten und eine Flasche Rotwein und eine XXL-Packung Toblerone gekauft. Sie hielt beides in einer Hand, während sie mit der anderen auf die Klingel drückte.

»Hallo?«

»Ich bin’s«, sagte Anna mit etwas wackeliger Stimme. »Kann ich raufkommen?«

Normalerweise wäre sofort das Summen des Türöffners ertönt, doch jetzt herrschte Stille. Nach einer Weile jedoch summte es, und die Tür gab nach. Anna trat in den Hausflur und erklomm die Treppe zum ersten Stock.

Gabi öffnete, ohne zu lächeln, die Tür und ließ Anna an sich vorbei zum Wohnzimmer gehen. Anna setzte sich auf die Kante des Sofas und blickte sich in dem Raum um, der ihr so vertraut war. Während sie klare Linien und neutrale Farbtöne bevorzugte, war Gabis Einrichtungsstil bunter und eklektischer.

Was Anna am auffälligsten fand, waren die zahllosen gerahmten Fotos, die überall standen, von ihrer Familie in Brasilien. Und es waren nicht nur ihre Eltern und Geschwister zu sehen – zwei Brüder und drei Schwestern –, sondern auch Onkel und Tanten, Nichten und Neffen. Nach dem, was Gabi ihr erzählt hatte, waren sie eine große, eng verbundene Familie, die sich stets in alles einmischte, aber auch immer da war, wenn man sie brauchte. Als Einzelkind hatte Anna sich oft so eine Familie gewünscht.

Sie und Gabi hatten sich mit Anfang zwanzig kennengelernt, als Gabi zum Studium von São Paolo nach London gekommen war, und sie hatten sich sofort gemocht. Doch richtig eng war die Freundschaft erst geworden, als Annas Eltern nach Kanada gegangen waren, weil sie nun beide ihre Familie in weiter Ferne hatten. Gabi war zu der Schwester geworden, die Anna nie gehabt hatte, und deshalb war sie entschlossen, den Schaden, den sie angerichtet hatte, wiedergutzumachen.

Sie stellte die Weinflasche und die Schokolade auf den Beistelltisch. Gabi setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Es tut mir so leid, Gabi. Ich war gestern Abend unausstehlich.«

»Ja, das warst du.«

Anna schluckte. »Bist du gut nach Hause gekommen?«

Gabi sah sie nur mit hochgezogener Augenbraue an.

Anna vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich weiß, ich weiß … Ich habe einfach überhaupt nicht nachgedacht. Ich war einfach …« Sie hob den Kopf. »Du weißt doch, dass ich dich niemals absichtlich verletzen würde, oder? Denn du bist die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann. Du versuchst mir zu helfen, hörst dir meinen ganzen Mist an, und ich behandele dich wie den letzten Dreck. Ich verstehe, wenn du im Moment nicht mit mir reden willst. Ich würde es sogar verstehen, wenn du nie wieder mit mir reden willst!«

Gabis Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher. »Jetzt bist du schon wieder so dramatisch.«

Anna schwieg eine Weile und dachte nach. Im Grunde gab es nur eins, was sie sagen konnte. »Es tut mir wirklich leid. Kannst du mir verzeihen?«

Gabi seufzte. »Vielleicht. Aber es muss sich etwas ändern.« Sie zog ein Bein unter sich und griff nach der Toblerone. »Du musst dich ändern.«

»Mir geht’s gut«, erwiderte Anna reflexartig.

»Nein. Dir geht es nicht gut. Du läufst die meiste Zeit wie ein Zombie herum, und wenn du tatsächlich mal die Welt um dich herum – und die Menschen um dich herum – wahrnimmst, flippst du aus!« Sie schüttelte den Kopf. »So kann das nicht weitergehen, Anna.«

Anna wollte widersprechen, doch die Szene des vergangenen Abends hing wie ein Beweis zwischen ihnen. »Ich weiß nicht, was mich da geritten hat.«

Gabi seufzte erneut, und Anna fiel auf, dass sie das in letzter Zeit oft tat, wenn sie miteinander sprachen. Offenbar war sie zu einer dieser Freundinnen geworden, die anstrengend waren. Vielleicht hatte sie es nur deshalb bisher nicht gemerkt, weil sie, wie Gabi es so anschaulich ausdrückte, ein Zombie war.

Und genauso fühlte es sich auch an: als wäre ein Teil von ihr mit Spencer gestorben und sie liefe seither wie eine Schlafwandlerin durchs Leben.

»Ich verstehe, dass du gute und schlechte Tage hast«, sagte Gabi sanft. »Und dass Weihnachten und Silvester für dich schwierig sind, aber …«

»Ich weiß«, sagte Anna erneut. Was sollte sie sonst sagen? Der letzte Abend war wie ein Spiegel, der ihr vorgehalten wurde; sie konnte den Blick nicht abwenden, und was sie darin sah, gefiel ihr nicht.

Gabi setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Und? Was hast du jetzt vor?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Anna zögernd, und sie wusste es wirklich nicht. Sie hatte alles ausprobiert: Trauerbegleitung, Ratgeberbücher, Selbsthilfegruppen. Doch nichts schien zu helfen. »Ich wünschte, ich hätte eine Idee.«

Gabi saß nur da und lächelte.

»Was ist?«, fragte Anna, und sie fürchtete sich ein wenig vor der Antwort.

»Wie wär’s mit Salsa?«

»Ernsthaft?« Anna hoffte, dass Gabi sie nur aufzog. Doch der entschlossene Blick ihrer Freundin belehrte sie eines Besseren.

»Ernsthaft. Wenn du zum Salsa gehst, reden wir nicht mehr von Silvester.«

Anna zögerte. Gabi sah sie an. Abwartend, auffordernd. Anna schluckte.

»Es wird dir Spaß machen«, fügte Gabi hinzu, diesmal ohne zu lächeln.

»Glaubst du wirklich, ich muss –«

»Ja, das glaube ich.« Gabis Antwort klang streng, aber ihre Augen verrieten sie. Hinter dem entschlossenen Blick lag etwas Flehendes. Gabi machte sich wirklich Sorgen um sie. Deshalb klammerte sie sich so hartnäckig an diese Idee. Es ging gar nicht um das Tanzen oder den Kurs. Ihre Freundin wollte nur die Gewissheit, dass es Hoffnung gab, dass Anna eines Tages wieder glücklich sein würde.

Sie nickte. »Also gut.« Für Gabi würde sie fast alles tun. Sogar Salsa tanzen.

Gabi sprang mit einem Freudenschrei vom Sessel, stürzte sich auf Anna und umarmte sie. »Ich rufe Jeremy an und frage ihn –«

Anna schob Gabi ein Stückchen von sich. »Moment mal! Von Jeremy war aber nicht die Rede!«

Gabi verdrehte genervt die Augen. »Aber Jeremy ist total nett – und total sexy!«

»Dann geh du doch mit ihm zum Salsa!«

»Du sollst ihn ja nicht heiraten, nur mit ihm tanzen. Sieh ihn einfach als … Wie heißen die Dinger noch? Stützräder! Sobald du dich sicherer fühlst, nimmst du sie ab.«

Nun verschränkte Anna die Arme vor der Brust. »Ich habe ja zum Salsa gesagt, nicht zu Jeremy. Und wenn du wirklich willst, dass ich Salsa tanze, dann wirst du meine Partnerin.«

»So?« Gabi breitete auffordernd die Arme aus. »Dann komm her!«

Widerstrebend stand Anna vom Sofa auf und trat zu ihr. Gabi nahm sie in Tanzhaltung, und sie versuchten ein paar Schritte, die sich zumindest wie Salsa anfühlten, aber das Ganze geriet außer Kontrolle, als Gabi versuchte, Anna nach hinten zu biegen, und dabei das Gleichgewicht verlor. Beide landeten kichernd auf dem Fußboden.

»Es tut gut, dich lachen zu hören«, sagte Gabi.

Anna seufzte. »Bin etwas aus der Übung.«

Sie stemmten sich hoch und krochen zurück aufs Sofa. »Ich hole uns mal Gläser«, sagte Gabi und deutete auf den Wein. »Willst du heute hier schlafen?«

Anna krabbelte zu Gabis Ende vom Sofa und gab ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange. »Ich hab dich lieb, weißt du das?«

Gabi umarmte sie kurz, dann schob sie sie weg, damit sie aufstehen konnte. »Ja, ich weiß. Ich bin einfach unwiderstehlich.«

Dankbar nahm Anna das große Glas Rotwein, das Gabi ihr kurz darauf reichte. Ein wenig später, als sie die Flasche geleert hatten, brachte Gabi ihr eine Decke und ein Kissen, damit sie es sich auf dem Sofa gemütlich machen konnte, und sogar einen frisch gewaschenen Schlafanzug.

»Vielen Dank«, sagte Anna und drückte ihn an ihre Brust.

»Er ist mir zu klein. Wenn du willst, kannst du ihn behalten.«

»Ich meine nicht den Schlafanzug, du Dussel – obwohl er sehr hübsch ist. Ich meine, für alles.«

»Ich will einfach nur, dass du glücklich bist.«

Anna nickte. Das wusste sie. Aber sie erwiderte nichts darauf, denn sie wusste auch, dass Gabis Wunsch unerfüllbar war. Ein kurzer Lachanfall, weil man sich mit seiner besten Freundin auf dem Fußboden langgemacht hatte, war nicht dasselbe, wie wirklich glücklich und zufrieden zu sein. Und sie glaubte nicht, dass das für sie je wieder möglich war. Wie sollte das gehen, wenn ein riesiges Stück von ihr fehlte und immer fehlen würde?

Am nächsten Morgen kehrte Anna nach Hause zurück, ließ ihre Kleider im Badezimmer auf den Boden fallen und ging sofort unter die Dusche. Es war ihr erster Arbeitstag nach den Feiertagen, und sie wollte nicht zu spät kommen, auch wenn es nicht gerade der aufregendste Job der Welt war.

Vor Spencers Tod hatten sie zusammengearbeitet, aber das war nicht immer so gewesen. Er hatte IT-Wissenschaften studiert und nach ein paar Fehlstarts bei einem mittelgroßen Entwickler von Videospielen angefangen. Doch als die Smartphones immer populärer geworden waren, hatte Spencer es sich in den Kopf gesetzt, eine Game-App zu entwickeln, die so richtig einschlagen würde. Er hatte alles Mögliche ausprobiert von Rennautos über fliegende Schafe bis hin zu Blasen, die man zum Platzen bringen musste. Einige davon hatten ihm genug eingebracht, um auf Teilzeit zu gehen, aber er hatte nie den großen Erfolg gelandet, von dem er träumte.

Das Problem war, dass Spencer geradezu barst vor Energie, sich aber nie lange auf eine Sache konzentrieren konnte. Das wurde umso offensichtlicher, als er schließlich ganztags zu Hause arbeitete, ohne feste Struktur. Anna akzeptierte einfach, dass Spencer eben so war, aber ihn selbst frustrierte es ohne Ende.

Er machte sich auf die Suche nach einer Zeitmanagement-Methode, die für sein unstetes Gehirn geeignet war, aber nichts davon funktionierte – bis er auf das Konzept der »Blockplanung« stieß, die ihm die nötige Struktur gab, ohne ihn zu sehr einzuengen. Doch die einzige App, die er dazu fand, war nicht nur ziemlich rudimentär, sondern obendrein knallpink – welcher Idiot entwarf eine komplette App in Knallpink ohne die Möglichkeit, das Farbschema zu ändern? Irgendwann hatte Anna genug von seinem Gemecker und sagte, er solle doch einfach eine eigene App basteln. Das sei doch schließlich sein Job.

Und genau das tat Spencer. Er setzte sich mit zwei ehemaligen Studienfreunden zusammen, und gemeinsam entwarfen sie »BlockTime«, eine stylische, leicht bedienbare Zeitmanagement-App, die a) nicht knallpink und b) mit allen möglichen Kalendern, To-do-Listen und ähnlichen Apps kompatibel war. Und dank Spencers Besessenheit, einen echten Game-Hit zu landen, machte es richtig Spaß, sie zu benutzen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich wurde sie immer beliebter.

Anna kündigte ihre Stelle als stellvertretende Personalleiterin und begann für Spencer und seine beiden Freunde zu arbeiten. Anfangs machte sie nur Verwaltung und Buchhaltung, doch nach und nach beteiligte sie sich auch am Design. Wie sich zeigte, hatte sie ein gutes Auge für solche Dinge, und die »Jungs« hatten zwar jede Menge innovative Ideen, waren aber nicht besonders praktisch veranlagt. Sie brauchten jemanden, der sie erdete und dafür sorgte, dass die App nicht nur cool und voll technischer Gimmicks war, sondern auch einfach zu bedienen.

Es hatte ihr großen Spaß gemacht, mit Spencer zusammenzuarbeiten und ihm dabei zuzusehen, wie er das tat, was er gut konnte. Als das Ganze schließlich auch finanziell zu laufen begann, waren sie zwar nicht reich gewesen, aber immerhin wohlhabend.

Nach seinem Tod hatte sie sich natürlich erst mal eine Auszeit genommen. Aber aus zwei Monaten waren drei geworden und aus drei schließlich sechs. Irgendwann hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie es nicht fertigbrachte, in die Firma zurückzukehren. Vijay und Rhys, die beiden Partner, hatten Verständnis dafür gehabt. Sie hatte Spencers Anteil geerbt und bekam daraus eine monatliche Summe ausgezahlt, aber davon abgesehen überließ sie den beiden das Geschäft. Immerhin musste sie sich als Witwe nicht auch noch ums Geld sorgen.

Aber sie brauchte etwas, um ihre Tage zu füllen, und so hatte sie sich bei einer erfolgreichen familiengeführten Installationsfirma als Bürokraft beworben, und dort arbeitete sie nun schon seit über zwei Jahren. Da besonders um die Feiertage gerne die Leitungen zufroren und Heizungen ihren Geist aufgaben, würde vermutliche eine Menge Papierkram auf sie warten. Heute war kein guter Tag, um zu spät zu kommen.

Als sie sauber und rosig aus der Dusche trat, wickelte sie sich in ein Handtuch und lief zum Schlafzimmer, um sich frische Sachen anzuziehen. Doch im Flur zögerte sie. Sie war seit ihrer Flucht in der Silvesternacht nicht mehr dort drinnen gewesen.

Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Da ist nichts, wovor du Angst haben müsstest.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, betrat sie das Schlafzimmer. Spencer hatte sie liebenswürdigerweise darauf hingewiesen, dass sie die Angewohnheit hatte, alles so lange in sich aufzustauen, bis der Überdruck zu groß wurde, und wenn sie dann platzte, tat und sagte sie seltsame Dinge. Konnte es sein, dass sie in so einer Situation auch bizarre Dinge hörte?

Langsam und leise ging sie auf den Schrank zu, fast als würde sie sich anschleichen, dann legte sie die Finger um den Rand der halb offenen Tür und zog. Ihr Handy lag auf dem Schrankboden und sah vollkommen normal und unschuldig zu ihr hoch. Sie bückte sich und hob es auf.

Na also. War doch gar nicht so schwer, oder?

Und weil es nicht schwer gewesen war, weil das Ganze sich so unwirklich anfühlte, wie aus einem Traum, drückte sie auf den Startknopf und schaltete es ein.

Sie klickte die Anrufliste an. Da, ganz oben, war ein Anruf, den sie genau um Mitternacht des Neujahrstages getätigt hatte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und in ihrer Brust wurde es merkwürdig eng. Da war der Beweis. Sie hatte die Nummer gewählt. Sie hatte tatsächlich »Ich liebe dich« gesagt.

Aber die eigentliche Frage war: Was hatte sie in der Stille danach gehört? Nichts? Eine Ausgeburt ihrer Phantasie?

Das musste es sein.

Über etwas anderes durfte sie gar nicht erst nachdenken. Sie durfte nicht hoffen und riskieren, dass diese Hoffnungen wieder zerschlagen wurden. So kraft- und leblos, wie sie sich jetzt auch fühlte, das war nichts im Vergleich zu den ersten Monaten nach Spencers Tod. In diese Finsternis wollte sie auf keinen Fall zurück.

Deshalb war es wichtig, was sie jetzt tat. Sie stand auf der Schwelle. Auf Messers Schneide. Und es gab nur eine Seite, auf die sie fallen durfte.

Sie hob den Daumen und löschte den Eintrag. So. Weg. Es war nie passiert.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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