Читать книгу Am Abgrund balanciert es sich am besten - Fiona Lucas - Страница 5

2.

Оглавление

In einer idealen Welt, dachte Anna, würde ich bei jeder Party anderthalb Stunden zu spät kommen. So könnte sie sich den Anfang sparen, die allgegenwärtige Vorfreude, die lärmenden Begrüßungen und die Vorstellungsrunden mit den sofort wieder vergessenen Namen.

Gabi arbeitete als Foodstylistin und sorgte dafür, dass die Gerichte in Kochbüchern und Zeitschriften so verlockend aussahen, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Im Lauf der Jahre hatte sie eine bunte Mischung von Leuten kennengelernt – Fotografen und Grafiker, Herausgeber von Zeitschriften, Stylisten und Fernsehmoderatoren. Gastgeberin der Party an diesem Abend war eine Kalifornierin, der eine Kette von Schönheitssalons in Südlondon gehörte. Vanessa lebte in Chislehurst, und je näher Anna und Gabi ihrem Ziel kamen, desto prächtiger wurden die Häuser und desto grüner die Straßen. Die Gegend war nur ein paar Kilometer von Annas Doppelhaushälfte in Sundridge Park entfernt, aber sie kam sich vor wie in einer anderen Welt.

Sie folgte Gabi durch das Erdgeschoss des eleganten Hauses, ein unberührtes Glas Champagner in der Hand. Jedes Mal wenn es Gabi gelang, sich aus einem Grüppchen überschwänglicher Extrovertierter zu lösen, wurde sie sofort in das nächste gezogen, und Anna kannte kaum jemanden davon. Sie stellte sich einfach mit freundlicher, aber zurückhaltender Miene an den Rand und vermied so weit wie möglich jeden Blickkontakt.

Der Vorteil daran, eine kontaktfreudigere Freundin zu haben, die nahezu alle Gäste zu kennen schien, war, dass das Gespräch um Anna herumfloss wie ein Bach um einen Felsen, und das war ihr auch ganz recht so. Denn mit dem Small Talk kamen die Fragen, und sie war nicht sonderlich erpicht auf Fragen, zumindest nicht auf solche persönlicher Natur, und was sie vor allem nicht hören wollte, war –

»Hi, Anna! Wie geht es Ihnen?«

Sie zwang ihre Mundwinkel nach oben, drehte sich um und stand vor einer von Gabis kreativen, interessanten Freundinnen, die sie anstrahlte. »Oh, äh, hallo …« Anna verstummte, zum einen, weil sie sich nicht an den Namen der Frau erinnern konnte, aber vor allem, weil diese einfache Frage sie stets in eine Zwickmühle brachte. Sie war ein ehrlicher Mensch, und wenn jemand sie fragte, wie es ihr ging, antwortete sie automatisch wahrheitsgemäß.

Großer Fehler.

Damals, in der ersten Zeit, hatte sie genau das getan, hatte erwidert, dass jede Sekunde des Tages wie ein Messerstich in ihrem Herzen war und dass sie sich davor fürchtete, morgens die Augen zu öffnen. Es hatte so gutgetan, alles herauszulassen.

Doch sie hatte schnell gemerkt, dass ihre Freunde sie dann erschrocken ansahen und nicht wussten, was sie darauf sagen sollten. Meistens behaupteten sie, sie müssten dringend noch mit jemandem da drüben sprechen, und ergriffen die Flucht.

Niemand wollte wirklich wissen, wie es ihr ging. Nicht nach zwei Jahren, neun Monaten und acht Tagen. Nicht mal Gabi. Sie wollten hören, dass sie sich hochgerappelt hatte, dass es möglich war, etwas so Tragisches zu überstehen und wieder nach vorn zu blicken. Im Grunde war es egoistisch, denn sie wollten, dass sie ihnen Hoffnung gab. Sie sollte ihnen versichern, dass auch sie, falls ihnen etwas so Furchtbares zustieß, darüber hinwegkommen würden. Aber Anna war nicht darüber hinweg, nicht mal ansatzweise.

Gabis Freundin sah sie erwartungsvoll an.

»Ganz gut«, erwiderte Anna mit einem Nicken und bemerkte wieder einmal, dass die Trauer sie in eine elende Lügnerin verwandelt hatte. »Und Ihnen?«

Die Frau – Keisha! Sie hieß Keisha – zuckte philosophisch die Achseln. »Ach, na ja, das Übliche …« Dann zog sie die Stirn kraus. »Ich habe gehört, was … Sie wissen schon … Es tut mir sehr leid.« Und dann tat sie das Allerschlimmste: Sie legte mitfühlend die Hand auf Annas Arm.

Anna hätte sie am liebsten abgeschüttelt und Keisha wütend angefunkelt, weil sie eine unsichtbare Grenze überschritten hatte, aber sie tat es nicht. »Oh!«, sagte sie und blickte an ihr vorbei ans andere Ende der großen, edlen Küche. »Ich glaube, Vanessa sucht Sie.«

Tatsächlich war ihre Gastgeberin nirgends zu sehen, aber das Spiel mit der »unsichtbaren Freundin« konnte sie schließlich genauso gut spielen. Keisha wirkte einen Moment hin- und hergerissen, dann drückte sie Anna kurz mit einem Arm an sich und eilte davon.

Sie war froh, als gegen neun die Begrüßungsphase vorbei war und die Leute sich in kleinen Grüppchen in der Küche und über die diversen Sitzgelegenheiten verteilten. Das machte es einfacher, mit ihrem mittlerweile lauwarmen Champagner umherzuschlendern und so zu tun, als hätte sie gerade ein wunderbares Gespräch mit einem Gast beendet und wäre auf dem Weg zum nächsten. Dabei hatte sie – abgesehen von dem kurzen Wortwechsel mit Keisha – bisher nur mit Gabi gesprochen, und das war im Auto auf dem Weg hierher gewesen.

Sie waren kaum losgefahren, da hatte Gabi betont beiläufig gesagt: »Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Jeremy heute Abend auch kommt?«

Anna warf ihrer Freundin einen scharfen Seitenblick zu. Gabi saß ganz ruhig auf dem Beifahrersitz, die Hände im Schoß gefaltet und die Andeutung eines unschuldigen Lächelns auf den Lippen. Das beunruhigte Anna, denn Gabi war nie cool und zurückhaltend. Gabi strahlte und kreischte und warf Konfetti. Immer. Das ungute Gefühl in Annas Magen verstärkte sich.

»Ach ja?«, erwiderte sie leichthin. »Wer war das noch gleich?« Obwohl sie genau wusste, dass Jeremy ein Freund von Vanessa war. Und dass er als Grafikdesigner arbeitete und eine »Wahnsinnswohnung« in Beckenham hatte.

Anna war klar gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis diese Bombe explodierte, denn Gabi hatte schon seit Wochen immer wieder unauffällig seinen Namen fallen lassen, fast genauso oft, wie sie – nicht ganz so unauffällig – andeutete, dass es für Anna an der Zeit war, »nach vorne zu schauen«.

Aber Anna wollte nicht nach vorne schauen. Sie war noch nicht so weit.

Das hatte sie Gabi auch schon tausendmal gesagt, aber offenbar ohne jede Wirkung, denn in diesem Moment schlängelte sich ihre Freundin lächelnd mit einem Mann im Schlepptau durch das Gedränge in der Küche auf sie zu.

Da begriff sie. Gabi ging es gar nicht um ihr eigenes Liebesleben, sondern um Annas.

Anna versuchte, in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten, doch Vanessas Angestellte aus dem Schönheitssalon versperrten ihr den Weg, bunt und aufgeputzt wie ein Schwarm exotischer Vögel. Sie hatten sich direkt neben dem gläsernen Kühlschrank niedergelassen, der bis obenhin mit Champagnerflaschen gefüllt war, und rührten sich nicht von der Stelle.

»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!«, rief Gabi und setzte ihr strahlendstes Julia-Roberts-Lächeln auf. Sie blickte zu dem Mann, den sie am Arm hinter sich herzog und der nicht ganz so enthusiastisch wirkte wie Gabi. »Das ist Jeremy!«, verkündete sie mit solchem Elan, als handele es sich um die Oscar-Verleihung. Groß, mit sandfarbenem Haar und ausgeprägten Wangenknochen, erinnerte Jeremy Anna an den Detektiv in der schwedischen Krimiserie, die sie gerade auf Netflix dauerguckte.

»Weißt du noch? Ich hab dir doch von ihm erzählt.«

Anna warf Gabi einen Blick zu. Das ist nicht dein Ernst, oder?

Doch Gabi funkelte unbeirrt zurück – Jetzt reiß dich gefälligst zusammen! – und sprach weiter. »Du hast doch gesagt, du würdest gerne mal Salsa ausprobieren. Und Jeremy macht einen Kurs am Civic Centre. Er kann dir alles darüber erzählen.« Dann fiel Gabi plötzlich auf, dass sie nichts mehr zu trinken hatten, und sie eilte, obwohl sie direkt neben einem ganzen Kühlschrank voll Champagner standen, davon, um Nachschub zu holen. Anna und Jeremy blieben zurück und sahen sich verlegen an.

Anna holte Luft, lächelte und sagte: »Hallo.« Ja, sie fühlte sich gerade ein bisschen ungesellig, aber sie war nicht unhöflich. Deshalb sagte sie ihm auch nicht, als sie vorsichtig ein paar Sätze wechselten, dass das mit dem Salsakurs Gabis Idee gewesen war. Damit Anna mal aus dem Haus und auf andere Gedanken kam. Davor war es Italienisch gewesen. Und davor ein Goldschmiedekurs. Selbst »Wie repariere ich mein Auto?« war ihr nicht zu blöd gewesen.

Und so kam es, dass Anna sich eine halbe Stunde lang dort in der Küche mit Jeremy unterhielt. Er war nett, das musste sie zugeben. Nicht zu sehr von sich eingenommen. Kein Langweiler. Und ganz offensichtlich hatte Gabi ihn mit ihrem wenig subtilen Verkuppelungsversuch genauso überrumpelt wie sie. Er gab sich zwar Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen, aber es gelang ihm nicht so recht. Was ihn für Anna noch sympathischer machte.

Als er vorschlug, nach draußen zu gehen, um dem Lärm und dem Gedränge zu entkommen, folgte sie ihm. »Wie sind Sie denn zum Salsaexperten geworden?«, fragte sie, als sie auf die Terrasse hinaustraten, von der man auf den perfekt gepflegten Garten blickte.

Jeremy verzog das Gesicht. »Ich bin ganz sicher kein Experte.«

»Nein? Wie lange tanzen Sie denn schon?«

Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und lachte. Er hatte ein nettes Lächeln, fand Anna. In seinen Augen lagen Wärme, Ehrlichkeit und auch etwas Verschmitztes. »Das ist es ja gerade – ich war nur ein paarmal da, und auch nur, weil meine Schwester unbedingt hinwollte und mein Schwager sich stur geweigert hat.«

Anna musste lachen. Nicht schallend laut, eher leise und amüsiert, aber es schockierte sie so sehr, dass sie sofort wieder verstummte. Das Geräusch war ihren Ohren fremd, das leichte Beben ihrer Schultern ungewohnt. Wie lange war es her, dass sie zuletzt gelacht hatte? Sie konnte sich nicht erinnern.

Vielleicht ließ sie sich deshalb weiter auf das Gespräch mit diesem netten Mann ein, stand nicht nur höflich lächelnd da und nickte an den richtigen Stellen, sondern unterhielt sich wirklich mit ihm und erzählte ihm ein wenig von sich. Und vielleicht erwiderte sie deshalb, als er sagte, er sei gern bereit, mit dem Salsa einen zweiten Versuch zu starten, falls sie Lust habe, es auszuprobieren, aber nicht allein hingehen wolle, dass sie darüber nachdenken werde.

Sie wechselte zu einem anderen Gesprächsthema, und dabei ging ihr durch den Kopf, dass Gabi eine gute Wahl getroffen hatte. Eine sehr gute sogar. Denn in einem anderen Leben, einer anderen Wirklichkeit hätte sie bei der Vorstellung, mit Jeremy zu tanzen, seine Hand auf ihrem Rücken zu spüren, während sie sich bewegten, vielleicht Schmetterlinge im Bauch. Als sie dort ans Geländer gelehnt standen, sah Jeremy sie immer wieder an, und jedes Mal verspürte sie zu ihrer Überraschung das Kitzeln zarter Flügel in ihrem Innern.

Doch Anna wusste, dass sie dem Geflatter nicht zu viel Beachtung schenken sollte. Schmetterlinge waren kurzlebige Geschöpfe, und in Anbetracht des Frosts, der ihre Seele gefangen hielt, würden sie vermutlich bald tot sein. Zu Eis erstarrt, die Armen.

Doch als Jeremy ihr das Glas mit dem lauwarmen, abgestandenen Champagner abnahm, um ihr ein neues zu holen, streiften seine Finger ihre, und die Schmetterlinge gerieten in Panik.

Diese kurze Berührung löste einen verborgenen Alarm aus, wie ein Bankangestellter, der beim Überfall auf den Knopf unter dem Tisch drückt. In ihrem Herzen blinkte alle paar Sekunden ein rotes Licht auf, und in ihrem Schädel lärmte eine Sirene, als Jeremy sich durch das Gedränge Richtung Küche bewegte.

Ganz egal, dass er gut aussieht, tönte der Alarm. Sogar ausgesprochen gut. Er ist nicht Spencer.

Ganz egal, dass er intelligent, feinfühlig und auf eine gute Art ernsthaft ist, wie Spencer es nie war. Ganz egal, dass dieser Jeremy bestimmt nie auf die Idee käme, jedes Mal einen Witz abzulassen, wenn du über etwas Wichtiges, Bedeutsames sprechen willst. Er ist nicht Spencer und wird es auch nie sein.

Anna versuchte, den Alarm zu ignorieren, als Jeremy zurückkam. Sie versuchte zuzuhören, als er eine Anekdote über einen besonders anspruchsvollen Kunden erzählte, aber die Warnung pulsierte die ganze Zeit in ihrem Hinterkopf, während sein Blick immer länger auf ihr lag und sich eine kleine Blase der Intimität um sie schloss.

Mist. Sie wusste, wo das hinführte.

Spätestens in einer halben Stunde würde er sanft ihren Arm berühren, während er ihr etwas erzählte. Und wenn Big Bens Glockenschläge durch das Land hallten, würde er sich vielleicht vorbeugen und sie sanft auf die Lippen küssen. Bei der Vorstellung sackte ihr der Magen in die Knie. Ihr wurde heiß, und es kribbelte überall.

Nicht Spencer, blinkte die Warnlampe. Nicht Spencer. Nicht Spencer. Nicht Spencer.

Anna versuchte zu lächeln und zu nicken, während Jeremy weitersprach, aber sie fühlte sich zugleich elend und aufgedreht. So ging es nicht weiter. Sie musste einen Weg finden, das hier zu einem Ende zu bringen.

Da fing Jeremy von einem Junggesellenabschied an, bei dem er und seine Freunde einen ganzen Nachmittag lang in Goodwood mit Rennwagen ihre Runden gedreht hatten, und Anna packte die Gelegenheit sofort beim Schopf.

»So was wollte ich meinem Mann mal zum Geburtstag schenken«, warf sie ein. »Er liebte schnelle Autos, ganz besonders Aston Martins.«

Jeremy öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann sickerte die Information offenbar ein, denn er stockte. »Aston Martin?«, sagte er schließlich und räusperte sich. »Gute Wahl.«

Ihr fiel auf, dass er zwar etwas aus dem Konzept gebracht war, aber nicht schockiert wirkte, wie es wohl bei den meisten Männern der Fall wäre, wenn eine Frau sich über eine Stunde lang ausschließlich mit ihnen unterhielt, ohne zu erwähnen, dass es da noch einen Ehemann gab.

»Gabi hat Ihnen von Spencer erzählt«, sagte sie. Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ein bisschen«, erwiderte er, und sie rechnete es ihm hoch an, dass er ihr dabei in die Augen sah und nicht den Blick abwandte oder so tat, als hätte er gerade jemanden entdeckt, mit dem er unbedingt sprechen wollte. Bis hierhin war ihr Gespräch entspannt dahingesegelt, aber obwohl die See jetzt rauer wurde, ergriff er nicht die Flucht. Er blieb da und navigierte durch die Wellentäler der Befangenheit, die sich nun vor ihnen auftaten. Der Mann hatte Klasse.

Doch Anna konnte nicht zulassen, dass deshalb ihre Überzeugung ins Wanken geriet, und so erzählte sie ihm, was vor zwei Jahren, neun Monaten und acht Tagen passiert war: dass ihr Mann abends noch kurz zum Laden an der Ecke gegangen war, um eine Flasche Wein zu besorgen. Und dass er nicht zurückgekommen war, weil jemand am gleichen Abend zu viel getrunken und sich trotzdem ans Steuer eines Autos gesetzt hatte. Bis zum Laden waren es nur drei Minuten gewesen.

Sie erzählte ihm, wie sie die Sirene des Rettungswagens gehört und sofort gewusst hatte, dass etwas Furchtbares passiert war. Wie sie trotz der Märzkälte barfuß aus dem Haus gerannt war und die Tür hatte offen stehen lassen. Wie sie Spencer auf der Straße hatte liegen sehen, mit lauter Sanitätern um ihn herum, die Gesichter blass und ernst. Und wie man ihr bei der Ankunft im Krankenhaus mitgeteilt hatte, dass er auf dem Weg dorthin gestorben war.

Sie erzählte Jeremy alles bis ins kleinste Detail, und er sah sie dabei an, nicht entsetzt oder peinlich berührt, sondern voller Mitgefühl. Echtem Mitgefühl, nicht Mitleid.

Genau deshalb sorgte Anna dafür, dass jedes Wort ein Ziegelstein war und dass sie aus den Steinen eine Mauer baute. Eine Grenze. Und als sie ihre Geschichte beendet hatte, stand sie auf der einen Seite und Jeremy auf der anderen.

Trotzdem haute er nicht ab. Verfluchter Kerl.

»Was den Salsakurs angeht …«, sagte er. »Ich nehme an, das war eher Gabis Idee.«

»Stimmt.«

Er nickte. Sie würden also nicht so bald zusammen das Tanzbein schwingen. Wahrscheinlich nie.

»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Anna«, sagte er sanft und sah ihr in die Augen. Nicht auf romantische Weise (das hatte sie ihm eindeutig ausgetrieben), aber voller Ehrlichkeit, um ihr zu verstehen zu geben, dass er es wirklich so meinte.

Anna nickte nur und schluckte die Worte hinunter, die ihr in die Kehle stiegen, weil sie fürchtete, sie könnten sich zu der Bitte formen, bei ihr zu bleiben und weiter mit ihr zu reden, als wäre sie ein normaler Mensch und nicht eine wandelnde Tragödie, die man wie ein rohes Ei behandeln musste.

Er blickte zum Haus. »Da ist jemand, mit dem ich …« Er beendete den Satz nicht, sondern lächelte ihr nur ein wenig traurig zu, drehte sich um und ging hinein. Anna sah ihm nach, als er sich durch das Gedränge in der Küche schob.

Nun hatte er doch noch die alte Ausrede gewählt, aber sie verübelte es ihm nicht, im Gegenteil, sie war ihm sogar dankbar. Er hatte es getan, um sie aus der unbehaglichen Situation zu befreien, nicht sich selbst. Jeremy hatte ihre Steine und ihre Mauer gesehen und sie respektiert. Ihr schossen Tränen in die Augen.

Während sie noch dastand und mit feuchten Augen auf die Glastüren der Küche starrte, tauchte mit einem Mal Gabi auf. »Wo ist Jeremy?«

Anna war ziemlich sicher, dass ihre Freundin sie das fragte, weil sie ihn allein im Haus gesehen hatte. »Da war jemand, mit dem er dringend sprechen musste«, antwortete sie und ignorierte das warme Gefühl, das bei dem Gedanken daran aufflackerte, dass sie durch diese Notlüge, dieses kleine Geheimnis mit ihm verbunden war. Sie drehte sich um und blickte hinaus in den dunklen Garten.

Gabi wirkte schwer enttäuscht. »Aber … aber es sah so aus, als würdet ihr euch richtig gut verstehen.«

»So war es auch.«

»Ihr habt ewig lange miteinander geredet.«

Anna nickte. Sie verspürte den Stich eines schlechten Gewissens. Es war Jeremy gegenüber nicht fair gewesen, sich so lange mit ihm zu unterhalten. Und dann bohrte sich das Messer des schlechten Gewissens, das sie bisher nur leicht geritzt hatte, tiefer und grub sich in ihre Eingeweide. Es war auch Spencer gegenüber nicht fair gewesen. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, Gabi?«

Gabi wollte erst die Unschuldige spielen, doch dann gab sie es auf. Sie sah Anna kleinlaut an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Ich fand ihn nur nett und dachte, dass du … dass du …«

Anna knirschte mit den Zähnen. »Wenn du jetzt sagst, dass ich nach vorne schauen soll, dann kippe ich dir den Champagner ins Gesicht.«

Gabis Gesicht wurde ernst. »Aber du musst –«

Das reichte. Anna hatte genug. Sie machte ihre Drohung zwar nicht wahr, aber sie schleuderte ihr Glas über das Geländer in den Garten, wo es unter einen Busch rollte. Vanessa würde sie umbringen, falls sie das je herausfand.

»Ich muss nicht nach vorne schauen!«, schrie sie. »Es ist erst zwei Jahre her!«

Gabi öffnete den Mund, um – zutreffenderweise – einzuwenden, dass es mittlerweile schon fast drei Jahre waren, doch als sie Annas Miene sah, ließ sie es bleiben.

»Was erwartest du denn? Soll ich einfach mit den Fingern schnippen und sagen: Tja, die Liebe meines Lebens, der Mann, den ich mit jeder Faser meines Seins geliebt habe, ist tot, also sollte ich mir wohl Ersatz suchen? Als wäre er ein Kleidungsstück vom letzten Jahr?«

»Nein, natürlich nicht … Ich …«

Anna sah, wie verletzt ihre Freundin war, aber das bremste sie nicht. Selbst schuld, Gabi. Du hast immer wieder gestochert, du hast diesen Tiger aus seinem Schlaf aufgeschreckt, und jetzt hörst du dir gefälligst sein Gebrüll an!

»Sieh erst mal zu, dass du eine Beziehung hast, die länger als anderthalb Jahre dauert – dann kannst du mir vielleicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe!«

Gabi zuckte zusammen. Anna wusste, dass das ein Schlag unter die Gürtellinie gewesen war und dass sie es bereuen würde, sobald sie sich wieder beruhigt hatte, aber sie musste dafür sorgen, dass Gabi damit aufhörte. Dass sie endlich begriff.

Es musste Schluss sein mit den Italienischkursen, dem Goldschmieden und dem Salsatanzen. Und mit den Jeremys. Denn Anna wusste, dass ihr noch mehr davon vorgeführt werden würden, wenn sie sich jetzt nicht durchsetzte. Sie musste Gabi klarmachen, dass sie nicht auf magische Weise über Spencer hinwegkam, wenn sie lernte, das Verb essere zu konjugieren oder einen perfekten »Side Basic« zu tanzen. Sie würde überhaupt nicht über ihn hinwegkommen.

»Sag mir nie mehr, dass ich nach vorne schauen soll! Weil du es nicht verstehst! Nicht, solange du es nicht selbst erlebt hast!«

Und bevor Gabi irgendetwas zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte, drehte Anna sich um und marschierte auf die Pforte an der Seite des Hauses zu. Zum Glück war sie nicht verschlossen. Sie hätte es nicht ertragen, sich noch einmal zwischen all den Leuten da drinnen hindurchzwängen zu müssen.

Nein, du hättest es nicht ertragen, dich umzudrehen und Gabi mit Tränen in den Augen dastehen zu sehen, wandte eine Stimme in ihrem Kopf ein, aber Anna beachtete sie nicht, sondern knallte die Pforte so heftig hinter sich zu, dass der Riegel schepperte. Und dann stapfte sie zu ihrem Auto, stieg ein und fuhr nach Hause.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

Подняться наверх