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9.

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Diesmal hielt Anna sich an ihren Vorsatz – sie rief Spencers Nummer nicht mehr an. Beziehungsweise Spencers ehemalige Nummer, wie sich herausstellte. Dafür rief sie den Mobilfunkprovider an, und nach zwanzig Minuten in der Warteschleife und dreimaligem Weiterverbinden war das Geheimnis endlich gelüftet.

Die Bezahlung von Spencers Vertrag lief über eine gemeinsame Kreditkarte, die sie nur noch dafür benutzte. Das Konto existierte noch, aber die Karte war im vergangenen Oktober abgelaufen. In ihrem Posteingang fand sie, begraben unter fünfhundert weiteren ungeöffneten Mails, eine entsprechende Nachricht, die sie darauf hinwies, dass Spencers Account in sechzig Tagen deaktiviert werden würde, wenn keine Bezahlung erfolgte. Als das nicht passiert war, hatten sie die Nummer an jemand anderen vergeben.

Es war ihre eigene Schuld, dass sie diese winzige, aber überaus wichtige Verbindung zu Spencer verloren hatte. Nichts Unheimliches oder Übernatürliches. Kein kleiner Scherz von Gott oder dem Schicksal oder wer auch immer da oben über den Wolken hockte und mit ihrem Leben spielte. Nein, es war ihre eigene Dämlichkeit. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und die Mail lesen, bevor es zu spät war, ihren trägen Hintern hochkriegen und sich darum kümmern.

Andererseits – wenn es in ihrer Macht läge, die Zeit zurückzudrehen, würde sie diese Belanglosigkeiten überspringen und direkt zu dem Tag zurückkehren, an dem Spencer gestorben war. Anstatt ihm hinterherzurufen, dass er noch Milch mitbringen sollte, würde sie die Treppe hinunterlaufen, ihn sich schnappen, als er die Tür öffnete, und ihn um den Verstand küssen. Dreißig Sekunden hätten ausgereicht, dann wäre der betrunkene Autofahrer ein Stück weiter oder sogar schon um die Ecke gewesen. Der Unfall wäre nicht passiert, und sie würde nicht in diesem Albtraum leben.

Dieser Gedanke plagte sie immer mehr, je näher der 23. März, sein dritter Todestag, rückte. Die Familie Barry hatte auf das rituelle Sonntagsessen verzichtet und traf sich stattdessen an diesem Tag. Anna hatte sich freigenommen, und gegen elf stieg sie ins Auto und fuhr aus London heraus.

Als die Häuser und Geschäfte in Wälder und Wiesen übergingen, warf sie einen Blick zum Himmel. Er war trüb und grau, voll schwerer Regenwolken. Schade, aber passend. Sie sah dem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Die letzten beiden Male hatte sie sich mit Spencers Familie getroffen, und so waren alle stillschweigend davon ausgegangen, dass sie es diesmal genauso halten würden, aber nun, da sie darüber nachdachte, fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, den Tag allein zu verbringen. Ein bisschen Ruhe und Zeit für sich hätte ihr vielleicht gutgetan.

Sie seufzte. Jetzt war es zu spät, ihre Pläne zu ändern. Es wäre taktlos – um nicht zu sagen, grob unhöflich –, anzurufen und zu sagen, dass sie nicht kommen würde.

Sie sah auf ihr Handy, das in der Halterung am Armaturenbrett steckte. Am liebsten würde sie ihre Mum anrufen, um sich ein bisschen emotionale Unterstützung zu holen, bevor sie bei ihrem Ziel ankam. In Nova Scotia war es jetzt noch früh, aber sie war vielleicht schon auf dem Weg zur Arbeit in Halifax.

Doch Anna musste vorsichtig sein, was ihre Eltern betraf. Wenn sie hier in der Nähe wohnten, wäre es vielleicht etwas anderes, aber sie lebten nun mal auf einem anderen Kontinent. Obwohl es mittlerweile drei Jahre her war, würden sie alles stehen und liegen lassen und zu ihr kommen, wenn sie das Gefühl hatten, dass es ihr schlecht ging, aber das wäre ihnen gegenüber nicht fair. Sie hatten ihr eigenes Leben, und sie wollte nicht, dass ihre Mutter ihren Job, den sie so liebte, aufs Spiel setzte.

Letzten Endes rief sie aber doch an. Schließlich konnte sie die wirklich düsteren Gedanken, die sie beschäftigten, ja weglassen, wie sie es sonst auch tat.

»Hallo, Liebes«, sagte ihre Mum, und Anna konnte im Hintergrund die Fahrgeräusche hören. »Ich dachte mir schon, dass du anrufen würdest, aber wenn nicht, hätte ich mich später bei dir gemeldet.« Sie seufzte. »Ich habe selbst in den letzten Tagen oft an Spencer gedacht. Du weißt ja, wie gern dein Vater und ich ihn mochten. Kaum zu glauben, dass es schon drei Jahre sind …«

Ihre Worte trafen Anna unvorbereitet, und sie musste plötzlich heftig blinzeln.

»Wie geht es dir?«, fragte ihre Mum sanft.

»Ich … komme zurecht«, log Anna. »Aber ich kann nicht behaupten, dass ich mich auf heute freue.«

»Wieder ein Besuch im Krematorium und danach eins von Gayles Büfetts?«

Anna zog eine Grimasse. »Nein, zum Glück nicht. Ein drittes Mal hätte ich ihre Sandwiches und Häppchen nicht ertragen. Ich muss gestehen, allmählich finde ich die Besuche bei Gayle und Richard ein bisschen … ich weiß nicht … klaustrophobisch.«

»Tatsächlich? Wieso denn?«

Anna runzelte die Stirn, während sie ein Auto überholte, das vor ihr her kroch. »Ich kann es nicht so richtig beschreiben. Du weißt ja, wie wichtig es mir ist, die Verbindung zu Spencers Familie zu halten, aber manchmal finde ich Gayle etwas distanziert. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein …« Sie überlegte. Seit Silvester war sie nicht sie selbst. Dieser Anruf hatte ihr den Rest gegeben. Vielleicht war sie wirklich nur überempfindlich?

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte ihre Mum. »Ich fand Gayle schon immer ziemlich … strukturiert.«

Anna lachte leise. So konnte man es auch ausdrücken.

»Das dachte ich schon seit unserem ersten gemeinsamen Abendessen. Aber sie tat mir wirklich furchtbar leid, als das mit Spencer passiert ist.« Sie schwieg einen Moment und seufzte. »Ich habe keine Ahnung, wie ich in ihrer Situation reagieren würde, aber ich mache ihr keinen Vorwurf daraus, dass sie in der ersten Zeit nach seinem Tod ein wenig, nun ja, kontrollsüchtig war. Jeder Mensch reagiert auf seine Weise.«

»Ja«, erwiderte Anna nachdenklich, während sie auf die A21 einbog und Richtung Küste fuhr. »Alles unter Kontrolle haben … Das ist wohl Gayles Art, damit klarzukommen. Sie braucht ihre Routinen und Rituale.« Aber das galt für sie selbst auch, also sollte sie es ihrer Schwiegermutter nicht verübeln. »Na ja, Hauptsache, es gibt heute keine Schottischen Eier und Petits Fours. Sie meinte, sie wollte dieses Jahr etwas anderes machen.«

»Tatsächlich? Kaum zu glauben! Aber vielleicht ist es ganz gut so. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass sie anfängt, nach vorne zu schauen.«

»Ja«, sagte Anna leise. Das klang vernünftig, obwohl sie bei ihren zweiwöchentlichen Besuchen keinerlei Anzeichen dafür bemerkt hatte. Aber vielleicht tat sie Gayle ja unrecht? Schließlich war sie nicht immer so strukturiert gewesen. Ein wenig reserviert und steif, das schon, aber weicher, eher bereit, ihre Gefühle zu zeigen. Anna hatte immer gedacht, dass sie gut mit ihrer Schwiegermutter auskam.

»Und was macht ihr heute nun stattdessen?«, fragte ihre Mum.

Annas Miene hellte sich auf. »Wir fahren nach Camber Sands«, sagte sie und lächelte vor sich hin.

»Im März?«

Anna lachte. »Ja, im März.« Die Jahreszeit kümmerte sie nicht. »Das war einer von Spencers Lieblingsorten. Als er jünger war, haben seine Eltern dort fast jeden Sommer ein Cottage direkt am Strand gemietet. Sein Hund Lewis fand es herrlich und tobte den ganzen Tag im Sand herum. Zu unserem ersten Hochzeitstag haben wir dort auch Urlaub gemacht, in einem kleinen hölzernen Bungalow an der Straße direkt hinter den Dünen. Weißt du noch? Auf der Website sah es nach Shabby Chick aus, aber in Wirklichkeit war es einfach nur schäbig.«

Ihre Mutter lachte. »Ach ja! Ist nicht sogar der Strom ausgefallen?«

»Ja, gleich beim ersten Mal, als wir Wasser heiß machen wollten. Wir mussten Kerzen anzünden und warten, bis der Besitzer am nächsten Morgen kam, um uns zu zeigen, wie man mit den zickigen Sicherungen umging.«

Ihr und Spencer war das egal gewesen. Der Kerzenschein hatte alles noch romantischer gemacht, und Anna hatte sich im Stillen gefreut. So würden sie diesen Jahrestag nie vergessen. Es war eine wunderbare Anekdote, die sie unter »Annas und Spencers Ehe« abheften und ihren Freunden erzählen konnten, und später dann ihren Kindern und Enkeln, wenn sie mit ihnen zum Strand fuhren. Es war Gold in der Schatztruhe ihrer Seele.

Doch nun, da Spencer nicht mehr lebte, waren diese kostbaren Augenblicke, die sie gesammelt und gehegt hatte, alles, was ihr noch geblieben war. Nur dass sie sich manchmal nicht wie Reichtümer anfühlten, sondern wie Pfeile im Herzen. Und manchmal waren sie beides zugleich. Es war alles sehr verwirrend.

Offenbar hatte ihre Mutter ihre Gedanken erahnt, denn sie sagte: »Ich weiß, es ist schwer, Liebes. Vor allem weil du dich nicht richtig von Spencer verabschieden konntest …«

Annas Kehle schnürte sich zu, und ihr brannten Tränen in den Augen.

»Aber vielleicht ist heute ja ein guter Tag, um das zu versuchen? Natürlich nicht, um ihn zu vergessen, sondern um, nun ja …«

Anna ließ die Schultern hängen und sprach die nächsten Worte lautlos mit: »… nach vorne zu schauen.«

Ihre Mutter war fast genauso schlimm wie Gabi und schlug ihr dauernd irgendwelche neuen Hobbys, Selbsthilfegruppen und Ratgeber vor.

»Ja, vielleicht«, sagte sie. Nur konnte sie sich einfach zu nichts aufraffen. Es war ziemlich mühsam, nach vorne zu schauen, wenn man das Gefühl hatte, einen Sack über dem Kopf zu haben.

»Liebes, ich bin jetzt auf dem Hotelparkplatz und muss auflegen, aber ich denke den ganzen Tag an dich. Melde dich jederzeit, wenn du mich brauchst.«

»Das mache ich«, sagte Anna heiser. »Danke dir, Mum.«

»Ach was, dafür bin ich doch da.«

»Ich weiß. Aber ich bin dir trotzdem dankbar.« Anna hörte, wie ihre Mutter den Motor ausschaltete. »Ich lasse dich jetzt besser mal … Ich hab dich lieb, Mum.«

»Ich dich auch …« Und dann war ihre Mutter weg.

Anna konzentrierte sich wieder auf die Straße und sann über das nach, was ihre Mutter gesagt hatte. Sie musste an den blödsinnigen Anruf in der Silvesternacht denken. Genau darauf hatte sie gehofft, begriff sie jetzt – auf eine Chance, mit Spencer zu reden und ihm all das zu sagen, was sie ihm gerne noch gesagt hätte. Und dann war ihr diese Hoffnung wieder entrissen worden, als sie erkannt hatte, dass es nur Wunschdenken gewesen war.

Und das machte sie traurig, so absurd die Vorstellung auch gewesen sein mochte. Selbst wenn sie nur dieses eine Mal mit ihm hätte reden können, hätte es vielleicht genügt. Sie hätte sich von ihm verabschieden können, ein letztes Mal. Denn das musste sie tun. Oder es wenigstens versuchen. Ihre Mutter und Gabi hatten recht. Sie musste lernen, ohne Spencer zu leben, so unsinnig ihr das auch erschien.

Während sie fuhr, stellte sie sich vor, wie sie in den Dünen von Camber Sands stand und aufs raue Meer hinaussah; der Wind peitschte durch das blasse Gras, und die Sonne hing tief am graublauen Himmel. Sie stellte sich vor, wie sie ausatmete. Das war alles, was sie sich von diesem Tag wünschte. Nicht vollständigen Frieden und Heilung. Nur einen Moment für sich, um die Augen zu schließen, an Spencer zu denken und richtig auszuatmen.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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