Читать книгу Am Abgrund balanciert es sich am besten - Fiona Lucas - Страница 16

13.

Оглавление

Brody starrte auf sein glänzendes neues Handy. Es war jetzt still, aber Annas letzte Worte klangen noch in seinen Ohren nach. Lewis stupste seine Hand an, um Aufmerksamkeit zu bekommen, doch Brody blickte weiter auf das Handy. Er erwartete nicht, dass es wieder zum Leben erwachte, aber er betrachtete die Anrufliste. Sie zeigte nur vier Einträge, alle von derselben Nummer.

Jeder Eintrag bestand nur aus einer Reihe von Zahlen. Elf, um genau zu sein. Das war alles, was von ihr übrig war, nachdem sie aufgelegt hatte. Nach allem, worüber sie gesprochen hatten, erschien es ihm ein wenig unpersönlich.

Er tippte auf »Neuen Kontakt hinzufügen«. Während er ihren Namen in das Feld eingab, sagte er sich, dass es eigentlich überflüssig war, da sie in der absehbaren Zukunft die Einzige sein würde, die ihn – vielleicht – anrief, aber er tat es dennoch.

Neben ihrem Namen war ein Platzhalter, der leblose graue Umriss eines Frauenkopfs vor einem helleren Hintergrund. Da er das zu nichtssagend fand, rief er das Verzeichnis »Bilder« auf, die werkseitig auf dem Handy gespeichert waren, und wählte eines davon: einen leicht gebogenen Maiglöckchenstängel. Es erschien ihm am passendsten.

Sie hatte jung geklungen und sehr zerbrechlich. Verloren.

Brody wusste, wie es war, sich verloren zu fühlen. Sehr gut sogar. Vielleicht hatte er ihr deshalb zugehört, statt aufzulegen.

Er schob das Handy in die Tasche seiner Jeans, dann ließ er Lewis noch mal zur Hintertür des Cottages hinaus, bevor sie schlafen gingen – Lewis in seinem Korb in der Küche, neben dem ölbefeuerten Aga, und Brody oben in seinem Schlafzimmer mit der niedrigen Decke und den dunklen Balken. Als er im Bett lag, sah er zwischen den offenen Vorhängen hindurch auf die dunstigen, mondscheingetränkten Wolken und dachte über das Gespräch mit Anna nach.

Sie steckte noch in dem furchtbaren Anfangsstadium, wenn der Schmerz alles überlagerte und man in einem endlosen quälenden Kreislauf aus Leid und Kummer feststeckte. Und Reue. Vergiss die Reue nicht, ermahnte er sich. Sie schien das harmloseste Element auf der Liste zu sein, aber Brody wusste, dass sie das mächtigste war. Reue schlug einen mit einem einzigen Haken zu Boden, wenn man es zuließ.

Habe ich sie belogen?, fragte er sich und suchte nach einer bequemeren Position. Hätte es wirklich etwas geändert, wenn er jemanden zum Reden gehabt hätte? Irgendeinen gesichtslosen Menschen, der ihn nicht kannte und nicht durch das Wissen um die Geschehnisse voreingenommen war? Theoretisch wäre es möglich, aber er bezweifelte es. Sehr sogar.

An der Tür ertönte ein Scharren, dann wurde sie durch einen frechen, hoffnungsvollen Terrier aufgeschoben. Da kein Tadel kam, trottete er zum Fußende des Bettes. Eine Sekunde später gab die Matratze nach, und Brody spürte eine feuchte Schnauze an seiner Hand. Lewis ließ sich neben ihm auf die Decke fallen und stieß einen langen zufriedenen Hundeseufzer aus.

Normalerweise bewahrte Brody sein Handy im Arbeitszimmer auf, aber nun lag es auf dem wackeligen alten Nachttisch aus dunklem Holz. Beim Einschlafen fragte er sich, ob es wohl nachts noch einmal klingeln würde, doch als er am nächsten Morgen aufwachte, zeigte die Liste nach wie vor nur vier Anrufe. Er scheuchte Lewis vom Bett und stand auf.

Er erblickte sich in dem alten fleckigen Spiegel des Schranks. Wann hatte er sich eigentlich zuletzt rasiert? Letzte Woche? Oder in der davor? Wie auch immer, er sah schlimm aus. Vielleicht würde er es nach dem Laufen tun. Obwohl er sich fragte, wozu das gut sein sollte. Hier sah ihn ja ohnehin niemand. Außer Lewis, aber so zottelig, wie er selbst war, gefiel ihm Brody unrasiert wahrscheinlich sogar besser.

Je älter er wurde, desto mehr ähnelte er seinem Vater. An den Schläfen zeigte sich ein wenig Grau, was in Anbetracht dessen, dass er seit seinem letzten Geburtstag offiziell dem mittleren Alter angehörte, wohl nicht ungewöhnlich war. Aber der Vierzigste war kein Schock gewesen. Er fühlte sich schon seit Jahren um einiges älter.

Über den Straßen und Wegen, die das Moor durchzogen, hing noch der Morgendunst, als er aus dem Haus trat. Das nächste Dorf war sieben Kilometer entfernt, die nächste Stadt gut vierzig, und genau deshalb hatte er diesen Ort gewählt, um sich niederzulassen. Außer ein paar Kühen und Raben würde ihm auf seiner Runde vermutlich keine lebende Seele begegnen.

Beim Loslaufen sah er auf die Uhr. Um acht kam die Lebensmittellieferung, er sollte also mindestens zehn Minuten vorher zurück sein. Er setzte über ein Gatter, was dank seiner langen Beine kein Problem war, und lief am Rand eines matschigen Feldes einen steilen Hügel hinauf.

Als er klatschnass geschwitzt und angenehm ausgepowert zum Cottage zurückkam, sprang Lewis ihm begeistert entgegen. Doch er war nicht allein – vor dem Haus stand mit laufendem Motor ein Lieferwagen mit der Aufschrift Hexworthy Organics in grünen Lettern.

Mist. Die Lieferung kam zu früh.

Lewis, dieser Verräter, lief mit wedelndem Schwanz los, um den Fahrer zu begrüßen, doch Brody schlug einen Bogen hinter die Nebengebäude, die zu seinem Grundstück gehörten. Es war nicht nötig, mit dem Mann zu reden; er schrieb bei jeder Bestellung dazu, dass der Fahrer alles in dem uralten kleinen Wintergarten abstellen sollte, den er als Abstellraum für Gummistiefel und dergleichen benutzte. Er würde keinen Ärger machen, wenn nicht alles dabei war. Er nahm, was sie ihm brachten.

Er trat von hinten in den Garten, schlüpfte durch die Terrassentür ins Wohnzimmer und von dort ins Arbeitszimmer. Der Typ war offenbar neu, denn er hämmerte an die Haustür und rief: »Hallo?«, begleitet von Lewis, der aus reinem Übermut bellte. Blöder Hund.

Schau auf deinen Zettel, Junge, dachte Brody. Da steht alles, was du wissen musst. Und dann zieh Leine und lass mich in Ruhe.

Was Brody jetzt wirklich brauchte, war eine Dusche, aber die Treppe war durch das Glas in der Haustür zu sehen, und so setzte er sich auf seinen Schreibtischstuhl und wartete, den Blick auf ein Stück abgeplatzte Farbe an der Fensterbank gerichtet, bis das Klopfen aufhörte und der Lieferwagen vom Hof fuhr und verschwand.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

Подняться наверх