Читать книгу Am Abgrund balanciert es sich am besten - Fiona Lucas - Страница 14
11.
ОглавлениеSteif und mit zusammengepressten Lippen fuhr Anna hinter dem Rover ihrer Schwiegereltern von Camber Sands zu ihnen nach Hause. Ihr Zorn war vorübergehend verraucht, als Gayle am Strand zusammengebrochen war – niemand wäre von diesem herzzerreißenden Schmerz unberührt geblieben –, aber er war erneut entfacht worden, als sie hilflos danebenstehen und zusehen musste, wie Richard und Scott Spencers Asche in die Wellen streuten.
Vermutlich hatte es eine dramatische Abschiedsgeste sein sollen, doch die Strömung oder die einsetzende Flut hatten dafür gesorgt, dass die winzigen Überreste ihres Mannes in einem grauweißen Schleier auf dem Wasser trieben und ihnen um die Füße gespült worden waren. Es war grauenhaft gewesen. Sie hätte sich keinen schlimmeren Abschluss für diesen ohnehin schon unerträglichen Tag ausdenken können.
Sie war so durcheinander, dass sie erst wieder an den kleinen gelben Bungalow gedacht hatte, als sie schon auf halbem Weg zu Gayles und Richards Haus war. Die ganze Fahrt über waren ihr die Worte, die sie ihrer Schwiegermutter sagen wollte, durch den Kopf gekreist, und jetzt kam sie sich vor wie ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine winzige Berührung, eine falsche Bewegung, und – Bumm! – würde sie explodieren.
Sie bog hinter Richard und Gayle in die Einfahrt. Das Aussteigen fiel ihr schwer, nicht nur weil sie steif vom Fahren war; sie fühlte sich vollkommen erschöpft, und ihr Körper war starr vor Anspannung. Die Haustür war offen, und Gayle stand daneben, um ihre Gäste hineinzuscheuchen. Anna ging darauf zu, blieb aber vor der Schwelle stehen.
»Anna?« Die Stimme ihrer Schwiegermutter klang leicht gereizt, und Anna spürte, wie ihr Blutdruck stieg. Sie konnte Gayle nicht ansehen. Sie konnte nicht mal den Hausflur hinter ihr ansehen. Es kostete sie ihre ganze restliche Kraft, sich zusammenzureißen.
Wenn sie da reinging und nach allem, was an diesem Nachmittag passiert war, höflichen Small Talk machen sollte, würde die Bombe in ihr explodieren. Sie war so wütend. So unglaublich, wahnsinnig wütend. Aber ein Rundumschlag bei Gurkensandwiches und Teeküchlein würde jetzt niemandem etwas nützen.
»Tut mir leid«, murmelte sie. »Ich glaube … Ich glaube, ich kriege Migräne.« Und bevor Gayle etwas darauf erwidern konnte, lief Anna zurück zu ihrem Auto, sprang hinein und rauschte aus der Einfahrt.
Sie wusste, dass Gayle ihr hinterherstarrte. Was ist mit den Fingersandwiches, Anna? Und den Windbeuteln? Doch Anna scherte sich nicht um die verdammten Windbeutel.
Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr sie nach Hause, die Hände um das Lenkrad geklammert, und sie musste an sich halten, um vor lauter Wut nicht das Gaspedal durchzutreten. Halte durch, sagte sie sich. Noch eine kleine Weile, dann kannst du die Tür hinter dir zumachen, dich dagegenlehnen und alles rauslassen.
Doch wegen eines Riesenstaus dauerte der Rückweg letztlich anderthalb Stunden. Beim Anblick ihres Hauses kamen ihr vor Erleichterung fast die Tränen. Mühsam stieg sie aus dem Auto. Der Weg zur Haustür schien wie in Zeitlupe abzulaufen, aber schließlich steckte sie den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und drückte sie hinter sich zu.
Gott sei Dank.
Sie ließ sich gegen die Tür sinken und wartete darauf, dass die Gefühle herausdrängten …
Aber nichts kam. Keine Explosion. Kein Fäustegetrommel, keine rasenden Schreie. Sie öffnete den Mund, um das Wutgeheul herauszulassen, das sie seit der Szene am Strand mühsam in sich gehalten hatte, doch alles, was sie hörte, war ihr flacher Atem. Sie schloss die Augen, damit die Tränen sich hinter ihren Lidern sammeln konnten, aber als sie sie wieder öffnete, waren sie so trocken wie Gayles Bratenfüllung.
Mit einem frustrierten Stöhnen ging sie nach oben ins Schlafzimmer, ließ sich auf das ungemachte Bett fallen und zog sich die Decke über den Kopf. Verdammt, sie konnte einfach nicht mehr.
Doch ihr stiller, dunkler Kokon half ihr diesmal nicht. Da ihr nichts Besseres einfiel, schloss sie die Augen und atmete ein und aus.
Einen Augenblick, mehr hatte sie nicht gewollt.
Einen Augenblick für sich allein, um auf ihre Weise an ihn zu denken, damit sie mit dem beginnen konnte, was alle ihr ständig rieten: nach vorne zu schauen. Aber das war ihr anscheinend nicht vergönnt.
Obwohl sich stets alles um Spencer drehte, wenn sie seine Familie besuchte, konnte sie mit Gayle nicht offen reden, und ihre eigenen Eltern wollte sie damit nicht belasten. Gabi, die Liebe, gab sich wirklich Mühe, aber sie wollte immer nur gute, positive und vernünftige Dinge hören, und manchmal war Anna eben alles andere als das. Manchmal musste sie einfach niedergeschlagen, negativ und wütend sein. Anders wurde sie das Gift nicht los.
Wie in Trance lag sie unter der Decke und ließ ihre Gedanken wandern wie Vögel, die auf der Suche nach einem Schlafplatz von Ast zu Ast hüpften. Sie kamen an einem unerwarteten Ort zur Ruhe.
Es hatte jemanden gegeben, der ihr zuhörte; jemanden, der sie offenbar tatsächlich verstand.
Aber dieser Jemand war eigentlich ein Niemand, eine anonyme Stimme am anderen Ende des Telefons, ohne jede Verbindung zu ihrem Leben, ohne all das emotionale Gepäck, das alle, die sie und Spencer gekannt hatten, mit sich herumschleppten.
Manchmal geschehen Dinge, hatte er gesagt, die alles auf den Kopf stellen, und danach ist das Leben nie mehr dasselbe.
Er, dieser Niemand, hatte Spencers Nummer bekommen. Und zu ihrer Überraschung stellte Anna fest, dass sie diese Nummer gerne noch einmal anrufen wollte. Vielleicht, weil er für sie Teil der Verbindung zu Spencer war.
Aber ihn anzurufen, wäre total seltsam. Diesmal würde sie mit ihm sprechen wollen, nicht mit dem Geist ihres verstorbenen Mannes. Mit diesem Fremden.
Mit dieser verwandten Seele.
Der Gedanke verfolgte sie den ganzen Rest des Abends. Sie blieb im Bett und las, blies Trübsal und starrte an die Decke. Nach einer Weile nahm sie ein Bad, zog sich ihren Schlafanzug an und legte sich wieder ins Bett, um zu lesen, Trübsal zu blasen und die Decke anzustarren.
Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie griff nach ihrem Handy und tippte auf den Eintrag in ihrer Anrufliste, der immer noch unter dem Namen »Spencer« lief. Ihr Herz pochte, während die Verbindung aufgebaut wurde. Sie schloss die Augen und betete, dass sie nicht die Ansage der Roboterstimme hören würde, und ausnahmsweise schien ihr Gebet erhört zu werden. Der Klingelton brach ab, und eine tiefe männliche Stimme meldete sich. »Ja?«
»Ich bin’s wieder«, sagte sie und atmete aus, um sich zu beruhigen. »Anna.«