Читать книгу Der Heilige mit der roten Schnur - Flavius Ardelean - Страница 13
KAPITEL ZWEI
ОглавлениеIN DEM WIR VON DER KINDHEIT TAUSHS ERFAHREN, IN DER ER DREIMAL VON DER WELT VERSCHWINDET UND IMMER WEISER ZURÜCKKEHRT. ABER AUCH IMMER TRAURIGER; TAUSH SPINNT SEINE SCHNUR
Nun, da ich dir alle wunderlichen Begebenheiten um Taushs Geburt erzählt habe, glaube nur nicht, dass die Wunder damit aufgehört hätten; nein, denn nur kurze Zeit nachdem unser Taush drei Jahre alt wurde, der bis dahin, wie ich schon sagte, bei seinem Gebrabbel (denn Taush begann erst spät zu sprechen) von Krabbeltieren begleitet worden war und von den Geistern des Ältestenrats und von jener merkwürdigen Stille und Reglosigkeit, als wäre heimlich etwas Unausgesprochenes und Unbewegtes nach Gaisterştat zu Besuch bei Taush gekommen – wie gesagt, da er so drei Jahre verbracht hatte, wurde er schließlich sehr einsam und beschloss, ein aufs andere Mal zu verschwinden, und er versteckte sich in wer weiß welchen Winkeln im Haus.
Was tust du? Du gähnst? Nicht dass dich der Schlaf mir raubt, während ich erzähle, denn keiner meiner Ahnen hat jemals dergleichen geduldet! Wir schlafen und essen bei der Rast, habe ich gesagt, sonst steigst du ab und gehst zu Fuß nach Alrauna. Damit du es weißt, mein Großvater sagte oft: Junge, wenn ich in 87 Jahren etwas über den Menschen gelernt habe, sagte er, dann ist es das, dass der Mensch zu viel isst, trinkt und schläft. Sei nicht wie der Mensch! Und siehst du, ich bin nicht wie der Mensch.
So höre:
Und weil Taush nun immerzu verschwand, wenn man es am wenigsten erwartete, so hörte man seine Mutter weinen, o weh, wo ist mein Kindchen, gebt mir mein Kindchen wieder! Dann fand sie ihn unter einer Treppe, im Mehlfass, in der Kühle des Kellers, bei den Tauben auf dem Dachboden, manchmal saß er auf dem Käse in der Speisekammer, schwieg und regte sich nicht, wie nur er so ewig dasitzen konnte, und die Mutter konnte zehnmal, sogar hundertmal an jenem Tag die Kammer öffnen und die Hand hineinstecken, konnte sogar den Kopf nach dem Benötigten strecken, ohne ihn zu sehen. Bis der Junge blinzelte und die arme Frau einen dem Tode verwandten Schrecken bekam und aus den Tränen des Unglücks Freudentränen wurden. Mit der Zeit weinte sie nicht mehr und die Frau fand sich mit dem Gedanken ab, wie jeder Mensch sich mit jederlei Gedanken abfindet, ob gut, ob schlecht, dass ihr kleiner Taush eben so war. Und all das weiß ich von meiner Mutter, die zu jenen Zeiten wie eine Schwester für Taushs Mutter war.
Aber eines Tages schien die Sache doch gar zu sehr übertrieben, so wie mit Zucker gesüßter Honig gut ist, aber doch zu gut, um noch gut zu sein. Taush kam nicht aus seinem Versteck, selbst als es Nacht in Gaisterştat wurde, und er kam auch nicht ans Licht, als die Morgendämmerung hereinbrach, und dann noch einen Tag so, dann noch einer und noch einer, bis im leeren Haus eine Woche um war und große Trauer herrschte. Manche sagten und behaupteten, die Mutter wäre verrückt geworden und hätte mit ihren eigenen Händen den Wundern des kleinen Taush ein Ende gesetzt (denn damals wusste man nicht, ob Taushs Kräfte der WELT angehörten oder der UN’WELT); andere sagten, das könnte nicht sein, denn die Mutter liebte ihr Kind und viel eher hätte sich das Kind so gut versteckt, dass es sich selbst nicht mehr wiederfand; und wieder andere sagten, ein Tier wäre durch die offen stehende Tür ins Haus gedrungen und hätte ihn gefressen; manche sagten, jemand hätte ihn gestohlen und würde ihn auf dem Jahrmarkt zur Schau stellen (Kommt und seht das wundertätige Kind!); oder die Geister des Rates hätten ihn mitgenommen; oder dass er einfach verschwunden wäre und aus, was gäbe es da zu verstehen?, fragten sie. Wie alles, was der kleine Taush tat: Es war dem menschlichen Verstand nicht zugänglich. Hätten sie die Käfer gefragt, vielleicht hätten sie es erfahren, aber wer kann die Käfer fragen? Taush war der Einzige.
Ob er zurückkam, fragst du mich? Er kam zurück, denn wäre es nicht so, hätte ich dir nicht fünf Tage lang etwas zu erzählen, und du hättest nicht vier Nächte lang zu träumen, nicht wahr? Nach einer Woche kam er zurück, als wäre nichts geschehen, und seine Mutter fand ihn im Hof, wie er brav mit einer Nachbarkatze spielte. Sie nahm ihn in die Arme, weinte – große Freude! Sie wollte schon den Tisch für die Verwandten und Nachbarn decken, aber als die Frau ihren Sprössling genauer ansah, kam sie ins Grübeln und immer sorgenvoller saß sie drei Tage und schlaflose drei Nächte da, denn, so sagte sie wohl zu meiner Mutter, eine Frau kennt ihr Kind, nicht wahr?, und der kleine Taush war nicht mehr derselbe. Etwas war mit ihm geschehen, seine Augen schienen tiefer im Kopf zu sitzen, sein Blick weiser zu sein, denn wenn man sagte, bisher hätte Taush gewirkt, als läse er geheime Zeilen in der Luft, um die WELT in der Stille seines Kopfes Zeichen für Zeichen zu begreifen, dann wirkte er jetzt, als läse er zwischen diesen Zeilen, und als wäre dort verborgen, was hinter dem hinter der Welt Verbogenen lag, und dass es für ihn qualvoll und kalt war. Aber Taush schwieg und niemand erfuhr jemals, wohin er für eine Woche verschwunden war.
Aber die Ahnung der Frau, dass ihr kleiner Taush weiser, doch auch bedrückter dort aus der Wildnis oder von der Rückseite der WELT zurückgekommen wäre oder woher auch immer, die bewahrheitete sich, als sie neuerdings merkwürdige Dinge um ihn herum geschehen sah. Wenn sie sich zu Tisch setzten, schien der alt gewordene Käse plötzlich frisch zu werden; wenn Taush mit dem Brotfladen aus der Kammer kam und seine Mutter wusste, er war trocken und hart gewesen, dann brachte er ihn frisch und weich; wenn der kleine Taush aus dem Keller kam, war der Wein, von dem sie wusste, er war abgestanden, wieder neu und frisch aus den Reben gepresst; und so weiter und so weiter. Aber sobald die Frau begriff, was geschah, jammerte sie nicht mehr und erfreute sich an den Geschenken des Jungen, und diejenigen, die davon erfahren hatten, (denn so ist es in der WELT, die Menschen reden), die wurden von ihr gar zu Hause empfangen, damit sie ihre Speisen und Getränke neben das Kind legten, während es ungerührt mit irgendeinem Holz spielte, das in Formen geschnitzt war, welche allein in seinem Verstand lebendig wurden, sodass Märchen daraus entstanden.
Aber es gab nicht nur die drei Wunder bei der Geburt des kleinen Taush, sondern auch drei Abwesenheiten, also sei brav und lausche. Und mach dir keine Gedanken mehr darüber, was unter der Plane ist, denn es ist schon kaum meine Sache, also umso weniger deine! Hör zu:
Es waren wohl zwei Jahre vergangen, seit der kleine Taush eine ganze Woche verschwunden gewesen war, und in diesen Jahren war er nirgendwohin gegangen und hatte sich nicht mehr versteckt, nicht einmal für den Augenblick eines Augenblicks. Aber eines Tages konnte seine Mutter ihn wieder nicht im Haus finden und sie vergoss den ganzen Tag Tränen und so auch am zweiten Tag und am dritten, und die Woche verging und sieh an, es wurden zwei Wochen, bis der kleine Taush durch das Tor kam, als wäre nichts geschehen, und er ging in die Speisekammer, um etwas von den in seinen Händen immerdar frischen Speisen zu sich zu nehmen. Als er wieder aus dem Haus kam, sah die Frau seine Augen und las darin Weisheit und Schmerz; sie begriff und schwieg. Sie küsste ihn auf die Stirn und überließ ihn sich selbst dort im Hof und auf den Straßen, wartend, wissend.
Und es war noch kein Tag vergangen, da zeigte sich das erste Zeichen seit seinem Fortgehen klar wie Quellwasser. Vor ihrem Haus: ein Gedränge, und als Taush herauskam und die Augen auftat, sah er da ein Pferd mit zwei gebrochenen Beinen liegen, das in seiner Sprache wehklagte vor seinem Herrn, welcher sich gerade anschickte, mit Tränen in den Augen das Beil auf die breite Stirn seines geliebten Pferdes zu schlagen, um es von den entsetzlichen Qualen zu befreien. Taush aber fing gleich an, keck zu pfeifen, und lief auf die Straße. Der Mann hielt inne und ließ sein Beil sinken. Das Kind begann, seine Finger auf gewisse Art zu kneten und eine bestimmte eigene Melodie zu pfeifen, und so über die gebrochenen Beine des Tiers gebeugt, arbeitete er in Gedanken und bearbeitete all seine Sinne. Ein paar Augenblicke später schlug das Pferd mit seiner Mähne in die Luft und ruckte zwei-, dreimal, dann stand es auf und zeigte sich seinem Herrn mit geheilten Knochen, stolz und kräftig. Die Menge verstummte und es waren nicht wenige derer, die vor dem fünfjährigen Jungen, dem kleinen Taush, auf die Knie sanken, welcher zum zweiten Mal davongelaufen und zurückgekehrt war – woher, wusste niemand –, und namentlich mit neuen Kräften, die den Heiligen der Wüste würdig waren. Aber Taush gab nicht viel auf die Verwunderung und Bewunderung der Umstehenden und kehrte zurück in den Hof seiner Eltern, zu seinem Spiel und seiner Ruhe im Schatten.
Aber das Gerede? Das Gerede steht nicht still, es geht um, und so kam es in jeden Hof und in jedes Haus und es gab keinen Mann, keine Frau und kein Kind in Gaisterştat, die nicht von dem neuesten Wunder Taushs erfahren hätten. Und jeder ging, wie er konnte, und mit dem, was er im Hof fand, zu Taush, auf dass er das Hühnchen, den Hund oder die Kuh pflegte; sie riefen ihn auch, damit er den Geburten von Fohlen und Kälbern zusah, so, sitz einfach hier, Kleiner, sagten die alten Frauen, sitz hier in der Nähe, falls die Stute oder die Kuh nach dir verlangt. Und der kleine Taush saß da, und von dem Tag an, bis er von zu Hause fortging (ja, er ging fort, aber dräng mich nicht, denn jedes Ding hat seine Zeit), wurde kein Tier mehr toll und es gab große Mengen an Fleisch und Milch und Eiern und Pelzen in Gaisterştat. Aber ob es dem kleinen Taush nun gefiel, dass er sich um die Tiere des Menschen kümmerte und der Mensch das Leben seines erstarkten Tieres beendete, das werden wir nun nie erfahren. Ich würde fast glauben, es gefiel ihm nicht, aber was soll man machen, so ist der Mensch, ohne Sinn und Verstand. Was weiß ich, ich bin nur ein armes Skelett, das Geschichten faselt unter dieser winterlichen Sonne. Bedecke deinen Kopf, dass du mir nicht wortbrüchig wirst und stirbst, denn so lautet unsere Verabredung nicht.
Wenn ich dir nun vom dritten Fortgehen Taushs erzähle, wirst du sicherlich sagen, ich sei ein Lügner – drei Wunder zur Geburt, dreimal weggegangen, was soll noch kommen? Drei Leben? Tatsächlich drei Leben, aber die anderen beiden sind nicht für hier und jetzt, sondern für andere Erzählungen an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Höre zu:
Gerade war unser Taush sieben Jahre alt geworden, aber sprechen wollte er noch immer nicht. Ich meine mit den Menschen, denn mit dem Ungeziefer und den wilden Tieren sprach er den lieben langen Tag und die tiefe Nacht hindurch. Und als er sieben Jahre alt wurde, gingen sein Vater und seine Mutter, um ihn ins Register der Schule bei der Kirche einzutragen, damit er lesen lernen sollte, auch wenn seine Mutter insgeheim wusste, dass der kleine Taush mit seinen sieben Jahren schon weiser war als alle Lehrer und Priester von Gaisterştat zusammen.
Als sie nach Hause kamen, wo war er da? Taush war wieder fortgegangen, das dritte Mal. Seine Mutter vergoss am ersten Tag keine Träne, auch am zweiten Tag nicht, auch als eine Woche um war nicht, denn, was habe ich gesagt?, der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch die zweite Woche verging ohne Tränen, aber immer mit warmem Kuchen für den Jungen, wenn er zurückkäme von dort, wo er war. Doch als die dritte Woche anbrach, fing die Frau an zu heulen und weinte in einer Stunde, was sie in den zwei letzten Wochen nicht geweint hatte. Sie weinte die ganze Woche und in der vierten, als sie sah, dass er nicht zurückkam, hämmerte der Vater sechs Bretter zusammen und machte dem kleinen Taush einen Sarg und hob ihn auf, bis jemand den Jungen in einem Abgrund oder unter einer Brücke finden würde. Aber siehe da, der Sarg fand keinen Nutzen, denn Taush kam wieder in den Hof, als hätte er keinen Augenblick gefehlt, und ich glaube, auch jetzt ist dieser Sarg noch irgendwo und fängt Staub, statt Asche zu beherbergen. Das Haus wurde fröhlich bei seinem Anblick und ganz Gaisterştat freute sich, dass ihr kleiner Heiliger wiedergekehrt war.