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2. Die emanzipatorische Kraft des Misstrauens*
ОглавлениеIm September 2017 besuchte ich eine Konferenz an der Staatlichen Universität der kasachischen Hauptstadt Astana und sollte am letzten Konferenztag einen Vortrag über Dschihadismus halten. Der Veranstaltungsraum war mit allerlei Hightech ausgerüstet. Ein armenischer Kollege wies mit dem Zeigefinger auf eine Kamera, die im Hintergrund lautlos vor sich hin schwenkte. Mal drehte sie hierhin, dann dorthin, die Intervalle waren nicht genau zu bestimmen, auch nicht, wer oder was jede Fokussierung veranlasste. Ich probierte mit Geräuschen oder Gesten die Kamera auf mich zu ziehen – mal gelang es, mal nicht, ich konnte keine Regelmäßigkeit entdecken. Nun sah ich auch die acht Mikrophone, die von der Decke hingen, sowie eine weitere Kamera auf der Stirnseite des Raumes. Mein Misstrauen war geweckt.
Ich sprach die Veranstalter an und fragte nach: Was wird aufgenommen, und von wem? Werden die Aufnahmen gespeichert? Wer hat zu ihnen Zugang? Keiner wusste es genau, man wollte sich erkundigen. Allerdings konnte nichts Genaues in Erfahrung gebracht werden. In dem Raum zu bleiben, war für mich keine Option, und so schlug ich vor, die Konferenz in einen anderen Raum zu verlegen. Ein Ausweichraum war jedoch nicht verfügbar.
Da eine (meiner Meinung nach unabdingbare) allgemeine Diskussion über den Umgang mit der Situation ausblieb, entschied ich mich, die Auseinandersetzung zu forcieren: Ich würde meinen Vortrag nur dann halten, wenn die Objektive der Kameras überklebt würden. Die Veranstalter hielten dies für undurchführbar und boten mir an, meinen Vortrag in der Hotellobby zu halten. Das klang nach Kapitulation, und ich trug mich mit dem Gedanken, die Konferenz zu verlassen. Mein Misstrauen legte mir nahe, die Beziehungen abzubrechen und mich zu entfernen – wie es so häufig passiert, wenn Misstrauen kein Gehör findet.
Aber ich blieb, weil ich einen anderen Weg für mein Misstrauen finden konnte: es in den Mittelpunkt zu stellen. Kurzerhand änderte ich das Thema meines Vortrages, allerdings ohne das anzukündigen. Ich improvisierte, setzte mich unter Druck, löste mich von dem Vorbereiteten. In dieser Suche nach alternativen Wegen als Auswegen zeigt sich Misstrauen von seiner explorativen Seite. Erst dann, wenn diese Suche ergebnislos verlaufen ist, bleibt nur noch die Flucht.
Mein Vortrag begann mit einer Enttäuschung für diejenigen, die sich auf das Thema Dschihadismus eingestellt hatten. Um zu begründen, warum ich über Misstrauen reden wollte, zeigte ich Fotos des Seminarraums, die ich tags zuvor aufgenommen hatte. Nach einiger Zeit lösten sich die Blicke der Zuhörer von den Kameras und Mikrophonen auf den Bildern und richteten sich auf die Kameras und Mikrophone im Raum. In vielen Gesichtern zeichnete sich Erstaunen ab, einige lachten. Die mediale Verdoppelung von konkreten Gegenständen hatte diese Gegenstände für einige überhaupt erst sichtbar gemacht.
Ein kasachischer Student rief »Welcome to Kazakhstan!«. Eine lokale Professorin berichtete von einer Kollegin, die vom Rektor für etwas kritisiert worden war, das dieser nur aus Videomitschnitten ihrer Lehrveranstaltungen kennen konnte. Nach dieser Wortmeldung verließ einer der lokalen Organisatoren den Raum. Ich war irritiert, einige Zuhörer wirkten eingeschüchtert.
Was war passiert? Dinge aus der unmittelbaren Umgebung waren zum Thema geworden – Dinge, die sonst nicht zum Thema werden, besonders nicht auf wissenschaftlichen Konferenzen. Diese Dinge hatten mich misstrauisch gemacht – und einige andere auch. Das Misstrauen entstand aus einer Verunsicherung darüber, was im Raum bleibt und was nicht. Auf einmal stellte sich die Frage, ob sich hinter dem Sichtbaren noch eine verborgene Dimension finden lässt, in der eine Agenda verfolgt wird, von der man nichts weiß. Wer sich eine solche Frage stellt, der fragt sich auch, wie sehr er sich auf diese Anordnung einlassen kann oder soll – und hält sich vermutlich zurück. Eine Misstrauensspirale kann entstehen. Und der Grundstein für eine Verschwörungstheorie ist gelegt.
Wer sich diese Frage jedoch nicht stellt, der liefert sich aus, und zwar mit unabsehbaren Folgen. Systemvertrauen ist hier blindes Vertrauen, das auf der Annahme beruht, dass gravierend negative Konsequenzen ausbleiben, wenn man sich konform verhält. Allerdings hat dieses Verhalten einen affirmativen Effekt auf Kontrollsysteme, die in ihrer Präsenz hingenommen werden, ohne dass ihre Reichweite und Grenzen in Frage gestellt würden. Ähnlich wie das stillschweigende Einverständnis in die Kommerzialisierung persönlicher Daten bei Facebook oder die resignierte Akzeptanz der pauschalen Überwachung privater Konversationen durch Geheimdienste wird einer Praxis Vorschub geleistet, die auf die eigene Entmündigung und politischen Kontrollverlust hinausläuft.
Durch die konzeptuelle Rahmung meines Vortrags passierte noch etwas: Misstrauen wurde explizit. Das ist ungewöhnlich, wirkt doch Misstrauen im Allgemeinen im Verborgenen. In der geschilderten Situation half die Offenlegung von Misstrauen nun, das Offensichtliche überhaupt erst einmal zu erkennen. Explizites Misstrauen wird jedoch schnell als Feindseligkeit verstanden. Und so erklärt es sich auch, warum einer der Organisatoren meinen Vortrag verließ. Er habe sich in die Zeiten des Kalten Krieges versetzt gefühlt, so machte er in der Abschlussdiskussion deutlich, in denen sich die einen ständig von den anderen bespitzelt fühlten. Warum könne man seinen Kollegen immer noch nicht vertrauen?