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Misstrauensarbeit

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So prominent das Phänomen Misstrauen in den großen zeitgenössischen Krisen vertreten ist, so wenig Beachtung hat es in der Wissenschaft bisher gefunden. Dem gegenüber steht in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Veröffentlichungen zum Thema Vertrauen. Grundlagenarbeit hat der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) geleistet, der Vertrauen in seiner gleichnamigen Studie 1968 ins Zentrum seiner Theoriebildung stellte. Für Luhmann ermöglicht Vertrauen die Reduktion sozialer Komplexität und dient damit der Lebensbewältigung. Wo Vertrauen fehlt, mache »unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen« selbst alltägliches Handeln unmöglich. Ohne Vertrauen kann der Mensch also nicht existieren.

Das Gleiche gilt für die Gesellschaft, so argumentiert Anthony Giddens (* 1938) – besonders für die moderne Gesellschaft, die nicht mehr auf personalisiertes Vertrauen setzen kann, sondern auf Institutionenvertrauen angewiesen ist. Jürgen Habermas (* 1929) überträgt das Vertrauen – hier: in die Wahrhaftigkeit des Gegenübers – in Akte der gelungenen Kommunikation als Grundlage von gesellschaftlicher Verständigung und Konsensfindung. Vertrauen ist nun nicht nur, wie für den klassischen Soziologen Georg Simmel (1858–1918), das Fett im Getriebe jeder Gesellschaft, sondern ist Grundlage, ist Konstitutionsbedingung des Projektes Moderne.

Wie erfolgreich dieses Projekt verläuft, könnte dann an der jeweiligen Präsenz von Vertrauen gemessen werden. Von dieser Grundannahme ausgehend, kartographiert der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (* 1952) die Welt: Auf der einen Seite stehen »high-trust societies« wie Deutschland, USA und Japan, auf der anderen Seite »low-trust societies« wie Frankreich, Italien oder postsowjetische Länder. Vertrauen, so Fukuyama, übersetzt sich direkt in politische Stabilität und wirtschaftlichen Erfolg. In diesem Sinne gehört es zu den Kernaufgaben der Politik, das Vertrauen ihrer Bürger zu kultivieren, und der Wirtschaft, Vertrauen zu kapitalisieren.

Misstrauen spricht hingegen kaum jemand konstruktives Potential zu. Als einer der wenigen hat Friedrich Nietzsche (1844–1900) das Misstrauen als ein erstrebenswertes Gut betrachtet. So rät er dem Philosophierenden, nicht nach Weisheit zu streben, sondern sein Misstrauen zu perfektionieren: »So viel Misstrauen, so viel Philosophie.« Misstrauen ist für ihn eine »Quelle der Wahrhaftigkeit«, weil es »Spannung, Beobachtung, Nachdenken nötig macht«.

Diese Bemerkungen sind jedoch weitgehend folgenlos geblieben; Misstrauen konnte sich weder als Mittel der Wissensgewinnung noch als vollwertiger Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung durchsetzen. Die mangelnde Reflexion von sozialen Praktiken, die wir mit Misstrauen assoziieren, reduziert Misstrauen auf das Gegenteil von Vertrauen, auf das, was ist, wo kein Vertrauen herrscht – also auf Abwesenheit von etwas und deshalb als Problem.

Als Abwesenheit wird Misstrauen dort lokalisiert, wo Attribute von Vertrauen fehlen. Einen Grund hierfür bietet die Bedeutung des Wortes selbst. Die Vorsilbe »miss« bringt, ähnlich wie das englische »mis« in »mistrust« oder »dis« in »distrust« einen Kontrast, einen Gegensatz, einen Mangel zum Ausdruck. Das Fehlen von Vertrauen führt aber eher zu Angst oder Indifferenz und damit zu passiven Haltungen, die nicht mit Misstrauen zu verwechseln sind. Misstrauen hingegen ist eine Haltung des Engagements, die ihren Ausdruck in »defensiven Vorkehrungen« (Luhmann) findet. Im Gegensatz zu Vertrauen wird nicht mit einem glücklichen Ausgang gerechnet, sondern das Scheitern ins Kalkül gezogen. Um die Folgen eines möglichen Scheiterns abzumildern, werden alternative Handlungsoptionen in Stellung gebracht und Vorkehrungen für den Ernstfall getroffen. Misstrauen verhindert Handlungen also nicht, sondern ist Arbeit. Das Verständnis von Misstrauen als Abwesenheit ist mithin ein Missverständnis.

Verständlich wird dieses Missverständnis nur dann, wenn es in seiner negativen Setzung als Problem gesehen wird. Im Gegensatz zu dem eng verwandten Zweifel, der von dem Philosophen René Descartes (1596–1650) als höchster Wert bei der systematischen Gewinnung wahrer Erkenntnisse angesehen wurde, wird Misstrauen kein erkenntnisfördernder, kein heuristischer Wert zugesprochen (mit Ausnahme von Nietzsche). In therapeutischen Mediationen wird daran gearbeitet, Misstrauen zu überwinden, um Kooperation und Zusammenhalt bzw. Kohäsion zu ermöglichen. »Wo Es war, soll Ich werden«, heißt es in der Psychoanalyse, hier könnte es dementsprechend heißen: »Wo Misstrauen war, soll Vertrauen werden.« Im Wirtschaftsleben gilt das Misstrauen der Belegschaft als ernsthafte Funktionsstörung. Etliche Ratgeber zeigen den Weg zum »Vertrauen als Schlüssel zum Führungserfolg«.

Nicht nur für den Politikwissenschaftler Fukuyama, auch für Soziologen wie Piotr Sztompka (* 1944) und Barbara Misztal (* 1951) stellt ein »tiefsitzendes Syndrom des Misstrauens« das zentrale Hindernis für den Übergang von Gesellschaften zur Demokratie dar. Um dennoch eine politische Transformation zum Besseren zu ermöglichen, sind vertrauensbildende Maßnahmen notwendig. Besonders in anwendungsbezogenen Kontexten wird Misstrauen als Indikator für ein substantielles Problem operationalisiert. Einmal erkannt, werden so schnell wie möglich Mechanismen zu dessen Überwindung in Gang gesetzt. Bleiben diese (oder deren Erfolg) aus, kann Misstrauen systemisch und zur prägenden Eigenschaft einer Person oder Gruppe werden.

Misstrauen als das Verhalten grundsätzlich prägende, als habituelle Eigenschaft zu unterstellen, bedeutet also zugleich, die betreffende Person oder Gruppe problematisch erscheinen zu lassen. Die Unterstellung von Misstrauen dient damit zur Abgrenzung und ist Teil einer Problematisierungsstrategie. Wem unterstellt wird, misstrauisch zu sein, dem muss geholfen werden – oder dem ist nicht mehr zu helfen.

Misstrauen

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