Читать книгу Misstrauen - Florian Mühlfried - Страница 8
Spektrum
ОглавлениеDie Praxis des Misstrauens ist also wesentlich vielfältiger, als dessen problematisierendes Verständnis dies anzunehmen erlaubt. Um das gesamte Spektrum des Misstrauens erfassen zu können, sollen deshalb im Folgenden einige Eckpunkte gesetzt werden. Solche Eckpunkte bestehen in dem nach außen wirkenden (zentrifugalen) und nach innen wirkenden (zentripetalen) Potential des Misstrauens. Zentripetales Misstrauen zeigt sich in gesellschaftlichem Engagement zur Kontrolle staatlicher oder wirtschaftlicher Tätigkeiten, etwa durch Vereinigungen wie den Bund der Steuerzahler oder Greenpeace. Zentrifugales Misstrauen hingegen will die Gesellschaft nicht verbessern, sondern sich von dieser lösen. Beispiele dafür sind dschihadistische und andere sektiererische Gruppierungen, die die Alltagswelt als grundsätzlich vertrauensunwürdig betrachten und auf eine vollständige Vertrauensverlagerung in die eigenen Netzwerke drängen.
Diese beiden Extremformen von Misstrauen begrenzen die Skala des Misstrauens auf folgende Weise:
Die allermeisten Formen von Misstrauen liegen zwischen diesen beiden Extrem- bzw. Eckpunkten, zielen also weder auf eine Verbesserung des Systems (zentripetal) noch auf dessen vollständige Abschaffung (zentrifugal) ab. Sie beruhen auf der Anerkennung eines Systems, das als unüberwindbar, zugleich aber als nicht vollständig vertrauenswürdig wahrgenommen wird. Vorwiegend äußert sich Misstrauen hier in dem Versuch, mit dieser Konstellation ein Auskommen zu finden.
Eine weitere Möglichkeit, Misstrauen zu skalieren, besteht darin, offene und verdeckte Formen von Misstrauensäußerungen zu unterscheiden. Im Alltagsleben manifestiert sich Misstrauen ganz überwiegend verdeckt, da es tabuisiert wird: Misstrauen zu zeigen macht angreifbar; es gilt als destruktiv, als Zeichen eines falschen Bewusstseins. Allerdings steht das offene Zeigen von Misstrauen mit dessen beiden Extremen in Beziehung: Es ist sowohl dort offensichtlich, wo es als zivilgesellschaftliches Anliegen demonstrativ zur Schau gestellt wird, als auch in der radikalen Ablehnung der misstrauten Welt am anderen Ende der Skala.
Durch die negative Bewertung bzw. die Stigmatisierung von Misstrauen äußert es sich meist verdeckt. Aus diesem Grunde sind viele Formen von Misstrauen – besonders die alltäglichen – zwischen diesen beiden Polen zu verorten.
Innerhalb des Spektrums des verdeckten Misstrauens können ein aktiver, ein passiver und ein neutraler Modus voneinander unterschieden werden. Im aktiven Modus erscheint Misstrauen in der Figur der Verdoppelung. Während auf der Ebene der Oberfläche Vertrauenswürdigkeit suggeriert wird, wird Misstrauen auf einer verborgenen Ebene Raum zu ungehinderter Entfaltung gegeben. Dazu kann sich der Misstrauische bestimmter Konventionen bedienen, die es ihm erlauben, seine Gedanken und Gefühle von seinen Worten und Gesten zu entkoppeln.
Sowohl die Trennung der Ebenen als auch die Investition in das Verbergen von Misstrauen erfordert Anstrengung. Deshalb ist Misstrauen, wie auch von den Anhängern der Theorie der rationalen Entscheidung (aber aus anderen Gründen) behauptet, kostenintensiver als Vertrauen. Für manche gehören diese Anstrengungen zum Beruf. Ein Diplomat beispielsweise muss sich in der Fähigkeit schulen, mit doppelter Zunge zu sprechen und hinter den Worten zu lesen.
Der passive Modus der misstrauischen Abwendung zeigt sich in der Haltung des lieber nicht. Im Gegensatz zur oben genannten Strategie soll Engagement hier abgewendet werden – allerdings nicht um den Preis des offen gezeigten Misstrauens, denn dieses könnte Konflikte (und damit wieder Engagement) nach sich ziehen. Wenn möglich, soll der Kontakt zum Objekt des Misstrauens vermieden werden, ohne für Aufsehen zu sorgen; man macht einem Fremden lieber nicht die Tür auf und tut so, als wäre man nicht zu Hause. Man geht lieber kein Geschäft ein, unter dem Vorwand, man sei zu beschäftigt. Man plant lieber keine Projekte, weil man sich angeblich um den kranken Vater kümmern muss. Existentielle Unsicherheit verschärft sowohl Misstrauen als auch die Tendenz zur Vermeidung.
Der neutrale Modus des Misstrauens findet im Vorbehalt seine Form, was bedeutet, dass nicht alle Gefühle, Gedanken oder Dinge geteilt werden. Dieser Vorbehalt unterlegt die Art und Weise, sich in der Welt zu bewegen – weder teilnahmslos noch vollkommen überzeugt. Ein solcherart eingestellter Mensch wirkt auf andere »reserviert«. Auf der einen Seite ist diese Haltung als eine Absicherungsstrategie zu verstehen: Ein möglicher Verlust, mit dem immer gerechnet wird, soll minimiert werden. Auf der anderen Seite ermöglicht dieser Modus dennoch, sich an Interaktionen zu beteiligen, wenn auch auf Sparflamme.
Integriert man diese Modi in die Skalierung des Misstrauens, ergibt sich folgendes Bild:
Die Praxis des Misstrauens unterscheidet sich also durch offene und verdeckte sowie zentripetale und zentrifugale Formen. Sowohl zentripetales als auch zentrifugales Misstrauen sind erkennbar; die anderen, weiter verbreiteten Praktiken des Misstrauens werden unter einer Oberfläche verdeckt und zeigen sich aktiv als Engagement oder passiv als Vermeidung.