Читать книгу Disziplinierung durch Medizin - Florian Steger - Страница 7
Vorwort
Оглавление„In einem Zimmer muss ich mich entkleiden, vollständig. Man reicht mir graue Einheitskleidung, die ziehe ich an. Dann werde ich abgeführt, einen langen Gang entlang. An seinem Ende ein großes Gitter. Es öffnet sich für mich. Ohne ein Wort werde ich durch die Öffnung geschoben. Mit einem ‚Klack‘ fällt das Gitter hinter mir zu. Innen. Aus drei Räumen kommen mir Frauen entgegen. Alle in dieser Kleidung, die auch ich jetzt trage. ‚Wo bin ich hier?‘, höre ich mich fragen. Die Frauen lachen: ‚In der Tripperburg – herzlich willkommen!‘“1 Unter dem Pseudonym Juli Sommermond veröffentlichte im Jahr 2013 eine ehemalige Patientin der geschlossenen Venerologischen Station im Krankenhaus Berlin Buch ihre Autobiographie. Darin schildert sie, wie sie als 14-jähriges Mädchen auf die Station gebracht wurde und berichtet von den erschütternden Ereignissen in ihrem jungen Leben auf der Station.
Nicht nur Juli Sommermond, sondern viele weitere Patientinnen haben inzwischen ihr jahrelanges, mit Ängsten und Scham besetztes Schweigen gebrochen. Patientinnen von der geschlossenen Venerologischen Station in Leipzig Thonberg oder von der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) berichteten gegenüber Mitarbeitern der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt und gegenüber den öffentlichrechtlichen Medien über schockierende Ereignisse auf den geschlossenen Venerologischen Stationen.2 Die Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) und die Berichte der Patientinnen, die zwischen dem 12. und 72. Lebensjahr zwangsweise zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten auf die geschlossene Venerologische Station der Poliklinik Mitte gebracht wurden, sind Gegenstand der vorliegenden Darstellung.
Für die Rekonstruktion der Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) haben wir neben umfangreichen Archivrecherchen, vor allem Interviews mit ehemaligen Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station geführt. Gleichzeitig haben wir mit Ärzten und Krankenschwestern gesprochen, die auf der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte tätig waren. Aber auch Zeitzeugen aus Halle (Saale), die als ambulante Patienten der Poliklinik Mitte den Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station begegnet sind, konnten wir für Interviews gewinnen. Wir haben uns umfänglich bemüht, alle Akteure anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Leider wurde von Seiten der Gruppe der Ärzte, selbst auf unser Zugehen, häufig der Kontakt verweigert. Alle, die mit uns reden wollten, kommen in diesem Buch zu Wort. Die Berichte der Patientinnen, Ärzte, Krankenschwestern und Zeitzeugen stehen in großen Teilen für sich. Deshalb haben wir uns entschieden, viele Zitate aus den anonymisierten Interviews abzudrucken.
Die hier präsentierten Ergebnisse reflektieren den aktuellen Stand unserer Forschungsarbeit. Unsere Recherchen haben gezeigt, dass in weiteren Bezirken der DDR geschlossene Venerologische Stationen eingerichtet wurden. Auch haben sich Patientinnen bei uns gemeldet, die in Berlin oder Leipzig die Zwangseinweisung auf eine geschlossene Venerologische Station erlebt haben. Die wissenschaftliche Arbeit an diesem Kapitel der DDR-Geschichte steht also noch am Anfang. Und doch lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen, dass die Verhältnisse in Halle (Saale) eine außerordentliche Situation darstellten, die sich nicht zuletzt durch die Leitung der Station bedingt. Wir haben weitere Forschung geplant, welche die DDR-weite Perspektive vergleichend in den Blick nimmt. Dann können unsere gegenwärtig gesammelten und aufbereiteten Aussagen mit neuen Erkenntnissen in Kontext gesetzt werden. Wir möchten schon jetzt alle einladen, uns bei der weiteren Arbeit zu unterstützen und uns neue Informationen bzw. persönliche Erfahrungen mitzuteilen.
Die bisherige Arbeit wäre ohne die ehemaligen Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale), in Berlin und in Leipzig, welche sich an uns gewendet und mit uns gesprochen haben, nicht möglich gewesen. Die Patientinnen haben ihr Schweigen überwunden und ihre sehr intimen Schilderungen der Erlebnisse auf der geschlossenen Venerologischen Station vertrauensvoll an uns weitergegeben. Sie haben mit ihrem Schritt nach außen einen wesentlichen Impuls gegeben, um dieses Kapitel der Geschichte der DDR-Medizin schreiben zu können. Für diesen ersten wichtigen Schritt gilt den Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale), in Berlin und in Leipzig unser großer Dank. Nicht nur die Patientinnen, sondern auch die Ärzte, Schwestern oder Verwaltungsangestellten der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) sowie die Zeitzeugen haben sich in den Interviews mit uns ihrer individuellen Vergangenheit gestellt. Dieser Schritt auf uns zu war keine Selbstverständlichkeit. Auch für diese Schilderungen und das Vertrauen in unsere Arbeit möchten wir uns bedanken.
Für die Initiierung des Projekts sowie die Unterstützung und Hilfe bei den Recherchen möchten wir uns bei der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt, Frau Birgit Neumann-Becker, und ihrem Stellvertreter, Herrn Christoph Koch, herzlich bedanken. Dank gilt darüber hinaus Frau Heidi Bohley vom Verein Zeit-Geschichte(n) – Verein für erlebte Geschichte, Herrn Ralf Jacob vom Stadtarchiv Halle (Saale), Herrn Udo Israel vom Evangelischen Diakoniewerk Halle (Saale), Frau Annett Glatz und Herrn Jörg Wildermuth vom MDR Sachsen, Herrn Henryk Löhr vom Arbeitskreis Innenstadt e. V. Halle (Saale), Frau Silvia Zöller von der Mitteldeutschen Zeitung und Frau Marion Schneider von der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden. Darüber hinaus danken wir Frau Saskia Gehrmann, Frau Nadine Wäldchen, Herrn Jan Jeskow und Herrn Manuel Willer für ihre vielfältige Unterstützung.