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1 Einleitung

1.1 Fragestellung

Am 14. August 1949 stellte der Rat der Stadt Halle (Saale) bei der Landesregierung Sachsen-Anhalt, Minister für Wirtschaft und Verkehr, Hauptabteilung Bauwesen, einen Bauantrag zur „Einrichtung einer Beobachtungsstelle d. Fachkrank.“ in der „Gr. Nikolaistr. 3 u. Kl. Klausstr. 16“.3 Knapp vierzehn Tage später, am 2. September 1949, stellte der Rat der Landeshauptstadt Halle (Saale) erneut einen Bauantrag für die Kleine Klausstraße 16 bei der Landesregierung Sachsen-Anhalt.4 In diesem Schreiben wird als Zweck des Bauvorhabens, die „Einrichtung v. Krankenräumen für Geschlechtskranke“5 in Halle (Saale) angegeben. Weitere sechs Wochen später wandte sich die Abteilung Bauaufsicht des Rats der Stadt Halle (Saale) erneut an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, um den „Ausbau von Unterkünften für Geschlechtskranke“ zu beschleunigen.6 In diesem Schreiben wird noch einmal die „Dringlichkeit“ des Bauvorhabens betont und auf die „Eilbedürftigkeit“ der Genehmigung verwiesen.7 In den folgenden Monaten wurden weitere Schreiben zur Genehmigung des Bauvorhabens aufgesetzt, bis am 27. Juni 1950 ein „Bauschein“ für das Bauvorhaben in der Kleinen Klausstraße 16 ausgestellt wurde.8

Mit diesem Bauschein endete eine Jahre andauernde Diskussion zwischen verschiedenen Ämtern der Stadt Halle (Saale), so dem Jugend- und Fürsorgeamt, dem Gesundheitsamt und dem Kriminalamt. Inhalt der Auseinandersetzungen waren die Fragen zur geeigneten Unterbringung und medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Geschlechtskrankheiten in Halle (Saale).9 Der Bauschein markierte aber vor allem den Beginn einer über mehrere Jahrzehnte existierenden geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale), in der Frauen ab dem 12. Lebensjahr gegen ihren Willen und teilweise ohne medizinische Indikation, Eingriffe in ihre körperliche Integrität ertragen mussten. Mit der Unterbringung auf der geschlossenen Venerologischen Station sollte durch „erzieherische Einwirkung (…) erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen.“10 Erst im Jahr 1982 wurde die geschlossene Venerologische Station, seit 1961 Teil des Bezirkskrankenhauses Dölau am Standort Poliklinik Mitte, aufgelöst.11

Die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) war als Institution kein Einzelfall. Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland12 als auch in der DDR13 wurden geschlossene Venerologische Stationen eingerichtet bzw. nach Ende des Zweiten Weltkriegs weitergeführt. Während die rechtlichen Bestimmungen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in den von den Alliierten besetzten Westzonen zersplittert waren, wurden Zwangsmaßnahmen gegen Geschlechtskranke durch das „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ vom 23. Juli 1953 einheitlich für die Bundesrepublik Deutschland geregelt.14 Beispiele für geschlossene Stationen in der Bundesrepublik Deutschland sind vor allem die geschlossenen Abteilungen für Haut- und Geschlechtskrankheiten in den Hafenstätten Bremen15 und Hamburg16, die bereits mehrfach untersucht wurden. In der SBZ waren Zwangsmaßnahmen gegen Geschlechtskranke in den frühen Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) verankert, beispielsweise in der „Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und der deutschen Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“ vom 11. Dezember 1947. Dieser SMAD-Befehl verlor seine Gültigkeit mit Inkrafttreten der „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ vom 23. Februar 1961.17 Neben den rechtlichen Grundlagen existierten in der SBZ/​DDR auch die institutionellen Voraussetzungen für die zwangsweise Unterbringung von Geschlechtskranken. So wurden beispielsweise in den 1950er Jahren, Geschlechtskranke auf eine geschlossene Station im Krankenhaus Nordmarkstraße in Berlin eingewiesen,18 kamen in die geschlossene Abteilung der Hautklinik der Medizinischen Akademie in Erfurt oder nach Leipzig Thonberg. Mitte der 1960er Jahre hatte sich die Zahl der geschlossenen Stationen für Geschlechtskranke in der DDR bereits verdoppelt (Berlin, Dresden-Friedrichstadt, Erfurt, Gera, Halle [Saale], Leipzig, Rostock, Schwerin).19

Mit der Einweisung und Behandlung von Geschlechtskranken in geschlossene Venerologische Stationen wurde an eine Tradition in der medizinischen Versorgung geschlechtskranker Personen angeknüpft, die im 19. Jahrhundert entstand.20 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts zielen staatliche Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten auf die Festsetzung und Kontrolle der Geschlechtskranken in geschlossenen medizinischen Einrichtungen.21 Vor allem mit der Entdeckung der Erreger von Geschlechtskrankheiten sowie der Entwicklung von Salvarsan als Therapeutikum gegen die Syphilis, wiesen Ärzte die Geschlechtskranken vermehrt in geschlossene Stationen ein.22 Ziel der Einweisungen war, die Anwendung des Therapeutikums Salvarsan zu erproben und zu kontrollieren sowie die Prostitution zu regulieren.23 Wurden in der Weimarer Republik der Gedanke der Prävention24 gestärkt und mit dem „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ vom 18. Februar 1927 die Kompetenzen der Polizei bei der Festsetzung von Prostituierten stark beschnitten, so setzte das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 diese Beschränkungen außer Kraft.25 Geschlechtskranke Personen, die unter dem Verdacht der Prostitution standen, konnten nun wieder durch Ordnungskräfte in Krankenhäuser zwangseingewiesen werden.26 Mit den geschlossenen Venerologischen Stationen im Nachkriegsdeutschland wurde an Behandlungskonzepte Geschlechtskranker angeschlossen. In der SBZ/​DDR wurden diese Konzepte durch pädagogische Aspekte ergänzt, die das Ziel hatten, die Patientinnen zu „sozialistischen Persönlichkeiten“27 zu erziehen. Vor diesem Hintergrund werden nun die Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) und vor allem die Ereignisse auf der Station rekonstruiert. Dabei stehen folgende Fragekomplexe im Mittelpunkt der Untersuchung: (1) Vor welchem institutionellen und rechtlichen Hintergrund wurde die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) eingerichtet? (2) Wie war der Aufbau und welche Funktion hatte die geschlossene Venerologischen Station in Halle (Saale)? (3) Wer arbeitete auf der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) und welche Patientinnen wurden dort zwangseingewiesen? (4) Wie und weshalb wurden die Patientinnen auf die geschlossene Venerologische Station eingewiesen, und welche (medizinischen) Eingriffe wurden dort durchgeführt? (5) Was mussten die Patientinnen tagtäglich erleben, und welchem Terror waren sie ausgesetzt? (6) Schließlich haben wir gefragt, in welche institutionellen Zusammenhänge die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) eingebunden war, und ob die Ereignisse auf der Station in Halle (Saale) ein Einzelfall in der DDR waren.

Disziplinierung durch Medizin

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