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Hamburg, Mai 1943

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Ilse Kramer hatte sich als Kind die Geräusche der Schritte eines Riesen aus dem Märchen immer als donnernd und den Boden erbeben lassend vorgestellt. Noch entfernt aber immer schneller näher kommend erschütterten Detonationen das Kellergewölbe und ließen Kalk von der Decke rieseln. Die schwach funzelnden Lampen gingen kurz aus und flackerten dann wieder auf. Mit ihr und ihren beiden kleinen Söhnen saßen ungefähr 20 Menschen auf Holzbänken in dem Luftschutzraum. Alle hatten einen kleinen Koffer vor sich stehen in dem sich wichtige Dinge wie Papiere oder Wertgegenstände befanden. Vor einer knappen halben Stunde war Luftalarm ausgelöst worden und die Leute aus dem Haus waren zwar eilig, aber ohne Panik nach unten gegangen. Seit mehreren Wochen flogen die Briten und Amerikaner Angriffe gegen die Stadt und da nicht nur Hamburg als Ziel festgelegt worden war, war die deutsche Luftverteidigung hoffnungslos überfordert, da ihr ausreichende Kräfte fehlten. Die waffenstarrenden B 17 Bomber bildeten riesige Pulks und die mitfliegenden Begleitjäger hielten die wenigen deutschen Jagdflugzeuge auf Distanz. Auch die rings um die Stadt postierten Flakbatterien und die dort schon lange von Hitlerjungen bedienten Geschütze konnten nur wenig gegen die Angreifer ausrichten und deren Verlustrate war gering. Die Amerikaner flogen tagsüber ein, die Briten nachts. Durch Fehler bei den Zielmarkierungen wurde die Stadt nach und nach wie planlos zerstört, aber das eigentliche Ziel war die Vernichtung der Zivilbevölkerung und deswegen konzentrierten sich die Angriffe vorerst nicht auf die an der Peripherie liegenden Industriegebiete, sondern auf die Innenstadt.

Gestern hatte Ilse Kramer Post von ihrem Mann erhalten. Gunter Kramer befand sich fast 1.000 Kilometer von seiner Familie entfernt in Russland. Der Feldwebel war Kommandant eines Sturmgeschützes III und stand seit Wochen in schweren Abwehrkämpfen an der Ostfront. Seine Frau und seine Söhne hatte er letztmalig im September des vorigen Jahres gesehen und ihm war angekündigt worden, dass er und die Männer seiner Besatzung Ende Mai zur Auffrischung für eine Woche in den Heimaturlaub fahren könnten. Ilse Kramer hatte große Freude über diese Nachricht empfunden und die täglichen Sorgen waren klein geworden. Bis jetzt hatten die Angriffe ihr weiter weg von Stadtzentrum liegendes Viertel nicht erreicht und es keimte die leise Hoffnung auf, dass es so bleiben könnte. Plötzliche Einschläge in der Nähe ließen den Boden beben und wieder tropfte Kalk von der Decke und den Wänden ab. Dann war das Geräusch des aufstampfend marschierenden Riesen wieder da und die Jungen drückten sich schutzsuchend an ihre Mutter.

„Mama, wann ist der Krach vorbei“ fragte einer ängstlich.

„Ich weiß es nicht Karl. Bestimmt bald. Dann gehen wir wieder in die Wohnung hoch.“

Die Einschläge kamen noch näher, dann hob eine gewaltige Detonation den ganzen Kellerraum ein Stück an, einige der Leute stürzten von den Bänken, Angstschreie wurden laut. Das Licht ging aus und Taschenlampen flammten auf. Es schmetterte jetzt unaufhörlich von oben und die Wände des Luftschutzraumes wankten, einige Ziegelsteine lösten sich aus den Wänden und von der Decke fielen jetzt nicht mehr bloß Kalk, sondern ganze Betonbrocken. Über den gefangenen Menschen im Luftschutzraum tobte ein Inferno aus explodierenden Luftminen, Sprengbomben und Feuer auslösenden Stabbrandbomben. Trotz der krachenden Detonationen war deutlich zu hören, dass über und neben dem Luftschutzraum Gebäude einstürzten, alles schwankte im Keller. Ilse Kramer hörte Weinen und Beten und drückte ihre Söhne ganz fest an sich.

„Aufhören“ schrie eine Frau in Todesangst „ich will hier raus!“

In diesem Augenblick traf eine Sprengbombe das Haus über ihnen direkt und riss einen Teil der Decke des Schutzraumes auf. Trümmer des zusammengestürzten Hauses über dem Keller prasselten in den Raum und begruben vier des an dieser Stelle sitzenden Menschen. Entsetzensschreie ertönten. Ilse Kramer sah durch die Ritze im Schutt etwas Licht, packte ihre Kinder und ging schreckensstarr dorthin, da die Luft an ihrem Platz knapp geworden war. Wahrscheinlich würden die Einsatzkräfte der Feuerwehr später an dieser Stelle versuchen die Verschütteten auszugraben.

Der Pilot der B 17 hatte die Stabbrandbomben mit den Sprengzündern nur ungern als Waffenladung an Bord. Zwar wurde die Zündnadel des Aufschlagzünders durch einen Sicherungsstift arretiert, aber er hatte trotzdem ein ungutes Gefühl, weil diese Modifikation der Brandbomben heute das erste Mal zum Einsatz kam. Er flog in der zweiten Welle mit, denn es hatte sich bewährt, die Bodenziele erst mit Luftminen und Sprengbomben anzugreifen. Die Sprengbomben waren in den meisten Fällen mit Verzögerungszündern versehen, so dass sie nicht beim Aufschlag explodierten, sondern erst tief im Erdreich oder in den Luftschutzräumen. Diese Bomben hatten die Aufgabe, Wasser- und Gasleitungen zu zerstören und damit auch eine Brandbekämpfung zu verhindern oder zu erschweren. Die Minen dagegen entwickelten einen ungeheuren Luftdruck und deckten die Dächer der Häuser ab und zerstörten Fenster und Türen. Da die Dachstühle überwiegend aus Holz bestanden fanden die Flammen schnell Nahrung und durch die meist hölzernen Treppenhäuser konnte sich das Feuer auch schnell nach unten ausbreiten, so dass die Häuser vollständig ausbrannten und ganze Stadtviertel in einem Feuersturm vernichtet wurden. Als der Pilot nach unten schaute sah er schon dichten Rauch aufsteigen und als er die Abwurfposition erreicht hatte regneten mehr als 80 Stabbrandbomben herab. Der Mann wusste auch, dass noch eine dritte Welle von Bombern folgen würde, die in zirka 15 bis 20 Minuten über der Stadt erscheinen sollte, um durch den Abwurf weiterer Bomben die am Boden laufenden Rettungs- und Brandbekämpfungsmaßnahmen zu verhindern, so dass sich das Feuer weiter ungehindert ausbreiten könnte. Der Pilot schaute sich um, deutsche Jagdflugzeuge waren weit und breit nicht zu sehen. Der Heimflug sollte eigentlich ungefährlich sein und er würde mit seinen Männern heute Abend im Kasino ein paar Biere auf den erfolgreichen Einsatz trinken.

Genau wie alle anderen im Keller war Ilse Kramer über und über mit Staub bedeckt und durch den eindringenden Rauch schmerzten ihr die Lungen. Wieder waren relativ nah Explosionen zu hören, dann detonierte eine Sprengbombe 5 Meter von der eingestürzten Kellerdecke entfernt und fegte einige Trümmerstücke dort beiseite. Dadurch war es möglich, durch ein Loch von ungefähr 2 Meter Durchmesser den Luftschutzraum zu verlassen. Als sie mit ihren Kindern nach draußen flüchten wollte schlug eine Brandbombe an dieser Stelle ein. Sofort trat eine starke Stichflamme aus und zerschmolz die Bombe selbst zu einem weißglühenden und auseinanderlaufenden Metallbatzen. Durch das Loch tropften Teile davon in den Keller und die Menschen flüchteten wie vor Angst irre gewordene Schafe in eine entfernte Ecke des Kellers und drängten sich dort vor Entsetzen schreiend zusammen. Die Luft wurde immer knapper, da die extrem heiß brennende Bombe den Sauerstoff aus dem Keller aufzehrte. Nach 8 Minuten war die Brandbombe bis auf einen kleineren noch vorhandenen und intakt aussehenden Teil verglüht. Von draußen war ein peitschender Luftstrom zu hören, die überall lodernden Brände fraßen den Sauerstoff in der Umgebung. Ilse Kramer nahm ihre letzten Kräfte zusammen, dann zerrte sich ihre Söhne hinter sich her und taumelte zu dem Loch in der Kellerdecke. Sie trat auf die im Luftschutzraum liegenden Schuttteile und kam so nach oben. Dann zog sie ihre Jungen hoch und sah sich um. Alles was in einem Umkreis von 500 Metern früher gestanden hatte war zerstört worden. Die Häuser waren ganz oder teilweise eingestürzt, überall schlugen Flammen aus den Resten der Häuser heraus und es war extrem heiß. Der Sog des Feuersturms zerrte an ihren Sachen und sie war vollkommen orientierungslos, wohin sie jetzt flüchten sollte. Dann nahm sie ihre Söhne an die Hand und begann über die Trümmer zu klettern. Als die drei Menschen zwei Meter vorangekommen waren explodierte der restliche Teil der hinter ihnen liegenden Brandbombe. Die vielen Splitter fuhren Ilse Kramer und ihren Kindern in die Köpfe und Körper und zerrissen ihnen Herzen, Lungen, Därme, Lebern, Mägen und fetzten bei ihrem Austritt aus den Leibern Fleischstücke heraus. Alle drei waren augenblicklich tot.

10 Tage später erhielt Feldwebel Gunter Kramer die Nachricht, dass seine Frau Ilse und seine Söhne Karl und Theodor bei einem Luftangriff ums Leben gekommen seien und man sie mit den anderen vielen Opfern des Angriffs in einem Massengrab am Stadtrand beigesetzt hätte. Drei Tage später wurde der Mann zusammen mit seiner Besatzung des Sturmgeschützes bei der Abwehr eines russischen Panzerangriffs getötet. Die Familie Kramer hatte aufgehört zu existieren.

Germania 1943 - Eine Fiktion

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