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Moskau, 1951

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Traditionell würde wie seit 1946 üblich am 15. November zeitgleich in Berlin, Paris, London, Rom, Warschau und Moskau eine beeindruckende Militärparade stattfinden.

Der Mann in der dunkelblauen Uniform verfluchte wie jedes Jahr kurz vor diesem Tag seine Aufgabe, die Parade hier in Moskau vorzubereiten, denn man konnte nie verlässlich voraussagen, wie das Wetter dann sein würde. Den Sommer über war die Stadt durchaus erträglich, zumal sich seit 1946 überall Baukräne drehten und ganze Reihen alter Straßenzüge abgerissen worden waren und neuen Häusern Platz gemacht hatten. Die schon früher vorhandenen großzügig dimensionierten Verkehrsachsen waren dagegen erhalten geblieben und es hatte sich bald herausgestellt, dass dies eine kluge Entscheidung gewesen war. Heute waren die Straßen bereits in den Morgenstunden mit Autos aller möglichen Marken überfüllt und die Moskauer hatten sich daran gewöhnt, fast ständig im Stau zu stehen. Wer konnte wich in die U-Bahn aus, dort kam man wesentlich schneller, aber wegen dem Menschenandrang auch deutlich unbequemer voran, da das Streckennetz mit dem rasanten Wachstum der Stadt bei weitem nicht Schritt halten konnte, obwohl sich an drei verschiedenen Stellen an der Peripherie der Stadt mächtige Tunnelbohrmaschinen in den Untergrund wühlten. Der Mann wohnte in einem vor kurzen errichteten und zwanzig Stockwerke hohem Apartmenthaus und verfügte über eine gehobene Wohnungsausstattung mit Parkett, einer exklusiven Küche und anderen Annehmlichkeiten. Der Blickfang in seinem Wohnzimmer war allerdings ein großer Farbfernseher, und wenn er Gäste hatte spürte er, wie sehr sie ihn darum beneideten. Diese Geräte gab es erst seit ein paar Monaten und er hatte sich sofort eines gekauft. Auch dass er es sich leisten konnte, eine zweietagige Wohnung zu mieten, deren Obergeschoss ganz an der Spitze des Hauses über eine geräumige Dachterrasse mit einem sensationellen Blick über die Stadt begeisterte zeigte an, dass er wohl zu denjenigen gehörte, die es geschafft hatten. Was ihn an der Aussicht etwas störte war der alte, hässliche und hohe Wohnturm in relativer Nähe, aber dieser und das danebenstehende Kraftwerk sollten in ein paar Monaten abgerissen und der Ort neu bebaut werden. Der Mann selbst ging davon aus, dass er aufgrund seiner Funktion und seines Einsatzes durchaus angemessen honoriert wurde. Er war 38 Jahre alt, Junggeselle und Perfektionist. Dass seine Mitarbeiter unter diesem Drang von ihm öfter einmal litten nahm er zwar wahr, es interessierte ihn aber nicht, schließlich hatte jeder seine Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen. Er hatte absolut verinnerlicht, dass die ganze Welt den Tag der Paraden in den sechs Städten mit einer Mischung von Ehrfurcht und Angst erwarten würde und er war fest entschlossen, dieses Ereignis wieder zu dem werden zu lassen, was es sein sollte: ein Zeichen von Stärke und Macht.

Die Vorbereitungen dafür begannen schon früh im Jahr. Sein Mitarbeiterstab von knapp 10 Leuten hatte verschiedenste Aufgaben, die teils banal erschienen, aber wer genauer hinsah bekam mit, dass tausende Dinge zu bedenken waren und selbst Kleinigkeiten eine bedeutende Rolle spielen konnten. Der Mann hatte eine Liste erstellt, in der alle Aktivitäten in ihrem zeitlichen Ablauf vermerkt waren. Natürlich hatten er und seine Mitarbeiter schon eine gewisse Routine entwickelt und in den letzten Jahren waren die Paraden ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen. Wie choreographiert waren die Panzer über den Roten Platz gezogen, hatten Jagdflugzeuge und Strahlbomber die Stadt überflogen und waren die Truppen über das Pflaster paradiert. Dem Mann selbst waren beim Anblick des wie ein Uhrwerk ablaufenden Spektakels Schauer über den Rücken gekrochen, denn was hier vor sich ging, war zum großen Teil mit das Ergebnis seiner Arbeit. Als die Gäste nach dem Ende der Parade im Kordon der Sicherheitsleute die Tribüne verließen und sich in den Bankettsaal begaben gehörte er mit zu den wenigen übrigen, die nicht zur Riege der Staatsführung oder der hochrangigen Beamtenschaft zählten, aber dennoch eine herausgehobene Stellung inne hatten und an dem Akt teilnehmen konnten. Unter den schätzungsweise 200 Teilnehmern am Bankett befanden sich überwiegend Männer in Uniformen, die Zahl der Zivilisten war verschwindend gering und nur wenige Frauen waren anwesend. Obwohl der Mann streng genommen eine mehr organisatorische Arbeit zu leisten hatte trug er dennoch eine Uniform, deren Schulterstücke ihn als Major auswiesen. Eine direkte militärische Ausbildung hatte er nie durchlaufen, aber er war nach den ersten beiden erfolgreich und beeindruckend verlaufenen Paraden sofort zum Offizier ernannt worden. Damit waren für ihn eigentlich nur Vorteile verbunden, denn dieser Status bescherte ihm ein üppiges Einkommen und Respekt. Außerdem war es für die Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen erleichternd, denn als Zivilist hätte er wohl größere Probleme gehabt. Insbesondere die Leute vom Geheimdienst zeichneten sich durch eine erhebliche Arroganz aus und der Mann merkte, dass sie ihn zwar als Fachmann schätzten, aber mit einem nicht zu übersehenden Dünkel gegenübertraten. Dennoch funktionierten die Abstimmungen recht gut, denn die Geheimdienstler wussten ganz genau, dass er über einen sehr guten Draht zur obersten Führung verfügte.

Ostentativ hatte ihn der Oberkommandierende der östlichen Militärzone nach der ersten Parade an seinem Tisch im Bankettsaal aufgesucht, ihm die Hand geschüttelt und drei Sätze mit ihm gewechselt.

„Gute Arbeit“ hatte er so laut gesagt, dass es die Umhersitzenden hören konnten, „sehr gute Arbeit. Wenn es mal irgendwo klemmen sollte, rufen Sie mich einfach an. Nächstes Jahr ist der Generalissimus in Paris, aber in zwei Jahren wird er hier die Parade abnehmen, und Sie wissen, was das bedeutet.“

Der Mann wusste es genau.

Es war Mitte September und das Jahr, in dem der Generalissimus zu dem Festakt in Moskau sein würde. Der Mann und seine Leute arbeiteten ihre Liste routiniert ab, aber dieses Jahr hatte er ein ungewisses Gefühl, welches er aber nicht rational begründen konnte. Es war so etwas wie eine Vorahnung, dass es etwas geben könnte, was er bislang übersehen hatte und die Parade gefährden könnte. Seine Anfrage bei den Leuten vom Geheimdienst, ob es irgendwelche Anzeichen für eine Gefährdung geben könnte, war ergebnislos verlaufen. Es gäbe nur die üblichen Aktivitäten der Gegenseite und im Untergrund, aber man könnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Abends saß er noch lange grübelnd in seiner Wohnung und ging in Gedanken noch einmal alles durch. So sehr er auch nachdachte, nach seinem Empfinden gab es keine Schwachstellen, alles war bis ins Detail durchdacht und seit Jahren bewährt. Aber vielleicht lag gerade in der doch recht tief sitzenden Überzeugung, dass alles perfekt vorbereitet wäre und es schon wieder alles klar gehen würde, die eigentliche Gefahr, nachlässig zu werden.

Am nächsten Morgen zog der Mann seine dunkelblaue Uniform an, setzte die Schirmmütze auf und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage, wo er sein Dienstfahrzeug bestieg.

„Guten Morgen Vitali“ begrüßte er seinen Fahrer, dieser nickte nur.

Das Fahrzeug fädelte sich in die endlose Fahrzeugkolonne ein, nach 20 Minuten stieg der Mann vor einem Gebäude im Kreml aus dem Auto aus. Kurz zuvor hatte das Fahrzeug zwei Kontrollpunkte der Sicherheitszone passiert. Als der Mann die Treppen zu seinem Büro emporstieg wusste er, dass heute wieder ein langer Arbeitstag vor ihm liegen würde.

Er würde heute wie schon so oft mit seinen Leuten noch einmal darüber nachdenken, welche Wege und Mittel sie wählen würden, wenn sie zur Gegenseite gehören würden.

Germania 1943 - Eine Fiktion

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