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ОглавлениеWushu heute
Ein Turnier- und Wettkampfsport
Heute unterscheidet man oft zwischen moderner (xiandai wushu, 现代 武术) und klassischer (chuantong wushu, 传统武术) chinesischer Kampfkunst. Inwieweit dies sinnvoll ist, soll in der Folge erörtert werden.
Während der Entstehungsgeschichte vieler Künste und Sportarten gab es einen Punkt, an dem man einen neuen Weg einschlug, den die Traditionalisten nicht mitgehen wollten. So teilte sich das ursprünglich jeu de paume (Spiel mit der Handfläche) genannte Tennis im 19. Jahrhundert in zwei Formen, das adelige real tennis oder royal tennis, eine Version, die dem Ursprung etwas näher steht, und das lawn tennis, das man im Freien spielte und welches heute die einzig anerkannte Version ist. Beide Richtungen hatten sich freilich vom jeu de paume entfernt, die eine weniger, die andere mehr.
In der Frühzeit des Boxens, als sich gerade die Handschuhe (mufflers) durchzusetzen begannen, gab es viel Diskussion zwischen den bare-knuckle fighters (»Kämpfer mit bloßer Faust«) und den Befürwortern des neuen Handschutzes. Die manchmal abfällig soft boxers genannten Vertreter der Queensberry-Regeln gewannen die Auseinandersetzung. Seitdem herrscht auf diesem Gebiet Frieden, und niemand spricht in diesem Zusammenhang von moderner und klassischer Kampfkunst. Wer unbedingt ohne Handschuhe boxen will, tut das und wird nicht abfällig von jenen, die mit Handschuhen boxen, sprechen. Ähnliche Entwicklungen gab es im Fußball oder auch im Fechten. Wann gab es je Streit zwischen einem Vertreter des Sportfechtens und einem der Rapierlehre Capo-Ferros? Jeder akzeptiert den anderen.
Die Unsitte, sich über moderne und klassische Kunst zu streiten, ist merkwürdigerweise nur in den modernen Kampfkünsten so verbreitet, und die Vertreter der jeweiligen Richtungen bekommen sich darüber regelmäßig in die Haare. Im Fall des wushu ist das nicht anders. Dabei besteht überhaupt keinen Grund für diese Diskussionen. Es gibt genau genommen nur ein wushu. Dieses beinhaltet zwar verschiedene Kampfstile und Übungsmethoden, aber über das wesentliche Element, den Kampf, herrschen überall ähnliche Ansichten. Das heutige wushu, welches als modern bezeichnet wird, ist ein Turnier- und Wettkampfsport. Ich teile die Sicht sämtlicher alten Lehrer und Meister, die ich traf, daß diese Sportlinie nicht als wushu bezeichnet werden sollte, da sie damit nichts oder nicht mehr viel gemein hat. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet gibt es nur ein einziges authentisches wushu.
Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949, besonders aber während der so überflüssigen Kulturrevolution11, wurden nahezu alle Richtungen der chinesischen Kampfkunst einer Umwandlung unterzogen, die einer Verstümmelung gleichkam. Nur wenige Stile konnten sich dem entziehen. Manche Meister verließen das Land, andere nahmen ihr Wissen mit ins Grab.
Dabei hatten die Chinesen zunächst einen sehr guten Weg gefunden. Sie haben viele Bestandteile aus der Epoche der Blankwaffen, Lanzen, Keulen, Schwerter und verschiedene Fauststile in Formenwettkämpfe und Shows einfließen lassen. Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre achtete man dabei noch auf Sinn und Anwendbarkeit, man hatte Respekt vor der Überlieferung. Es kann sehr viel Spaß machen, einem Meister, der diese Dinge beherrscht, beim Training zuzuschauen. Die Vorführenden waren teilweise noch nach den eigentlichen Prinzipien der Kampfkünste ausgebildet worden, und so war in den Formen noch das Wesen der Kriegskunst zu erkennen. Mit der Zeit änderte sich das, und dieser Wandel hält bis heute an. Viele Faktoren waren dafür verantwortlich – das neue Denken während der Kulturrevolution, allzu konservative Meister, das Einmischen von Ahnungslosen (was heute besonders schlimm ist) und die Naivität der Jugend. Jedenfalls entstanden in den letzten dreißig Jahren völlig neue Bewegungsmuster ohne irgendwelche Kampfprinzipien. Das ist es, was man unter dem modernen wushu versteht.
Was man gegenwärtig bei öffentlichen Vorführungen zu sehen bekommt, sind im allgemeinen Fragmente aus alten und bereits mehrmals veränderten Stilen des wushu. Diese Art des »Tanzes« genießt kaum mehr die Achtung und die Aufmerksamkeit des chinesischen Volkes. Die Formenturniere haben so gut wie keine Besucher. Oft sind Trainer und Verwandte der Teilnehmer die einzigen Zuschauer.
Anfang der 80er Jahre wurde das sanda aus dem Druck heraus geschaffen, auf der Wettkampfbühne mit anderen Kampfsportarten mithalten zu können.
Die chinesische Kampfkunst eignet sich ihrem Wesen nach nicht dazu, aus ihr ein faires und international funktionierendes und vor allem olympiataugliches Wettkampfsystem mit einheitlichen Bewertungsmaßstäben zu konstruieren. Die Essenz dieser Kampfkunst ist das gongfu, und das ist eben nicht als Wettkampfsport einsetzbar. Gongfu ist ein Begriff, der die Zeit und den Aufwand, den man benötigt, etwas zu erreichen, umfasst und auch die Hingabe an eine Sache. Das sanda (散打), also die chinesische Art des Vollkontaktkampfes, versucht hier eine Brücke zu schlagen. Dabei wurde sanda hauptsächlich dem westlichen Kickboxen entlehnt und lediglich etwas mit dem chinesischen Ringen (shuaijiao, 摔跤) vermischt.
Foto 3: Sanda-Kampf auf einem Hochhausdach in Wuhan.
So kann also auch das sanda dem wushu nicht gerecht werden. Das sanda (oder auch sanshou) ist nicht die praktische Anwendung des wushu. Nur ein Teil dieser Disziplin entstammt dem alten wushu. Andernfalls würden die Techniken und Kraftprinzipien der typischen Wushu-Stile, wie zum Beispiel tanglangquan (螳螂拳), Adlerstil (鷹爪派), Betrunkene Faust (醉拳), Affenstil (猴拳), Tigerstil (虎拳) usw. vollkommen zur Anwendung kommen. Das ist aber nicht der Fall, und es ist auch gar nicht möglich, nicht zuletzt deswegen, weil viele Techniken mit Boxhandschuhen nicht ausführbar sind. Sanda ist ohne Frage eine großartige und harte Vollkontaktsportart, aber wie schon gesagt, der Ursprung liegt eher im Kickboxen oder auch im Vollkontaktkarate. Würde man das Kickboxen mit westlichem Ringen mischen, käme etwas Ähnliches heraus, vielleicht besser, vielleicht schlechter. Aus diesem Grund werden sanda und wushu heute auch überall getrennt, egal ob an Sportuniversitäten oder im professionellen staatlichen Verband.