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Dehnung und Stand im alten und neuen Wushu
ОглавлениеEin weiterer Aspekt, an dem man die Abflachung des heutigen wushu deutlich erkennen kann, ist die ursprünglich entwickelte Dehnung. Die Übung, bei der man mit seinem Fuß die Kinnspitze berührt (Foto 9), ist typisch chinesisch. Zwar muss man dabei die Körperproportionen betrachten, aber innerhalb dieser Grenzen gibt es ein Richtig und ein Falsch. Die Chinesen sind durch ihren Körperbau für diese Dehnung in der Regel etwas besser geeignet als Europäer und können diese deshalb leichter durchführen.
Foto 7
Foto 8
Fotos 7 und 8: Die Bewegung des age uke als aktiver Angriff oder als Abwehr und Angriff zugleich.
Ursprünglich dehnten die Meister sich eng. Cheng Jianping (程剑 平), mein älterer Wushu-Bruder, ist Jahrgang 1962, und bis vor kurzem klemmte er sich seine Füße noch spielend unter das Kinn. Meister Tian Chuanqing, mein erster Zuibaxian-Lehrer, ist über 50 und berührt mit seinen Füßen problemlos die Nase, obwohl er sehr kurze Beine hat und recht breit gebaut ist. Diese Männer haben ihr Leben lang bei Meistern erster Klasse trainiert, von Kindesbeinen an.
Foto 9: Traditionelle chinesische Dehnung.
Im allgemeinen sind die Chinesen heute schlechter gedehnt als früher. Die Wushu-Profisportler haben nicht mal eine halb so gute Dehnung wie Cheng Jianping und das, obwohl sie meist etwa zwanzig Jahre alt und durchtrainierte Athleten sind. Das Bein wird nicht mehr eng, sondern lang gedehnt, so wie in der Gymnastik.17 Der Grund dafür ist, dass enge Dehnung die Muskeln stärkt und zuviel Kraft entstehen lässt, so dass man sich während einer Vorführung nicht mehr ästhetisch genug bewegen kann. Ursprünglich ging es jedoch nicht um Ästhetik, sondern um Kraft. Doch auch, wenn nach meiner Erfahrung die chinesische Art der Dehnung die beste der Welt ist, ist sie natürlich nicht alles. Sie ist eine wichtige Grundlage, aber sie sagt noch nichts über die Kampfqualität aus.
Einher mit dem Gesagten geht ein weiterer Punkt, die Stellungen. Zu den wichtigsten Stellungen und Schritten (bufa, 步法) zählen der gongbu (弓步, Bogenstand, jpn. zenkutsu dachi 前屈立) und der mabu (马步, Pferdestand, jpn. shiko dachi 四股立). Studiert man den heutigen mabu, so ist daran keine Unregelmäßigkeit festzustellen. Das ist nicht als Lob gemeint. Die Haltung ist eindeutig auf Schönheit und Ästhetik hin ausgelegt. Die Füße sollen parallel stehen, der Stand muss sich mit dem Körper und den Händen harmonisch ausbalancieren. Auf Chinesisch sagt man dazu liang xiang (亮象, Showform).
Betrachtet man alte Gemälde und Kunstwerke mit Darstellungen von Kämpfern, sieht man einen ganz anderen mabu, eine Haltung, die auf Stabilität und Anwendbarkeit ausgerichtet ist. Als ich einmal mit Meister Li unterwegs war, sahen wir eine Abbildung in Stein, auf der alte Kämpfer (xiake, 侠客) dargestellt waren. Mein Lehrer wies mich auf den Stand der Figuren hin. Ihre mabu und gongbu waren bei weitem nicht so elegant, wie man das heute erwartet, doch sie drückten ganz deutlich Kraft und Stabilität aus.
Foto 10: Moderner gongbu. Er ist viel zu lang und wird dadurch kraftlos und instabil.
Foto 11: Meister Li Yuanchao im »echten« gongbu. Er war ein Schüler eines der letzten Xingyi-Meister in China – Großmeister Qi Dianchen. Auch sein Stand ist sehr tief, aber dennoch sind seine Beine nicht so langgezogen und haben somit Stabilität. Dadurch ist er auch flexibel, und seine Handtechniken sind kräftig und können jederzeit entsprechend den Umständen verändert werden. Man beachte die durch hartes Training gekräftigten Arme und den Ausdruck der Kraft, die in dem alten Meister steckt, der noch dazu schwerste Zeiten in China durchleben musste, wie Kulturrevolution und Hungersnöte.
Foto 12: Meister An in traditionellem tiefen Mabu-Stand.
Wie ich im Kapitel über die yanyu (S. 357) zu erklären versuchen werde, entspricht der heutige Kunstgeschmack hinsichtlich des wushu nicht mehr dem, der in den alten Steinreliefs zum Ausdruck gebracht wurde. Letzterer orientierte sich am Wissen um die Anwendbarkeit der Kraft und der Technik, an der realen Kampffähigkeit, ganz so, wie dies einst auch die Zuschauer eines Gladiatorenkampfes in Rom gesehen haben werden.