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Die zweite Bedeutung von Gongfu

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Bei der Mehrschichtigkeit der chinesischen Sprache wundert es sicher niemanden, dass es noch andere, tiefgreifende Bedeutungen des Wortes gong (fu) gibt. Eine dieser Bedeutungen wird durch folgendes Sprichwort gut erläutert: »Lian wu bu lian gong, dao lao yi chang kong« (练武不练功, 到 老一场空). –»Trainiert man Kampfkunst, aber kein gong, bekommt man im Alter gesundheitliche Probleme und hat trotz des Trainings nichts erreicht.« In diesem Fall bezeichnet gong (fu) eine Trainingsmethodik, das heißt Gong-Trainingsmethoden und -Übungen.

In der zweitausendjährigen Geschichte der chinesischen Kampfkünste wurden diese Übungen nach und nach entwickelt, indem man den Körper und die Natur genau beobachtete. Diese Übungen sind keineswegs mysteriös. Alles kann wissenschaftlich begründet werden und hat nur mit einem ausdauernden Training voller Hingabe zu tun. Es sind Methoden für die Gesundheit und für den Kraftaufbau. Inzwischen sind allerdings die meisten Gong-Übungen ausgestorben. Es gibt aber immer noch sehr viele davon. Auch das im Westen sehr bekannte taiji ist als eine Art Gong-Übung zu betrachten.

Die im Westen verbreitete Devise »Brust raus, Bauch rein« gilt in Asien seit jeher genau umgekehrt. Das geht soweit, dass selbst die Mode als Spiegel verschiedenster Philosophien über die Jahrhunderte hinweg hierdurch beeinflusst war und es noch immer ist. Das typische Merkmal von eigentlich fast allen Gong-Grundübungen ist die natürlich zurückgezogene Brust, wobei der Oberkörper eine leicht gekrümmte Form einnimmt. In dieser Stellung wird das Herz in eine Lage gebracht, die sehr beruhigend auf es wirkt. Auf Chinesisch sagt man dazu baoxin (包心). Das Herz wird »eingewickelt« und dadurch in eine Position gebracht, die sich auf den ganzen Körper positiv auswirkt (yangxin, 养心). Das Herz wird genährt und gepflegt. In dieser Haltung ist der Körper locker und entspannt, jedoch nicht schlaff. Alles soll vollkommen natürlich (shenxin ziran, 身心自然) geschehen. Gerade diese Natürlichkeit ist für einen Erwachsenen schwer umzusetzen. Irgendwann zwischen Kindheit und Reife verlieren wir diesen Zustand, ohne dass wir es bemerken. Daher stellen wir uns oft sehr verkrampft an, wenn wir versuchen, eine natürliche Haltung einzunehmen.


Foto 13: Die Embryohaltung. Diese Position ist ähnlich der Haltung eines Embryos im Mutterleib. Diese Haltung wird in den chinesischen Kampfkünsten sowohl in Gong-Übungen als auch in Pausen während des harten Trainings eingenommen, damit der Körper sich ausruhen und regulieren kann.

Das zweite Merkmal bei solchen Übungen ist die Bauchatmung. Auf Chinesisch sagt man: »Qi chen dan tian« (气沉丹田). –»Die Atmung wird in den dantian niedergedrückt.« Was ist unter dem Begriff dantian (jpn. hara) zu verstehen? Der dantian liegt etwas unterhalb des Bauchnabels, wobei die genaue Lokalisierung nicht einheitlich festgelegt ist. Er ist kein tatsächlich existierendes Organ. Dantian heißt wörtlich Zinnoberfeld und bezeichnet den Unterbauch, sprich den Körpermittelpunkt des Menschen. Wie man auch aus der westlichen Sportwissenschaft weiß, geht wirklich große und wirkungsvolle Kraft vom Zentrum des Körpers aus. Egal ob man boxt, läuft, Weitwurf oder Weitsprung etc. betreibt, bei all diesen Disziplinen ist eine Kraft vom Zentrum des Körpers notwendig, um wirklich effektiv zu sein. Und bei den Spitzenathleten in diesen Disziplinen ist diese auch vorhanden, wobei einige die damit verbundene Energie eher unbewusst durch ihr Training erwarben.

Im asiatischen Raum, speziell im chinesischen wushu, spielt der dantian eine sehr große Rolle. Obwohl dieser, so wie er von den Chinesen verstanden wird, eine imaginäre Stelle im Körper ist, gibt es eine durchaus wissenschaftliche Begründung für seine tatsächliche Existenz. Wenn der Mensch noch als Embryo im Mutterleib ist, erfolgt die gesamte Versorgung (Ernährung und Atmung) über die Nabelschnur. Da der dantian unterhalb des Nabels liegt, ist das Energiezentrum des Menschen somit schon in seiner Embryonalzeit festgelegt.

Die alten chinesischen Meister der Kampfkunst und Medizin (beides gehörte ursprünglich zusammen) erforschten alles, was mit dem dantian zusammenhängt, über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende hinweg sehr genau und entwickelten daraus eben jene Trainingsmethoden, die als Gong-Übungen bezeichnet werden. Sie dienen dem Training, der Gesunderhaltung und der Pflege des Zinnoberfeldes.

Auch im Westen ist dies eigentlich inzwischen nichts Neues mehr, und selbst Künstler nutzen die Kraft des dantian: Der italienische Opernsänger Luciano Pavarotti, eine der hervorragendsten Stimmen des 20. Jahrhunderts, entdeckte die Dantian-Atmung für sich und trainierte sie mit großem Erfolg. Als er eines Abends mit Lampenfieber vor einem großen Konzert in seinem Hotelzimmer saß, hörte er im Zimmer nebenan ein Baby pausenlos schreien. Er wunderte sich darüber, dass ein Säugling ununterbrochen mit starker Lautstärke schreien kann, was selbst für einen Mann wie ihn ein Problem wäre. Er erforschte dieses Phänomen und stieß dabei auf die Bauchatmung und damit auf den dantian. Ein Neugeborenes besitzt eben noch genau diese Fähigkeit und atmet mit dem Zinnoberfeld, welches schon im Mutterleib sein Energie- und Vitalzentrum war. Natürlich könnte man nun fragen, was das Beispiel Pavarottis mit Kampfkunst zu tun hat. – Tatsächlich alles, denn für die Kampfkunst gilt das gleiche Prinzip: Mit zunehmendem Alter verlieren wir meist die tiefe Bauchatmung sowie viele andere ursprüngliche Eigenschaften. Mit dem Training der Gong-Übungen will man genau diese Eigenschaften fördern und entwickeln.

Die sogenannten inneren Stile, das qigong (气功), das luohogong (罗汉 功) und das yanchigong (砚弛功), sind verschiedene Arten von Trainingsmethoden. All diese Übungen haben nichts Mystisches an sich. Es handelt sich einfach um hartes, ausdauerndes und wohldurchdachtes Training. Gong-Übungen haben auch das Merkmal des isometrischen Kraftaufbautrainings, wie es heute überall auf der Welt viele Profisportler mit sehr guten Ergebnissen nutzen.30

Im chinesischen wushu wird diese Art des Trainings bereits sehr lange erforscht und angewandt. Doch auch hier geht man inzwischen oft den leichteren Weg und wählt die größere Bequemlichkeit. So ist zwar die weiter hinten im Buch vorgestellte Trainingsmethode des zhanzhuang (站壮) in China noch gut bekannt, wird aber heute kaum noch von jemandem praktiziert, da diese Art Übung als »zu anstrengend« gilt. Was man heute in chinesischen Parks und teilweise auch in Europa sieht, ist eine sehr abgeschwächte Form dieser Übungen und nicht mit dem Original zu vergleichen. Ursprünglich musste man hierfür stundenlang in tiefen Stellungen verharren, eine Tortur, die allerdings für den korrekten Kraftaufbau im kampforientierten wushu nötig ist. Aufgrund dieser Gong-Praxis konnte ein Meister die Fähigkeiten seines Gegenübers bereits an dessen Stand und dessen Gang ablesen. Auf diese Weise war es für einen Scharlatan schwer, sich als Meister auszugeben.

Ähnlich verhält es sich bei einer anderen Übung, welche besonders wichtig ist im wushu, dem Dauer-Handstand. Auch hier bestätigt die westliche Sportwissenschaft, dass der Trainingseffekt um so besser ist, je länger die Muskelspannung währt. Im Chinesischen wird dies changjin (长劲) genannt – das Anwachsen und Entwickeln der Kraft. Allerdings muss man anmerken, dass man im wushu (und dies gilt wohl auch für alle anderen Kampfkünste) unter Entwicklung der Kraft nicht den Zuwachs an Muskelmasse versteht, sondern die Zunahme an Flexibilität und Funktionalität des Körpers. Das heißt, 70 Kilogramm Körpermasse, die schnell und flexibel eingesetzt werden können, sind besser als 100 Kilogramm Steifheit. An den westlichen Boxern sieht man das sehr gut. Mike Tyson hat sicherlich eine enorme Muskelmasse, die er aber durch entsprechendes Training flexibel im richtigen Moment zum Einsatz bringen kann, und das ist das Entscheidende. So ist es in erster Linie nicht wichtig, wie groß die Kraft ist, sondern wie man sie anwendet und auf den Punkt bringt.

Hier in Deutschland staunte ich nicht schlecht, als ich Zeuge von Kursen und Workshops über chinesisches gong wurde und die dort vorgestellten Übungen tatsächlich nichts anderes waren als die morgendlichen Parkübungen von alten chinesischen Damen. Ich will das jedoch nur bedingt kritisieren, denn oft steckt einfach Unwissenheit dahinter. Echtes gong sieht man auch in China eher selten. Ob es jedoch von betrügerischer Absicht oder einfach von ausgeprägtem Geschäftssinn zeugt, wenn solch fragwürdiges gong zu völlig überzogenen Preisen angeboten wird, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Natürlich hat das gemütliche Training, das so viele Menschen täglich in den chinesischen Parks betreiben, nichts mit Gong-Training und wushu zu tun. Es ist wenig mehr als ein Zeitvertreib in China und wird sehr selten von echten Könnern angeleitet. Echtes wushu und gongfu, das möchte ich abschließend nochmals betonen, ist sehr anstrengend und mühsam, und leider sterben die alten Techniken auch in China aus und werden so gut wie nicht mehr praktiziert.

Wu

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