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Der Xiake-Geist
ОглавлениеDie Verkörperung des höchsten Ideals in der chinesischen Wushu-Kultur ist seit frühester Zeit der xiake (俠客). Im alten China war der xiake ein Kämpfer, dessen Handeln durch Edelmut geprägt war.
Ausschnitt eines chinesischen Drucks aus dem 19. Jahrhundert; zu sehen sind 8 der 108 Räuber vom Liangshan-
Die xiake waren zwar meist Einzelgänger, die keinem Herrn folgten, doch wenn es die Umstände geboten, bildeten sie auch Gruppen oder manchmal Armeen aus Individualisten, die sich – wenn auch nur oberflächlich – vom Konfuzianismus zu lösen vermochten. In dem bekannten Roman »Die Räuber vom Liangshan-Moor«44, werden 108 bekannte xiake der Song-Dynastie dargestellt. Sie wurden, ganz ähnlich den Sherwood-Forest-Gefährten Robin Hoods, mehr oder weniger unfreiwillig zu Gesetzlosen und lebten und handelten nur nach den Regeln ihres Gerechtigkeitsempfindens. Und so, wie sich Robins Gesellen im Bogenschießen übten, trainierten auch die chinesischen xiake ihre Kampfkünste. Die Bezeichnung »chinesischer xiake« stellt hier keine Verdopplung dar, sondern verweist darauf, dass es in der Weltgeschichte und -literatur immer wieder Charaktere gegeben hat, die alle Attribute eines echten xiake aufwiesen.
Es gibt eine ganze Reihe Gestalten in fast jedem Kulturraum, die den chinesischen Helden vom Wesen her gleichen, so z. B. die europäischen Ritter. Dies gilt nicht so sehr für die ordinierten milites der geistlichen Kriegerbünde, sondern eher für die weltlichen Kavaliere, die Cervantes mit seinem Don Quijote so herrlich persifliert hat. Fahrende Ritter erfüllen nahezu alle Voraussetzungen für einen xiake, mit dem Unterschied, dass in China auch Frauen zu den xiake gehören konnten. Ihre Ideale wie Würde, Treue, Demut, Zurückhaltung, Beständigkeit und Tapferkeit lassen sich noch heute noch mit dem Wort »ritterlich« zusammenfassen und wären sicher auch von den chinesischen oder japanischen Kriegern akzeptiert worden. Verschiedene Heldenepen erzählen von diesen westlichen xiake. Die Legendensammlung rund um die Ritter der Tafelrunde und zum Teil die Nibelungensage zeigen uns einen stark idealisierten Typus. Reale Entsprechungen sind beispielsweise William Marshal (Guillaume le Maréchal)45 und Bertrand du Guesclin46, die beide im Ruf vollkommener Ritter im besten Sinne standen.
Die japanischen samurai (侍) standen ihrer militärischen Natur nach den Rittern des Westens zwar näher als den Chinesen, doch ihre Lebensführung war von asiatischer Philosophie geprägt. So wundert es nicht, dass der vielleicht bekannteste japanische xiake, Miyamoto Musashi, ein wenig von beiden in sich zu vereinen scheint, Rittergeist und Philosophie.47
Das Wesen der xiake scheint auf den ersten Blick stereotyp. Sie waren starke Helden mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wobei dieses Empfinden, diese Moral oft nicht mit den Staatsgesetzen vereinbar war. Die Wertvorstellungen folgten archaischen Ansichten von Gut und Böse. Man bezeichnete diese Art von Richtlinie als wude (武德), kriegerische Tugend. Dieser gerade Weg stieß nicht immer auf Verständnis. Während der Historiker Sima Qian (司马迁, ca. 145 - 86 v. Chr.) die Verlässlichkeit und Bescheidenheit der Xiake lobt, sieht der Legalist Han Fei (韓 非, ca. 280 - 233 v. Chr.) in ihnen ein Übel. Als Grund hierfür sah er u. a. ihre Bereitschaft, schnell, manchmal überstürzt, unter allen Umständen für ihre Sache eine Lanze zu brechen. In dem beliebten Sittenroman Jin Ping Mei (金瓶梅) stellt einer der Helden, Wu Song48, diese nahezu blinde Bereitschaft schlagkräftig unter Beweis. Den xiake galt die Gerechtigkeit viel, aber sie liebten auch das Kämpfen, obwohl viele das nur ungern zugaben. Sie gehörten dem wulin (武林) an, der recht losen und freien Gemeinschaft der Kampfkünstler. Alle xiake fühlten sich dieser Gemeinschaft mehr oder weniger verpflichtet. Selbst der größte Einzelgänger beugte sich deren ungeschriebenen Gesetzen.
Viele xiake waren naiv, andere intelligent, doch immer waren sie bestrebt, sich in den gewählten Tugenden zu vervollkommnen. Während der fahrende Ritter als soziales Phänomen in Europa gemeinsam mit dem Mittelalter verschwand bzw. sich in den Typus des Dumas’schen Kavaliers verwandelte, überlebte der xiake als Kämpfertypus in China und Japan aufgrund der Beständigkeit der auf den Konfuzianismus gestützten Kaiserdynastien bis ins 20. Jahrhundert.
Xiake, gleichgültig aus welchem Kulturkreis sie stammten, hatten immer ihre Bewunderer. In China schrieb der berühmte chinesische Dichter der Tang-Dynastie Li Bai (李白, 701 - 762 n. Chr.) ein klangvolles Gedicht über den Charakter und das Wesen eines xiake. Es beginnt mit den folgenden Versen:
Das Lied des Xiake
Drei Becher Wein sind getrunken, und das Versprechen ist gegeben.
Das Versprechen ist stärker als die fünf hohen Berge.
Die große Stärke des Schwertes und des Mutes.
Nachdem die Sache vollendet, bleiben Name und Ruf tief verborgen.
Der Fähige möge ihre Geschichten überliefern.
Xiake Xing
san bei tu ran nuo, wu yue dao wei qing.
shi bu sha yi ren, qian li bu liu xing.
shi le fu yi qu, shen cangshen yu ming.
shui neng shu gexia, bai shou tai xuan jing.
侠客行
三杯吐然诺,五岳倒为轻。
十步杀一人,千里不留行。
事了拂衣去,深藏身与名。
谁能书阁下,白首太玄经.
Li Bai, einer der größten, wenn nicht der größte Dichter Chinas, war geprägt durch den Daoismus und wollte die Befreiung von Wissen, Begierde und von dem bewussten Handeln-Wollen des Menschen. Er strebte nach Natürlichkeit. Genau für diese Dinge standen auch die xiake, und aus diesem Grund bewunderte der Dichter sie und ihre Fähigkeiten in den Kampfkünsten. Der Sinn für Kameradschaft, das Versprechen, Gutes zu tun und dem zu helfen, der dessen bedarf, sind die wichtigsten Dinge im Leben der xiake. Ihr Können und ihr Mut sind außerordentlich. Und nachdem sie ihre Taten vollbracht haben, werden sie, ohne sich zu offenbaren und Dank anzunehmen, weiterziehen.
Diese Art des Denkens und Handelns ist tief verwurzelt in der Kultur des wushu. Auch wenn heute niemand mehr das Leben eines xiake führt und dessen Kampfstärke besitzt, so ist es sinnvoll, solche Grundsätze des alten wushu zu kennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
ji dei yi, bi shi di
Die Kunst muss am Gegner erprobt werden.