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Die Kultur des Wushu

Lehrer und Schüler

Wer sich mit einer Kampfkunst befasst, tut dies meist, um kämpfen zu lernen. Aus diesem Grund fing auch ich einst damit an; und ähnlich ging es allen, die ich kenne. Einige wenige, die es wirklich ernst meinen, reisen in die Ursprungsländer, wie China, Japan oder, im Falle des krav maga32, nach Israel. Leider finden die meisten auch dort oft nicht das, was sie suchen. Viele Ausländer, die beispielsweise nach China gehen, haben das Ziel, echtes chinesisches wushu und gong zu erlernen. Was sie letztlich finden, erfüllt nicht ihre Erwartungen. Wer sich etwas mit China auskennt, weiß, dass man als Ausländer so gut wie nie Zugang zu einem echten Meister bekommt. Lernwillige enden fast immer in einer der vielen Wushu-Schulen, wo man sich zwar nicht unbedingt über den neuen Gast freut, wohl aber über die Devisen, die dieser verkörpert. Einer der Direktoren der vielleicht größten Kampfkunstschule in der Nähe des Shaolin-Tempels erklärte, dass er Ausländer sehr gern als Schüler annehme, da diese achtmal mehr Einnahmen bringen als Chinesen. Ein Ausländer bezahlt eben mit amerikanischen Dollars und nicht mit chinesischen Yuan. Was soll man von einem Verhältnis halten, das nur auf Geld basiert? Hätte ich nicht das Glück gehabt, auf meinem shifu zu treffen, wäre ich wohl genau in solch einer Schule gelandet. Danach hätte ich ebenfalls den schönen alten Spruch zitieren können: »Außer Spesen nichts gewesen.«

In China ist es sehr schwer, von einem traditionellen shifu als Schüler angenommen zu werden. Viele Europäer fragen mich immer wieder, wieviel ich bezahlen muss, wie hoch der Monatsbeitrag ist, um bei einem solch guten Lehrer zu lernen. Sicher spielt Geld eine Rolle. Im alten China konnten sich nur wohlhabende Leute den Unterricht bei einem Meister leisten, denn sie mussten nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten, sondern auch noch für den Meister sorgen. Wer nicht einmal für sich genug zu essen hatte, hätte auch das harte Training kaum durchstehen können.

Der Vater meines Lehrers (Li senior), hat dem shifu seines Sohnes, Meister Xiong, mehrmals im Monat Zigaretten, Nahrungsmittel und mindestens einmal im Monat Suppe geschenkt. Besonders in den schweren Zeiten während der Kulturrevolution bedeutete es einen unglaublichen Aufwand für eine Familie, sich auch noch einen Meister »aufzuhalsen«. Wenn ein Schüler bzw. dessen Familie diese Geschenke nicht mindestens einmal im Monat überreichte, dann beachtete Meister Xiong diesen Schüler nicht mehr. Er warf ihn nicht hinaus, verlangte auch nichts von ihm und verlor nicht ein einziges Wort darüber. Der Schüler konnte weiter zum Training kommen, aber der Meister behandelte ihn wie Luft und unterrichtete ihn nicht mehr. So war es früher in China üblich.

Viele Meister hatten keinen festen Monatsbeitrag, und sie sagten nicht, daß sie etwas von ihren Schülern erwarteten. Aber in der chinesischen Wushu-Kultur weiß jeder, dass der Unterricht niemals umsonst ist, wenn man nicht ein Familienmitglied ist oder irgendwelche anderen guten Beziehungen zu dem Lehrer hat, und selbst in diesem Fall wird man dem Meister versorgen und ihm regelmäßig Geld, Nahrung und Geschenke überreichen. Der Meister muss versorgt werden, und seine Meisterschüler haben dies auch getan. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass sie sich 24 Stunden am Tag um ihn kümmerten.

Heute ist dies natürlich nicht mehr der Fall, und dies ist ein Grund dafür, warum viele alte Meister ihr Wissen mit ins Grab genommen haben. Es fehlt einfach die wahre Loyalität der Schüler. Keiner wird heute mehr bereit sein, sich um einen alten starrköpfigen Meister mit all seinen Marotten zu kümmern. Hinzu kommt, dass man von so einem alten Meister nicht ein Wort des Lobes oder Dankes hören wird. Das mag wie ein verstaubtes Kungfu-Klischee klingen, aber so wurde es mir glaubhaft berichtet. Und wenn ich mir einige der heute noch lebenden Lehrer anschaue, kann ich mir das auch gut vorstellen. Geld ist also nicht alles. Es geht auch um eine Lehrer-Schüler-Beziehung, um menschliche Gefühle. Shi ist das Zeichen für Lehrer, fu das Zeichen für Vater. In China heißt es, jemand der einen Tag dein Lehrer ist, ist das ganze Leben dein Vater. Es geht darum, sich um seinen shifu zu kümmern, selbst über die Lehrzeit hinaus. Tatsächlich habe ich nach mehreren Jahren des Trainings in China eine wirklich familiäre Bindung zu meinem Meister und meinen Kampfkunst-Brüdern aufgebaut.


Foto 22: Meister Li Zhenghua pflegte beim Training immer entspannt dazusitzen und verlor mitunter während der ganzen Zeit nicht ein Wort.

Das abendliche Training fand täglich in einer Werkhalle hinter einem Restaurant statt. Nicht weil es eine Atmosphäre wie im Film sein sollte, sondern weil Meister Li diesen Platz für den geeignetsten hielt. Obwohl es wirklich eine dreckige Ecke war, wo Ratten ihren Tummelplatz hatten und nur eine Neonlampe brannte, war seine Wahl richtig. Es gab keine Zuschauer, und es war ruhig. Meister Li saß in einem Stuhl und sagte manchmal tagelang nicht ein Wort zum Training. Die Übungen waren eintönig, aber niemals langweilig.


Foto 23: Eine halbe Stunde im Handstand ist ein normaler Trainingsinhalt im traditionellen wushu.


Foto 24: Liegestütz im Handstand. – Wenn man sich beim Training nicht genug anstrengt oder die Übungen nicht schafft, kann es sein, dass ein chinesischer Meister entweder böse dreinblickt oder verächtlich lächelnd auf einen herabschaut. Anfeuerungsrufe, Motivationsreden oder Lob wie beim westlichen Sporttraining von Seiten des Trainers wird es kaum jemals geben.

Der shifu ist kein Trainer im westlichen Sinne, kein Motivator und nicht dafür zuständig, den Schüler in kürzester Zeit bestmöglich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Er ist ein Wegweiser, der durch das Beispiel seines Lebens den Weg zeigt, welchen man schließlich selbst gehen muss. Nach chinesischem Brauch lobt ein shifu seine Schüler niemals, wie gut sie auch sein mögen. Ebenso wenig duldet er Widerspruch. Dem Schüler ist es auch nicht gestattet, Emotionen zu zeigen. Ich weiß, das klingt alles sehr nach verlebter Tradition. Mein shifu und ich haben dabei auch viele Abstriche gemacht, damit es für uns funktioniert. Mir als Europäer liegt es in der Natur, Dinge kritisch zu betrachten. Gefühle wie Unzufriedenheit und Ärger werden ausgedrückt und auch ausgelebt. Ich widerspreche und hinterfrage, wenn es mir erforderlich scheint. Anfangs prallten da buchstäblich zwei Welten aufeinander. Meister Li tat sich in der ersten Zeit sehr schwer damit, was dreimal in Gestalt denkwürdiger Wutausbrüche zum Ausdruck kam, bei denen ich mich am liebsten zu den Ratten ins Loch verkrochen hätte. Später wandelte sich die Situation erstaunlicherweise. Meister Li gewöhnte sich an mein westliches Wesen und stellte fest, dass das offene und freie Denken und das Einbringen von Kritik sehr produktiv genutzt werden kann.

Allerdings nahm ich durch das Leben im Reich der Mitte und den täglichen Umgang mit Chinesen immer mehr die chinesische Denkweise an und entwickelte zunehmendes Verständnis für die Vielschichtigkeit der chinesischen Kultur. So akzeptierte ich nach und nach wortlos auch Sachen, die ich als falsch empfand. Ein Beispiel: Meister Li ist ein leidenschaftlicher Majiang33-Spieler. Spielt er mit seinen Freunden, vergisst er darüber alle Abmachungen und Versprechungen. In Europa wäre ein solches Verhalten gänzlich inakzeptabel, aber in China wird sich ein Meister nicht einmal dafür rechtfertigen.

Diese Sicht der Dinge hängt mit der Lehre des Kongzi (Konfuzius)34 zusammen. Alle Lebensbereiche sind hierarchisch gegliedert und folgen bis heute den Gesetzen dieser etwa 2 500jährigen Philosophie. Schüler gehorchen ihren Lehrern aufs Wort, die Jungen respektieren die Alten, und die Alten kümmern sich um die Jungen. Im Chinesischen gibt es das Schriftzeichen xiao (孝), das soviel wie Kindespflicht bedeutet. In der chinesischen Gesellschaft sagt man: »Mit einem Menschen, der kein xiao hat, sollte man keine Freundschaft schließen, weil das Wesen dieses Menschen schlecht ist.« Es ist in vielen Teilen des Landes immer noch undenkbar, dass eine Familie die Eltern bzw. Großeltern in einem Altenheim unterbringt, wie gut dieses Heim auch sein möge. Der gesellschaftliche Druck wäre groß und würde sich vielleicht sogar in öffentlichen Beschimpfungen ausdrücken. Die Familie würde verachtet und gemieden werden, selbst wenn sie einfach zu arm wäre, um die Eltern betreuen zu können. Einen solchen Vorfall erlebte ich in meiner Wuhaner Nachbarschaft. Ein Mann schaffte es aus zeitlichen Gründen nicht mehr, sich um seine Mutter zu kümmern. Er brachte sie in einem guten Pflegeheim unter. Von Stund an hatte er unter den uralten konfuzianischen Vorstellungen von Pietät und Sohnespflicht zu leiden. Im wushu verstärkt sich das ganze noch. Ein Schüler wird von der Gesellschaft nicht danach beurteilt, wie gut er ist, sondern wie gut er seinen Lehrer behandelt und sich um ihn kümmert. Während der aus der westlichen Kultur stammende Aristoteles sagte: »Ich liebe meine Lehrer, aber noch mehr liebe ich die Wahrheit«, gilt in China eher: »Der Lehrer hat immer recht, auch wenn er nicht recht hat.«

Ich selbst habe zu der Lehre des Kongzi niemals einen Zugang gefunden. Ich halte den Daoismus für wesentlich praktischer. Zwar hat der Konfuzianismus dem Reich der Mitte eine einzigartige Position in der Weltgeschichte verliehen, doch war er letztendlich für den Sturz der Monarchie verantwortlich.35 In den Epochen, in denen sich die Kaiser dem Daoismus zuwandten (z. B. Tang-Dynastie) glänzte China durch seine Offenheit und Liberalität. Das Land erblühte dann in unglaublicher Stärke.

Mein Lehrer unterhielt sich oft mit mir über solche Dinge. Ich fand es sehr erstaunlich, dass Meister Li auch im Alter von 55 Jahren noch bereit ist dazuzulernen und Vorurteile fallenzulassen. So kamen wir beide zu der Erkenntnis, dass es ein natürliches Geben und Nehmen zwischen Lehrer und Schüler geben sollte. Der Lehrer, der den Schüler unterdrückt und ständig nur fordert, ist nicht besser als der Schüler, der nach seiner Lehrzeit seinen Lehrer nicht mehr kennen will. Gleichwohl muss der Schüler bestrebt sein, die Grenzen des Meisters zu überwinden.

Diese Problematik war früher auch im Westen bekannt. Leonardo da Vinci36 meinte einst: »Der ist ein schlechter Schüler, der seinen Meister nicht überflügelt.« Zum Thema Respekt hat Zhuangzi sich vor 2 500 Jahren auf kluge Weise geäußert:

Wenn man über Respekt nicht spricht und er nicht erwähnt wird, dann ist Respekt vorhanden. Wird jedoch von Respekt gesprochen, wird er verlangt oder sich darauf berufen, oder wird erwähnt, wie sehr man jemanden respektiert, dann heißt das, dass es auch Respektlosigkeit gibt. Wenn man nämlich den Respekt betont, dann bedeutet das, dass es etwas Besonderes ist, und besondere Dinge sind immer selten. In der Natur, im Leben und in der Wissenschaft entsteht alles aus einem relativen Zusammenhang, so dass sich der Respekt erst aus der Respektlosigkeit bildet und umgekehrt. Somit ist wahrer Respekt erst vorhanden, wenn nicht darüber gesprochen wird.

Im alten China gab es bei einigen Kampfkunststilen den Brauch des baishi (拜师), der Bitte, von einem Meister als Schüler angenommen zu werden. Dabei muss man auf die Knie sinken und den shifu um Aufnahme in die Schule bitten. Diese Tradition ist eine rituelle Demutsbezeugung, ähnlich dem kotau37. Sie ist konfuzianischen und teilweise buddhistischen Ursprungs. In anderen Kampfkunststilen, vor allem in den daoistisch beeinflussten, wird diese Geste abgelehnt. Meister Lis Lehrer glaubten nicht an das baishi. Sie verlangten es auch nicht, genauso wie es Meister Li auch nicht von mir oder von anderen seiner Schüler verlangte.

Wu

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