Читать книгу Im Sturzflug nach Merkwürdistan - Frank Sommer - Страница 4

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Einleitung

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich im Grundschulalter in so mancher Sommernacht wach in meinem Bett lag und durchs offene Fenster ganz leise die Motoren hochfliegender Langstreckenflugzeuge gehört habe. „Da oben in den Flugzeugen sitzen die glücklichsten Menschen der Welt“, dachte ich mir. Die haben doch tatsächlich das Privileg, in Flugzeugen sitzen und sich die nächtliche Welt von oben anschauen zu dürfen, aber ich musste hier unten in meinem Bett versuchen, Schäfchen zu zählen. Ein grober Irrtum, Kinder sind halt leider manchmal etwas naiv. Heute verrenke ich mir auf unzähligen Nachtflügen das Kreuz, schlafe halb im Sitzen und muss wildfremde Menschen im Sitz direkt neben mir ertragen, die mir ihren Hintern zudrehen und das tun, was Menschen tun, wenn sie sich entspannen oder das Essen nicht vertragen – wovon man aber ganz sicher nichts mitbekommen möchte. In manch solch schlafloser Nacht im Flugzeug habe ich das Fenster aufreißen und dem kleinen Jungen unten auf der Erde die Wahrheit zubrüllen wollen. Dass er einen vernünftigen Beruf ergreifen solle, bodenständig und berechenbar.

Aber zunächst zurück zum Anfang, zum kleinen Jungen in seinem Bett. Aus ungeklärter Ursache hatte ich schon in frühesten Kindesjahren eine ausgeprägte Liebe zur Fliegerei. Was viele kleine Jungen einmal als Phase durchmachen, gekennzeichnet von Modellflugzeugen in den Regalen und Flugzeugkrickeleien auf dem Malpapier, setzte sich in meiner Kindheit jedoch als monothematischer Fetisch konstant weiter fort und verstärkte sich noch stets. Die jährlichen Flugreisen mit der Familie waren für mich das, was für andere Kinder die Bescherung an Heiligabend war: das Ziel des Wegs, die Erfüllung unserer Freud’schen Träume. Schon Wochen vorher traten symptomatische Schlafprobleme auf und je näher der Abflug rückte, desto mehr herrschte freudiger Ausnahmezustand. Ein Flug ohne Fensterplatz? Absolut undenkbar. So manches Mal fragte ich mich, was für ein komischer Kerl mein Vater nur war, der ja nie am Fenster sitzen konnte, weil ich dort sitzen musste. Wie konnte er diesen heiligen Platz nur an mich abtreten? Held oder Ungläubiger? Laut hatte ich diese Frage natürlich nie gestellt, denn ich wollte ja nicht riskieren, dass er es sich doch einmal anders überlegen würde. Kaum in Spanien angekommen, begann die aufgeregte Vorfreude auf den Rückflug. Im zarten Alter von 13 Jahren saß ich dann bereits im Cockpit von Segelflugzeugen und ... fand’s irgendwie uncool. Die Bewegung im dreidimensionalen Raum war ja ganz nett, aber das wiederholte Ziehen von Kreisen wurde bei ständiger Wiederholung nicht gerade interessanter und zudem ging mir diese Vereinsmeierei unter den Mitfliegern gehörig auf den Keks. Das war’s also nicht für mich. Das vorläufige Ende meiner Liebe zur Fliegerei? Von wegen. Aber wie würde sich meine Vorliebe künftig Ausdruck verschaffen? Als ich als 15jähriger in den Schulferien zwei Wochen am Stück ohne Unterbrechung jeden Tag mit dem Fahrrad die 20 Kilometer vom Elternhaus zum Flughafen und abends wieder zurück fuhr, einfach nur um im Gras zu sitzen und die Flieger auf der Piste zu bestaunen, machten sich die ersten Beteiligten langsam größere Sorgen um meinen seelischen Gesundheitszustand. Ich hingegen war glücklich. Die großen Düsendinger interessierten mich viel mehr als Vereinsvorsteher Kalles Sportflugzeuggurken und über die reine Fliegerei hinaus ließ sich am Flughafenzaun sitzend mit dem Kerosin auch ein wenig der Duft der großen weiten Welt schnuppern. Da rollte zum Beispiel mal ein Jumbo der Iran Air an mir vorbei. Wahnsinn, Iran – wer sitzt da bloß drin? Wo genau ist der Iran und wie ist es da bloß? Ob es da anders riecht? Ist es da gefährlich? Dies jemals herauszufinden, lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Mich plagten damals anstehende Mathearbeiten und auch Mädchen nicht ganz so sehr wie meine Altersgenossen, da ich eher auf das Anstarren von Flugzeugen abgefahren bin, dieser Umstand wurde mir ganz langsam klar.

Einmal irrte ich ziellos durchs Flughafenterminal und traf durch Zufall meine alte Klassenlehrerin aus der Grundschule. Gemeinsam blickten wir auf einen großen Ferienflieger und sie erzählte mir, dass sie damit vor ein paar Monaten nach Kanada geflogen sei, um sich das bunte Laub des Indian Summer anzusehen. In diesem Moment mutierte sie vom Erzfeind zur Göttin. Ein Langstreckenflug, so etwas durfte ich noch nie genießen. Kanada – das klang für mich weiter weg als der Mond und der Gedanke, die Fliegerei und fremde Länder zu kombinieren, hörte nicht auf, an Attraktivität zu gewinnen. Irgendwann im fortgeschrittenen Teenageralter war es dann tatsächlich soweit. Die Eltern zogen die Spendierhosen an und der erste Langstreckenflug stand auf dem Programm: im Jumbo in die USA. Ja, meine ersten Freundinnen hatte ich damals zwar trotz meines Fetischs auch schon gehabt, aber, hey, das war doch alles nicht so wichtig – jetzt rief die große weite Welt! Und es kam so, wie es kommen musste – die erste Reise wirkte auf mich wie eine ungeahnt große Dosis von der süßen Frucht, ohne die ich nicht ich gewesen wäre. Langsam kam nun auch die Zeit, in der man sich Gedanken über seine Wünsche zum beruflichen Werdegang machen musste. Ein wenig Bedenkzeit hatte ich noch während meines einjährigen Zvildienstes am Flughafen, aber dann wurde es ernst. Als Pilot zu fliegen hatte ich ja bereits dankend abgelehnt und dies sollte mich auch später nicht mehr interessieren. Was blieb also? Klare Antwort: keine Ahnung! Während dieser Orientierungslosigkeit brachte mich ein Tipp der Berufsberatung der Arbeitsagentur auf die fatale Idee, Geschichte zu studieren. Der Anfang vom Ende meiner Selbstverwirklichung in Sachen Fliegerei und weiter Welt? Würde ich nun mein Leben damit verbringen, im staubigen Kellerarchiv eines Museums Aktenschränke zu bewachen? Das Studium für sich war soweit ganz interessant und nett, aber seinen eigentlichen Wert fand ich erst im fünften Semester heraus. Das Geschichtsstudium war nämlich – anders als etwa BWL oder Jura – so aufgebaut, dass man als Student viele zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten hatte. Da ich begann, die Fliegerei zu vermissen, bewarb ich mich nebenher auf einen Job im Flughafenmanagement und siehe da, ich hatte Glück und bekam ihn. Nun hatte ich zwar das Problem, einen Vollzeitjob und ein Vollzeitstudium, welches ich nicht abbrechen wollte, zeitlich miteinander in Einklang zu bringen. Dafür konnte ich mich nun aber unerwartet beruflich voll der Fliegerei widmen und – besser noch – fand mich plötzlich auf der einen oder anderen Dienstreise per Flugzeug wieder. Wie nett, ein bezahltes Hobby neben dem Studieren! Das Studium dauerte aufgrund dieser Umstände bis zu seinem Examen zwar ein paar Semesterchen länger, aber dafür hatte ich das Privileg, etwas tun zu dürfen, was ich liebte.

Nach dem Studium arbeitete ich noch ein paar Jahre am Flughafen, bis sich die einmalige Chance auftat, dass ich mich als Trainer selbständig machen konnte, um Flughäfen in Sachen Flugsicherheit zu trainieren und zu beraten. Ein Job ausschließlich basierend auf Reisetätigkeit stand mir bevor. Ich würde ständig bequem um die Welt fliegen und mein Geld damit verdienen, neue Kulturen kennenzulernen und die süßen Seiten des Reisens kennenzulernen. Das musste das Paradies sein! War es aber nicht. Hatte ein paar Dinge übersehen. War mir leider erst später aufgefallen. Können Sie hier nachlesen. Aber lassen sich mich vorab versuchen, meine in den folgenden Jahren gewonnenen Erkenntnisse über das Leben des dauerhaft Berufsreisenden kurz und metaphorisch zu skizzieren. Es ist in etwa wie Ihr liebstes Fischgericht. Mit großem Appetit beginnen Sie, davon zu naschen, bis sie auf die erste Gräte beißen. Es schmerzt Sie sehr und für einen Moment fragen Sie sich, ob der Genuss die Schmerzen wert ist. Doch der Appetit überwiegt, Sie essen weiter und beißen bald in die nächste Gräte – diese schmerzt noch mehr und Sie hören kurz auf zu essen. Aber, verdammt, es duftet so verführerisch und Sie sind noch immer hungrig und so essen Sie weiter und immer weiter und die großen und kleinen Gräten bereiten Ihnen Schmerzen, können Sie am Ende aber nicht stoppen. Willkommen in meinem Leben! Von so mancher meiner großen und kleinen Gräten können Sie auf den folgenden Seiten lesen, aber auch von dem großen Appetit auf die duftenden Genüsse. All dies betreibe ich nicht ohne Angst, dass ich mich vielleicht doch auch mal so richtig fies an einer bösen Gräte verschlucken und daran ersticken könnte. Ein guter Kollege von mir, ein alter amerikanischer Pilotenhaudegen, staunte vor einiger Zeit nicht schlecht, als ich ihm von meinen ständigen Dienstreisen, Jetlags und Reisekatastrophen berichtete. „Es macht Spaß, aber es macht mich auch fertig. Bis ans Ende meiner Tage kann ich das so kaum durchhalten“, sagte ich ihm. „Och, das ist doch kein Problem.“, antwortete er. „Mach einfach noch zwei, drei Jahre genauso weiter, wie Du es jetzt machst und dann müsstest Du das Ende Deines Lebens auch als Enddreißiger eigentlich schon erreicht haben.“ Da war sie wieder, die gefürchtete letzte Gräte im falschen Hals.

Sie mögen sich jetzt fragen, was denn eigentlich mein Problem ist. Es scheint, als würde ich auf Kosten anderer an jedem zweiten Wochenende die Welt umrunden und dies vermutlich noch nicht einmal in der Touristenklasse. Ich würde an Orte gelangen, die in einigen Fällen kaum ein anderer aus meiner Heimat jemals bereist hat und dann beklage ich mich über ein Haar in der Suppe? Lassen Sie mich Ihnen vorab zwei kleine Fischhappen servieren und Ihnen an diesen beiden kleinen Beispielen verdeutlichen, dass wir hier tatsächlich nicht von Haaren, sondern von kapitalen Gräten im Essen sprechen:

Im Sturzflug nach Merkwürdistan

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