Читать книгу Der Schatz des Gregor Gropa - Frank Wündsch - Страница 10

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Der Bus fuhr zweimal am Tag von Coldsville nach Sydney. Einer am frühen Morgen, der nächste, wenn die Sonne längst untergegangen war. Die Morgenluft war angenehm kühl. Marius stand an der Haltestelle, die sich lediglich einige Meter von seiner Wohnung entfernt befand und wartete. Die Augen hielt er dabei auf seine Schuhe gesenkt. Das Haus, in dem er gelebt hatte, wollte er nicht mehr sehen. Kamen Leute vorbei, unterließ es Marius, zu ihnen aufzuschauen. Er ärgerte sich, dass er nicht bereits am Abend zuvor nach Sydney gefahren war, wobei es für den gestrigen Flug sowieso zu spät gewesen wäre.

Plötzlich zuckte Marius zusammen. Sally kam auf ihn zu. Zu seiner Verwunderung sagte sie kein Wort. Marius ebenso wenig, doch kamen ihm schlagartig die schönen Zeiten ihrer Beziehung zu Bewusstsein, so dass ihm vor Wehmut schwindlig zu werden drohte. Sally wusste sofort, wie es um ihn stand. Sie zog die Augenbrauen nach oben, legte ihren Kopf langsam auf die Seite und lächelte ihn schelmisch an. Dann richtete sie einen ganz herzlichen Gruß ihres Vaters aus, drückte ihm eine Dose mit selbstgebackenen Keksen in die Hände und einen Kuss auf die Lippen. Sally verlor kein weiteres Wort und ging ihrer Wege, ohne sich noch einmal umzudrehen. Marius sah ihr nach, bis sie an einer Biegung der Straße verschwunden war.

Zu seiner Erleichterung kam der Bus pünktlich. Marius nahm abseits der anderen Fahrgäste Platz und mied jeden Blick nach draußen. Vier Stunden Fahrt nach Sydney lagen vor ihm. In der letzten Nacht hatte er keine Ruhe gefunden. Nachdem der Fahrer die ersten zwanzig Kilometer über eine holprige Piste bis zur Schnellstraße nach Sydney überwunden hatte, schloss er die Augen und fand den ersehnten Schlaf.

Kurz vor dem Flughafen wachte Marius auf. Er hatte geträumt, jedoch nicht von seinem Vater. Seine bereits verstorbene Mutter war ihm im Traum begegnet. Er hatte sie lediglich von hinten gesehen. Sie saß auf einem Stuhl und war dabei, ein Bild zu malen. Marius hatte sich getraut, über ihre Schultern zu blicken. Sein Mut sollte ihm Bitterkeit bereiten, denn seine Mutter malte an einem Bild, welches einen Friedhof zeigte.

Am Flughafen fühlte sich Marius wie benommen. Nach der Passkontrolle hätte er nicht mehr gewusst, ob ein Mann oder eine Frau seine Papiere prüfte, und am Gepäckband musste er dazu aufgefordert werden, seinen Koffer aufzugeben. Kurz darauf saßen die Passagiere dicht gedrängt im Flieger. Marius versuchte, von ihnen keine Notiz zu nehmen.

Während der vielen Stunden über dem Indischen Ozean und dem Asiatischen Festland hatte Marius immer wieder auf die Uhr gesehen, bis er den Anblick kaum mehr ertragen konnte und er sie vom Handgelenk zog. Marius tat etwas, was er lange nicht mehr gemacht hatte. Er fing an zu beten, dass er seinem Vater lebend begegnete. Er flüsterte immer dieselben Worte vor sich hin, bis seine Nachbarin auf ihn aufmerksam wurde und fragte, ob sie ihm helfen könne.

Die Zeit wollte für die Passagiere während des Zwischenstopps in Singapur nicht vergehen. Für Marius verstrich sie viel zu schnell, da er befürchtete, zu spät zu kommen. Die Leute, die mit ihm flogen, nervten ihn. Sie schnarchten, wenn sie schliefen, begannen aufgeregt zu schnattern, als im Flugzeug die Sonne aufging und mäkelten, weil das Essen nicht schnell genug kam. Marius fand keine Ruhe und zählte Minute um Minute.

Endlich hatten sie Frankfurt erreicht. Ein böiger Wind empfing die Passagiere auf dem Rollfeld, die Leute knöpften ihre Jacken bis oben hin zu. Marius war für den Vorfrühling in Deutschland viel zu leicht angezogen, und er begann heftig zu frieren.

Im ICE nach Mannheim stand Marius, da er nach dem Flug nicht mehr sitzen konnte. Während das Flugzeug auf die Minute pünktlich gelandet war, hatte der Zug Verspätung. Marius trat von einem Bein auf das andere und verwünschte die Bahn, dabei war die frei von Schuld für den Brand einer Fabrik, die sich in unmittelbarer Nähe der Gleise befand.

Der ICE traf mit einer halbstündigen Verspätung in Mannheim ein. Marius sprang aus dem Zug und hetzte zu einem Taxi. Den Fahrer bat er inständig, sich zu beeilen, doch gerieten sie in starken Verkehr, kaum dass der Wagen den Bahnhof verlassen hatte. Der Fahrer spürte die Ungeduld von Marius und gab sich Mühe, ihn abzulenken. Als er erfuhr, dass sein Fahrgast aus Australien eingeflogen war, drehte er die Heizung auf. Der Fahrer fragte Marius, was er sonst für ihn tun könne. „Schneller fahren“, herrschte Marius ihn an, aber der freundliche Mann verwies auf die Kolonne der Fahrzeuge, die sich quälend langsam durch die Straße schob.

Es begann zu dunkel zu werden, als sie endlich das Klinikum am Neckarufer erreicht hatten. Marius ließ einen Geldschein auf den Sitz fallen und riss den Koffer an sich. An der Information fragte er sich verhaspelnd nach dem Namen Kilian.

„Welche Abteilung?“

„Onkologie!“

„Herr Kilian liegt im Zimmer 432, im vierten Stock. Sie müssen durch den Gang bis ans Ende gehen, dann links, danach rechts den Gang entlang und wieder bis zum Ende. Dort ist ein Fahrstuhl. Wenn Sie oben sind, dann nochmals scharf links, und Sie sind da.“

Marius fegte mit dem Koffer durch die Gänge. Einmal nahm er die falsche Richtung, ein Mann, der an Krücken ging, wies ihm den richtigen Weg. Den Fahrstuhl ließ er unbeachtet und sprang stattdessen mit dem Koffer an der Hand die Treppen nach oben. Als Marius die „Onkologie“ erreicht hatte, war ihm die Zimmernummer entfallen. Er fragte aufgeregt eine der Krankenschwestern um Rat. Die Schwester hatte eben mit ihrer Schicht begonnen. Viel zu langsam suchte sie auf dem Bildschirm nach. „Ach, da hab’ ich’s. Nummer 432.“ Marius eilte davon. Die Schwester fuhr plötzlich mit der Hand zum Mund und erschrak. „Herr Kilian, bitte warten Sie!“, rief sie ihm hinterher. Sie bemerkte auf ihrem Schreibtisch den Brief und einen großen braunen Umschlag, die für Marius gedacht waren und nahm sie an sich. Marius hatte die Hand an der Türklinke. Die Schwester kam auf ihn zugelaufen. „Herr Kilian, ich muss Ihnen etwas sagen.“

„Was denn?“, fragte er leise und wagte kaum zu atmen.

„Das tut mir sehr leid, aber Ihr Herr Vater ist in der letzten Nacht verstorben. Mein aufrichtiges Beileid. Den Brief und den Umschlag soll ich Ihnen geben. Die sind von Ihrem Vater.“

Marius blieb es versagt, seinen Vater noch einmal zu sehen. Sie hatten den Leichnam bereits aus dem Krankenhaus gebracht. Die Schwester bot ihm einen Stuhl und Kaffee an, er lehnte ab. Marius wollte nach Hause.

Seine nächste Fahrt mit einem Taxi verlief zügiger. Sie endete in der Schwetzingerstadt. Marius zahlte, ließ sich den Koffer geben, bedankte sich und ging zum Gebäude mit der Nummer Fünfzehn. Trotz der Müdigkeit im Kopf und der Trauer im Herzen, ließ er seinen Blick über Haus und Hof schweifen und glaubte, alles so vorzufinden, wie er es in den fünf Jahren seiner Abwesenheit in Erinnerung behalten hatte.

Nach dieser langen Zeit tat sich Marius schwer, am Bund den passenden Schlüssel zu finden. Er hatte mit dem zweiten Glück und stieg schwerfällig nach oben in den dritten Stock. An dieser Tür wusste er sofort, welcher Schlüssel passte. Er machte sie mit zittrigen Händen auf, war froh niemandem im Treppenhaus begegnet zu sein und zog schnell die Tür hinter sich zu.

In der Wohnung herrschte eine unangenehme Kühle. Er öffnete die Fenster, sorgte für Durchzug, drehte an den Ventilen der Heizkörper und war erleichtert, als diese sich rasch erwärmten. Marius schaute in jedes Zimmer. In seinem schien die Zeit stehen geblieben zu sein, in den übrigen entdeckte er nur wenige Veränderungen. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder, die seine Mutter gemalt hatte, bis sie verstorben war. Marius schaute auf die Eingangstür. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie geöffnet wurde und seine Eltern die Wohnung betraten, um ihren Sohn willkommen zu heißen.

Marius wollte auf der Couch zur Ruhe kommen und die Augen schließen. Vor der Couch stand jedoch der Tisch, auf dem er den Brief seines Vaters gelegt hatte. Marius bereitete es Furcht, ihn zu lesen, und er starrte zur Decke. Schließlich überwand er sich, griff mit zittrigen Händen nach dem Brief und öffnete ihn.

Lieber Marius,

Du wirst überrascht sein, eine fremde Handschrift zu lesen, doch bin ich nunmehr zu schwach, um selbst schreiben zu können und bat einen Vertrauten, meine Worte zu Papier zu bringen. Du musst keine Furcht haben, lieber Sohn, diese Worte fallen nicht so harsch aus, wie jene im vorigen Brief, als ich erbost war, dass Du für lange Zeit nichts hast von Dir hören lassen. Es geht dem Ende zu, und ich möchte milde sein.

Bevor ich sterbe, komme ich nicht umhin, Dir für Deinen weiteren Lebensweg etwas ans Herz zu legen. Leider ist das Erbe, das ich Dir hinterlasse, zumindest in finanzieller Hinsicht überschaubar, was auch ohne jeden Zweifel darin begründet liegt, dass Du den Großteil meines Geldes ebenfalls in Australien gelassen hast. Das war keine gute Idee von Dir, mitten im Nirgendwo eine Kegelbahn zu betreiben. Dieses Missgeschick ging nicht nur über Deine Kräfte. Deine Mutter hätte das womöglich mit ihrem Weitblick, der mir verlustig ging, verhindern können. Aber zu ändern ist das nicht mehr. Jetzt musst Du neue Wege gehen. Damit Du auf die Beine kommst, möchte ich Dir eine Arbeit anbieten. Sie wird Dir nicht zur Gänze fremd sein, denn es ist jene, die ich bisher selbst verrichtet habe. Bitte höre auf den Rat Deines alten Vaters, und nimm die Arbeit bei Herrn Weigelt an. Sie ist nicht immer einfach, aber anständig bezahlt. Du sollst Dich bei Herrn Weigelt um den Garten kümmern und seinem Enkelsohn ein guter Freund sein. Das ist alles. Ich habe bei ihm ein gutes Wort für Dich eingelegt. Herr Weigelt erwartet Dich baldmöglichst zu einem Gespräch. Gehe hin sobald Du kannst.

Falls Du in Deiner freien Zeit eine sinnvolle Beschäftigung suchst, so habe ich eine Anregung für Dich. In dem braunen Umschlag findest Du ein Schriftstück, das Dein Großvater geschrieben hat. Du hast ihn nie kennenlernen dürfen, weil er lange vor Deiner Geburt im Gefangenenlager in Russland verstorben ist. Auch ich habe lediglich einige verschwommene Erinnerungen an ihn. Als er in den Krieg ziehen musste, war ich ein kleiner Junge. Das meiste habe ich gelesen, dann schwanden meine Kräfte, und die Augen wollten auch nicht mehr so wie früher. Aber keine Bange, die Schrift Deines Großvaters liest sich mühelos. Nur das Geschriebene war nicht immer leicht zu verkraften. Dieser Bericht sollte wohl eine Art Beichte für das sein, was er damals im Krieg erlebt hat. Ich war über manche Einzelheiten selbst erschrocken, aber auch erleichtert, dass mein Vater kein Mörder war. Erst als ich sterbenskrank im Bett lag, begann ich seinen Bericht zu lesen. Mache Dir selbst ein Bild, wenn Du die nötige Muße hierfür gewonnen hast, aber warte nicht so lange damit, wie ich es tat.

Jetzt muss ich schließen, mein Sohn. Ich kann nicht mehr. Ich hoffe, Dir ein guter Vater gewesen zu sein, so wie Deine Mutter eine gute Mutter gewesen ist. Lebe wohl!

Dein Dich liebender Vater

Die Hände von Marius begannen zu zittern, Tränen rannen über seine Wangen, und er rang um Fassung. Als die Schwester ihm im Krankenhaus die Todesnachricht übermittelt hatte, waren seine Augen trocken geblieben. Zu keiner Gefühlsregung war er fähig gewesen, jetzt war Marius dankbar, dass sein Vater in diesem Schreiben versöhnliche Worte gefunden hatte. Er küsste den Brief, legte ihn behutsam auf den Tisch und seufzte so tief und heftig, wie nie in seinem jungen Leben zuvor.

Der Schatz des Gregor Gropa

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