Читать книгу Der Schatz des Gregor Gropa - Frank Wündsch - Страница 13
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ОглавлениеObwohl Marius nicht recht einzuschätzen wusste, was ihn erwartete, hatte er sich den ersten Tag in den Diensten Herrn Weigelts anders vorgestellt. Herr Weigelt selbst war nicht im Haus. Sein Diener Karl hatte ihn in eine Klinik zu einer ambulanten Behandlung gefahren. Reine Routine sei dies, ließ Herr Weigelt ihm ausrichten.
Boris hatte Marius das Tor geöffnet. Bei ihrer ersten Begegnung war er zum Eingang gerannt und hatte Marius kaum erwarten können. Heute schlich er wie von einer Zentnerlast beschwert über den mit Kies bestreuten Weg, sagte kein Wort außer „Morgen“ und ging mit gesenktem Kopf zurück ins Haus. Dabei bewegte sich Boris so langsam, dass Marius ganz kleine Schritte machte, um auf seiner Höhe zu bleiben. Boris hielt sich die rechte Wange. Sie war geschwollen. Er führte Marius in die Bibliothek und nahm in einem der großen Sessel Platz, ohne Marius einen anzubieten.
„Boris, haben Sie Zahnschmerzen?“
„Duz’ mich“, brachte er mühsam hervor.
„Hast du Zahnschmerzen?“
Boris nickte, tippte auf die Backe, murmelte was von „Weisheit“ und grinste für einen Augenblick, um sogleich aufzustöhnen.
„Du musst zum Zahnarzt.“
Die Augen von Boris weiteten sich, dann hob er den Zeigefinger der linken Hand und schwenkte ihn heftig hin und her. „Nein! Dann lieber Backe dick!“
„Du musst sie wenigstens kühlen.“
Boris hob die Schultern.
„Habt ihr in eurem Kühlschrank Eiswürfel?“
Boris brachte statt einer Antwort nur ein Wimmern zustande.
„Bleib hier, ich schaue nach, ob ich Eis auftreiben kann.“
Marius suchte nach der Küche. Im Haus fanden sich viele Zimmer. Die Orientierung wurde ihm leicht gemacht, da über den Türen in großen Buchstaben, die in einer schönen, makellosen Schrift geschrieben waren, der Verwendungszweck jedes Zimmers stand.
Das Wohnzimmer war so groß wie die Wohnung seines Vaters. An den Wänden hingen Gemälde, vornehmlich mit Motiven aus der Schifffahrt vergangener Zeiten. Die Ausmaße des Fernsehers glichen der einer Kinoleinwand. Sessel und Sofa waren mit Leder überzogen, in der Luft hing ein angenehmer Duft nach Lavendel. Auf einem Tisch stand eine Vase, die mit den Mustern verschiedenfarbiger Tomaten geschmückt war. Marius bemerkte neben dem Kamin ein Bild, das kein Schiff zeigte, sondern eine Tomatenpflanze in Öl auf Leinwand. Über der Tür entdeckte er einen Kunstdruck von Warhols Ketchup-Dosen. Auf einer Anrichte standen edle Tropfen in Flaschen jedweder Form und Größe, die Etiketten verrieten ihre Herkunft aus vielen Ländern der Erde. Marius hielt eine Flasche Whisky in die Höhe, bis ihm die zu der Kühlung von Boris geschwollener Wange erforderlichen Eiswürfel einfielen und er sich auf den Weg in die Küche machte.
Alle Gebrauchsgegenstände im Haus der Weigelts schienen Übermaße zu haben, so auch der Kühlschrank. Der war mit Getränken und Speisen vielfältiger Art bis zum Rand gefüllt. Im Eisfach fand sich das Gesuchte. Marius griff nach mehreren Eiswürfeln, wickelte sie in ein Tuch und wollte zu Boris gehen. Die Neugier hielt ihn davon ab. Er schob das Tuch in das Eisfach, verschloss den Kühlschrank und stieg die Treppe hoch. Wie im Erdgeschoss stand über jeder Tür geschrieben, was sich dahinter verbarg. „Mamas Schlafzimmer“ hätte Marius besonders interessiert, wenn sich Herrn Weigelts Tochter nicht in Australien aufgehalten hätte. „Boris seine Burg“ befand sich gleich daneben, das Zimmer von seinem Großvater links von jenem seiner Tochter, am Ende des Ganges sah Marius, wo der Diener Karl seine Behausung hatte. Überall hingen Bilder, die Landschaften, Schiffe und Häfen zeigten, auch bunte Kritzeleien in blauen und gelben Rahmen waren zu sehen, die er Boris zuschrieb.
Marius stieg wieder hinab, sah eine Treppe in das Untergeschoss führen, las die Buchstaben „Zum Schwimmbad“ und konnte nicht umhin, ihnen zu folgen.
Der Anblick raubte ihm den Atem. Das Hallenbad war groß und breit wie ein städtisches, in dem aber kein einziger Mensch schwamm, das Wasser ruhig wie in einem Ententeich, jedoch nicht so trüb, sondern kristallklar. Marius sah auf den Boden des Beckens hinab. Der Grund war nicht mit schnöden schmucklosen Fliesen belegt. Mosaiksteine formten Bilder, die den Motiven antiker römischer Villen entnommen zu sein schienen. Marius wollte das Kolosseum erkannt haben. In der Tiefe erspähte er tatsächlich mit Dreizack und Schwertern bewaffnete Gladiatoren, sowie Löwen, die mit Tigern kämpften. Plötzlich glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können, denn er entdeckte entlang des rechten Beckenrandes das Wrack eines Schiffes. Der Mast mit dem Krähennest lag zerbrochen neben dem Wrack, im Schiffsbauch klaffte ein großes Loch, und eine Kanone nebst Kugeln ruhte neben dem Bug. Marius umlief staunend das Becken und entdeckte unweit des Hecks eine Truhe, in der ein großer Schatz verborgen sein mochte. Er schätzte die Tiefe des Beckens auf mindestens fünf Meter, tatsächlich waren es sieben, wie er einer Markierung in roter Farbe entnehmen konnte. Das Wrack lag auf dem Beckengrund zur Fensterfront hin, so dass man vom Rand der gegenüberliegenden Seite gefahrlos hineinspringen konnte. Mit offenem Mund blieb Marius stehen und schüttelte den Kopf. Wie hätte er auch so etwas erwarten können? Dann erinnerte er sich der dicken Backe von Boris und eilte nach oben.
Als Marius ihn mit den im Tuch eingewickelten Eiswürfeln aufsuchte, entschuldigte er sich dafür, dass es so lange gedauert hatte. „Ich wusste nicht, wo die Küche ist, ich musste sie zuerst suchen.“
Boris guckte ungläubig, schließlich bat er um einen der Eiswürfel und legte ihn sich auf den schmerzenden Zahn. Marius band das Tuch mit dem übrigen Eis dem wimmernden Boris um den Kopf, machte über dem Haaransatz einen Knoten und trug dafür Sorge, dass die Würfel dicht an der geschwollenen Wange lagen. „Leg die Hand drauf“, wies Marius ihn an. Boris gehorchte und gab ein Grunzen von sich. Kurz darauf verzog er das Gesicht und spuckte den Eiswürfel, den er sich in den Mund gelegt hatte, wieder aus. Marius bückte sich mit einem Taschentuch in der Hand, nahm das Eis auf, ging zu einem der großen Fenster der Bibliothek, öffnete es und warf den Würfel in den Garten. Dann überlegte er, was noch zu tun wäre. Endlich schlich sich die ihm aufgetragene Arbeit ins Bewusstsein, und er fragte nach.
„Boris?“
„Hmmh?“
„Wo hat mein Vater die Samen für die Tomaten aufbewahrt?“
Marius fand alles so vor, wie er dies erwartet hatte. Sein Vater hatte für beste Ordnung gesorgt. In einem Schuppen aus Kiefernholz, der sich im Garten gleich neben den Beeten befand und der in seiner Größe einer geräumigen Garage glich, waren zahlreiche kleine Tüten mit Samen in verschiedenfarbigen Karteikästen untergebracht. In dem roten fanden sich Sorten wie „Harzfeuer“, die nach der Reife rote Früchte tragen sollten, im grünen Samen der „Evergreen“, in dem schwarzen fand er „Black Crim“ und in dem weißen die „Weiße Schönheit“ vor. In dem blauen Kasten hatte sein Vater andere ausgefallene Sorten wie den Samen der „Zebra-Tomate“ oder dem „Andenhorn“ gelagert.
Auf einem Regal an der Wand waren Töpfchen zur Anzucht gestapelt, auf dem Boden sah Marius einen gelben Sack mit schwarzer Erde. Die Töpfchen waren sauber und wiesen keinerlei Rückstände auf. Marius zählte zehn davon ab, füllte sie mit der Erde, wählte zehn verschiedene Samensorten aus, legte, um Verwechslungen zu vermeiden, die angebrochene Tüte vor den Topf und begann, den Samen in die Erde zu drücken.
Boris saß im Schneidersitz vor dem Tisch, auf den Marius die Töpfchen gelegt hatte und beobachtete mit Argusaugen jeden Handgriff. Marius konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vom Tuch, das er Boris um die geschwollene Wange gebunden hatte, triefte das geschmolzene Wasser und hinterließ eine Lache auf dem Boden. Boris ließ sich davon nicht stören. Er gab Marius die Anweisung, die Samenkörner tiefer in die Erde zu drücken. „Warum soll ich das tun?“, fragte Marius ohne Argwohn. Boris gab eine scharfe Antwort. „Weil nur die starken Samen Licht bekommen sollen, die schwachen bleiben unten und sterben.“
„Hast du das von meinem Vater gelernt?“
„Nein, das hat mir mein Opa beigebracht. Der sagt, dass die Natur nun mal so ist. Drückst du die Körner jetzt tiefer in die Erde?“
Marius tat so als ob und reckte, nachdem er der Erde den ersten Schuss Wasser aus einem hölzernen Becher gegönnt hatte, die Daumen nach oben. „Ein Anfang ist getan. Jetzt muss ich die Töpfchen beschriften, damit wir wissen, wo welche Art von Samen drin steckt. Verstehst du mich, Boris?“ Der sprang wie von der Tarantel gestochen aus seinem Schneidersitz und rief „Das mache ich!“ Aus einem Schrank holte Boris einen Stift und Etiketten, ließ sich von Marius die Tomatenart nennen und schrieb sie auf das Papier. Dann löste er die Etikette ab und reichte sie Marius. Der las „Andenhorn“ und war beeindruckt. Boris hatte eine schöne Schrift, sie las sich sehr gut. Marius glaubte, die Schrift als jene erkannt zu haben, die er über den Türen im Haus gesehen hatte.
„Gell, ich kann gut schreiben.“ Marius nickte, Boris freute sich.
„Geht’s denn besser mit den Zahnschmerzen?“
Boris riss das Tuch vom Kopf und ließ es zu Boden fallen. „Viel besser.“
Neben den Samenkörnern hatte Marius’ Vater für den Mulch gesorgt. Sein Vater hatte auf Mulch jeden Eid geschworen. „Der ist für Tomaten genauso wichtig, wie für uns Menschen die Luft“, erinnerte sich Marius an seine Worte. Ein großes Fass bewahrte den Rindenmulch auf, der einen angenehmen Duft verströmte. „Sobald es ein wenig wärmer ist, müssen wir den auf die Beete verteilen“, sagte Marius. Boris hörte aufmerksam zu und stellte Marius eine Frage. „Kannst du das alles so gut wie dein Vater das konnte?“
„Ich werde jedenfalls mein Bestes tun“, gab er zögerlich zur Antwort und ahnte, dass er weder die Bedenken von Boris, geschweige denn seine eigenen zerstreuen konnte.
Boris legte den Kopf zur Seite. „Dein Vater hat alles richtig gemacht“, sprach er treuherzig. Dann verkündete Boris, dass er großen Hunger habe.
Boris schaufelte ganz schön was weg. Sein Großvater, der aus der Klinik zurückgekehrt war, sah es mit Wohlwollen. „In meinem Alter soll ich ja Diät halten. Das legen mir meine Ärzte ans Herz. Dabei ist meines so alt geworden, weil ich im Leben auch mal fünf habe gerade sein lassen. Iss mein Junge, damit du groß und stark wirst, aber das bist du ja schon.“
Sie saßen in der Küche und ließen es sich gut gehen. Karl hatte Steaks in die Pfanne gelegt, dazu reichte er Pommes frites. Lediglich zwei Teller standen auf dem Tisch. Karl nahm nichts zu sich, Herr Weigelt knabberte an einem Apfel. „So weit ist es mit mir gekommen“, grummelte er vor sich hin und ließ sich von Karl ein Glas Orangensaft reichen. Er nahm ein paar kleine Schlücke, dann sollte Marius Bericht erstatten. Der schluckte hastig ein Stückchen Fleisch hinunter und sprach über Samen, Mulchen und der Hoffnung auf einen warmen Frühling. Herr Weigelt schien wenig darauf zu achten.
„Früher habe ich nie etwas darauf gegeben, was mir meine Ärzte anordnen wollten. Damals konnte ich mir das auch leisten. Heute wird man bescheidener und vor allem demütiger und hört mit einem Ohr hin. Diese Quacksalber können einem das Leben vergällen, nicht wahr, Karl?“
„Mit einem Ohr hinhören, Herr Weigelt. Das ist die richtige Methode“, sagte Karl und legte die Bratpfanne in die Spülmaschine.
„Leider scheine ich heute mit beiden Ohren zuzuhören, sonst würde ich nicht einen Apfel essen und Orangensaft trinken. Nichtsdestoweniger leiste ich mir ab und an meine Sünden.“
Marius hatte sein Mahl beendet und wusste nicht, was er tun sollte. Er nahm schließlich den Teller und legte ihn in die Spülmaschine. Karl nickte knapp und schielte lauernd zu Boris. Der wollte Schokolade haben, Karl den Teller. Boris verschränkte trotzig die Arme, sein Großvater kicherte. „Die beiden haben es nicht so miteinander“, wandte er sich an Marius.
„Ich lasse mir nicht gerne auf der Nase herumtanzen, Herr Weigelt.“
„Schon gut, Karl. Wissen Sie, Herr Kilian, mein Diener nimmt ausschließlich diejenigen Anweisungen entgegen, die ich ihm erteilt habe, aber die führt er zu meiner völligen Zufriedenheit aus.“
Karl verlangte von Boris den Teller. Der wollte dafür in keinem Fall aufstehen. Boris nahm den Teller und streckte seinen Arm so weit aus, wie er konnte. Karl blieb an der Spülmaschine stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Boris machte sich lang und länger und fiel unter großem Gepolter vom Stuhl. Karl fing den Teller auf, bevor er auf den Fliesen zerbarst und räumte ihn, als ob nichts geschehen wäre, in die Maschine ein.
„Jetzt will ich aber Schokolade“, rief Boris vom Boden aus und trommelte heftig mit den Fäusten auf den Fliesen. Sein Großvater hielt sich den Bauch vor Lachen. „Mein lieber Karl, tun Sie mir den Gefallen und reichen Sie meinem nimmersatten Enkel eine Tafel Schokolade.“ Karl tat wie verlangt, Boris riss ihm die Tafel aus der Hand, aß munter drauf los und brach, bevor ihn sein Großvater ermahnen musste, ein Stück ab und reichte es Marius.