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Katharina

Leningrad, Winter 1934

„Karl, es bittet jemand um Einlass. Würdest du die Tür öffnen.“

Doktor Karl von Stein öffnete die schwere Eingangstür und der eisige Wind fegte Tausende von Schneeflocken in das Portal. Ein bärtiger Mann im dicken Mantel aus Schafsfell und einer tief ins Gesicht gezogenen Schápka erschien im Licht der Kerzen. Seine Augenbrauen und Barthaare waren vor Kälte gefroren. In seiner Hand hielt er einen versiegelten Brief.

„Sdráwstwuíte, Doktor von Stein!“, grüßte er freundlich.

„Wassily Petrovic? Wieso sind sie bei diesem Schneesturm unterwegs und noch dazu um diese Uhrzeit? Schnell treten sie ein!“

„Danke, Herr Doktor! Ein Brief aus Deutschland traf für sie ein. Ich dachte, sie würden ihn so schnell als möglich haben wollen.“

„Ein Brief aus Deutschland?“ Auch Anna von Stein kam zur Tür geeilt.

„Karl? Hörte ich richtig? Ein Brief von zu Hause ist angekommen?“

Anna von Stein war eine unscheinbare Frau, die sich über jede Nachricht aus ihrer Heimat freute, denn sie hatte oft Sehnsucht nach ihrer Familie. Schweren Herzens war sie ihrem Mann vor über drei Jahren nach Leningrad gefolgt und nur allmählich konnte sie sich an das neue Leben in einem unruhigen Land gewöhnen. Karl von Stein nahm den Brief entgegen.

„Danke, Wassily! Anna möchtest du ihn öffnen? Hier bitte! Wer schreibt uns?“

„Er ist von meiner Schwester“, lächelte Anna.

„Ich hoffe, es sind keine schlechten Nachrichten!“ Karl schaute skeptisch.

„Auf Wiedersehen, Doktor von Stein! Ich werde mich wieder auf den Weg machen.“ Wassily zog seine dicken Fausthandschuhe an und beugte seinen Kopf nach unten als Geste des Abschiedes.

„Wassily, mein Freund! Sie sollten wenigstens warten, bis sich der Schneesturm ein wenig gelegt hat. Bleiben sie und trinken sie einen Tee mit uns! Der Samowar ist noch heiß.“

„Danke! Aber, ich möchte sie nicht stören!“, lehnte Wassily höflich ab.

„Unsinn! Es ist uns eine Freude!“ Karl von Stein zeigte auf das anliegende Zimmer und Wassily nahm die Gastfreundschaft an.

„Würdest du uns den Tee zubereiten?“, bat Karl seine Frau, die den noch ungeöffneten Brief bei Seite legte und ihrem Mann in die Teestube folgte, einem großen warmen Raum, in dessen Mitte ein Eichentisch mit sechs reich verzierten und mit schwerem Brokat bezogenen Essstühlen stand. Auf dem Tisch dampfte der heiße Samowar und neben ihm blinkte eine Schale aus Silber mit bunter Emailmalerei und Filigran, gefüllt mit gebackenen figürlichen Lebkuchen, nach altem russischem Rezept. An der linken Wandseite stand ein kleiner Sekretär, an dem Karl von Stein Abend für Abend seine Studien niederschrieb. Ein Ofen, auf dessen Keramikkacheln in bunten Farben ein Sommerpalast zu sehen war, spendete dem Esszimmer wohltuende Wärme. An den Wänden hingen alte russische Gemälde, die unter dem Licht der Kerzen wie lebendig erschienen. Ein großer Wandbehang aus naturfarbener Baumwolle mit schwarzrotblauer Seidenstickerei gab dem Raum seine Gemütlichkeit. Trotz der prunkvollen Eichenmöbel, war die Villa in der vornehmsten Straße Leningrads, die Doktor von Stein und seiner Gemahlin zur Verfügung gestellt wurde, sonst nur spärlich eingerichtet und entgegen den meisten Herrenhäusern nahe dem Verfall. Die Figuren im Eingang waren beschädigt und die Bemalungen kaum noch zu sehen. Die Machtkämpfe, die Revolutionen und die politischen Veränderungen hatten auch hier ihre Spuren hinterlassen.

„Mein Mann und ich freuen uns sehr, sie wieder zu sehen. Wie geht es ihrer Frau Natascha? Sie war doch Hebamme nicht wahr?“ fragte Anna von Stein, während sie die Teeschalen füllte.

„Das ist richtig! Natascha hilft noch immer bei zahlreichen Geburten, aber die Zeiten sind nach wie vor hart. Hunger und Armut sind Schuld an vielen Totgeburten.“ Wassilys Stimme klang traurig.

„Ich weiß! Bitte, trinken sie den heißen Tee! Er wird ihnen gut tun. Der Weg hierher war sicher anstrengend.“

Anna sprach mit leiser Stimme, in der Hoffnung, dem Gespräch eine andere Richtung geben zu können. Sie sah die Armut jeden Tag, sie wollte nichts darüber hören. Doch Wassily sprach weiter.

„Natascha tut was sie kann. Doch dieser strenge Winter wird wieder sehr viele Schicksale fordern. Hinzu kommen die noch immer anhaltenden politischen Säuberungen. Auch, wenn ich meinem Land treu ergeben bin, wünschte ich, ich könnte meiner Frau das Leben bieten, was wir einmal hatten. Damals, als meine Familie noch sorglos in Krasnoje Selo lebte, bevor man uns alles nahm und meine Eltern starben.“ In Wassilys Worten lag ein bitterer Unterton.

„Sie waren ein Kulak, ein Kapitalist!“, scherzte Karl von Stein mit einem Lächeln, der Annas Unbehagen bemerkte.

„Oh, Doktor von Stein! Sie sollten darüber nicht lachen! Unsere Familie hat unser Land über Generationen fruchtbar gemacht. Wir waren keine Kapitalisten, wir waren Bauern, die von ihrer Ernte lebten. Wir lebten von unserer Arbeit und auch wir wollten die Veränderungen!“ Wassily schaute nach unten und seine Fäuste ballten sich.

„Sie haben Recht, Wassily! All die Enteignungen waren und sind schrecklich und ich weiß, das Leningrad noch immer voller Wut, Armut und Tod ist. Doch versuchen sie auch die guten Seiten zu sehen. Sie leben jetzt in einer Stadt mit großer Zukunft. Einer Stadt mit Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten und vergessen sie nicht die Museen, Gärten und Parks, die für alle Menschen geöffnet wurden. Auch wenn viele Menschen dafür Opfer brachten, ist es dennoch ein enormer Schritt in der Geschichte dieses Landes.“

„Doktor von Stein, bei meinem größten Respekt ihnen gegenüber, aber was wissen sie schon über unsere Geschichte. Solange ich denken kann, floss Blut auf den Straßen. Menschen wurden deportiert oder starben. Familien wurden auseinander gerissen oder ausgelöscht. Es gab immer nur Kampf und Trauer, verstehen sie! Und es ist noch nicht zu Ende!“ Es schien, als wäre Wassily wütend. Karl von Stein kannte diese Wut von vielen, in dieser Stadt lebenden Menschen, die eine bessere Zukunft wollten, aber sie nicht fanden.

„Sie haben Recht! Wir wissen nur sehr wenig über ihre Geschichte, dennoch ist sie auch sehr beeindruckend.“ Karl von Stein versuchte zu schlichten.

„Ich habe erst kürzlich gehört, dass Peter der Große Leningrad einst liebevoll den Namen Pieterburgh gab. Wie ich hörte, nach holländischer Gepflogenheit.“

„Ja, Doktor! Mein Bruder Sergej pflegte stets zu sagen, dass Leningrad ein Symbol für den Bruch althergebrachter Traditionen sei. Und so trägt sie jetzt einen neuen Namen, den eines großen Revolutionärs“. Wassily hielt inne und trank von seinem Tee, der unterdessen kalt geworden war. Anna, die besorgt über Wassilys Gemütszustand war, übernahm das Gespräch.

„Oh, ja! Wir hörten von dieser großen, das Land verändernden Revolution, die unter der Führung des berühmten Lenins stattfand. Nicht nur das Leningrad nach ihm benannt wurde, sondern auch, dass man für ihn eine außergewöhnliche Grabstätte in Moskau schuf.“

„Das ist richtig, Anna. Sie bauten ihm ein Denkmal!“, antwortete Wassily wieder ruhiger.

„Natascha und ich waren vor einiger Zeit dort.“

„Sie waren in Moskau?“ Anna, die froh über den gelungenen Gesprächsumschwung war, rückte näher an Wassily heran. Karl und sie hatten schon viel über die besondere Grabstätte erfahren und doch war es für sie immer noch unvorstellbar, wie man einem Menschen auf diese Art das ewige Leben schenkte.

„Sie waren in der Grabstätte? Wie sah sie aus?“ Gespannt wartete sie auf Wassilys Beschreibung.

„Der Monumentalbau ist kaum zu beschreiben. Es ist ein Mausoleum, dunkelrot und schwarz verkleidet und es steigt stufenförmig empor, gekrönt von einem tempelartigen Aufbau. Vor den Bronzetüren halten zwei Soldaten Ehrenwache. Lenin selbst ist aufgebahrt in einem gläsernen Sarg und dieser wiederum steht in einer Grabkammer aus roten, schwarzen und grauen Steinen. Vor dem Grabmal standen Tausende Menschen, um den Begründer ihres neuen Landes sehen zu können und ihm die letzte Ehre zu erweisen. Viele von ihnen weinten, sie schrieen und beteten für seine Seele, es war wirklich sehr beeindruckend!“

„Wie sah er aus?“, drängte Anna weiterzuerzählen.

„Es war, als ob er schliefe. Es war, als würde er jeden Moment erwachen und sein Werk fortführen, ein wirklich großer Mann!“ Wassily sah in seine Teeschale und im Raum wurde es still.

„Ich danke ihnen für den Tee! Er war sehr wohltuend. Jetzt muss ich mich jedoch wieder auf den Weg machen.“

Wassily zog seinen Mantel an, streifte seine Handschuhe über und verabschiedete sich in aller Höflichkeit.

Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und der Wind peitschte an die Scheiben, auf denen Eiskristalle wundervolle Blumenmuster malten.

„Sieh nur, Karl, Eisblumen! Ich bewundere die Kunst der Natur jedes Jahr aufs Neue. Sind die Formen nicht wunderschön?“

„Ja, mein Liebling, sie sind wunderschön. Aber sie sind es nur, weil unser Heim warm ist.“ Karl von Stein war nachdenklich.

„Ja! Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass es uns an nichts fehlt. All die Armut ist erschreckend. Dieses Land ist noch weit entfernt von einem sorglosen und guten Leben!“

„Denkst du oft an Deutschland zurück?“, fragte Karl seine Frau.

„Karl! Ich weiß, wie wichtig dir deine Arbeit hier in Leningrad ist. Dennoch gibt es Zeiten, in denen ich mir wünsche, zurückzukehren. Obgleich ich es dann auch wieder nicht will.“ Anna hielt kurz inne, denn sie erinnerte sich an den Brief aus Deutschland. Sie lief in die Teestube, öffnete hastig das Siegel und las laut vor.

Meine liebe Anna, lieber Karl! München, 30.August 1934

Nach langer Zeit des Schweigens, möchte ich Euch Nachrichten aus der Heimat senden. Wie geht es Euch? Uns allen geht es den Umständen entsprechend gut. Mutter hat sich gerade von einer leichten Erkältung erholt. Vater arbeitet Tag und Nacht in der Bank. Auch für uns wird es jetzt schwerer. Vater musste seinen Kunden alle kurzfristigen Kredite kündigen, schuld ist noch immer die Wirtschaftskrise, sagt er. Leider weiß ich nicht viel von diesen Dingen. Es gibt keine Arbeit und die Angst vor Zwangsversteigerungen und Zwangsräumungen überschattet die Familien. Überfälle und politische Morde machen uns große Angst. Fabriken und Betriebe werden geschlossen und Vater sagt, die Steuern werden erhöht. Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit.

Vater will Karl das große Zille Album mit Zeichnungen aus dem Arbeiterviertel Berlins und Grüßen aus der Heimat schicken und ich sende dir Anna die Vogue, eine kleine Ablenkung von deinem Alltag.

Liebe Anna, lieber Karl! Leider muss ich Euch auch eine sehr traurige Mitteilung machen. Unser geliebter Bruder ist tot. Vor zwei Monaten bekam er leichte Fieberanfälle. Er aß nicht mehr, war matt und hatte oft Kopfschmerzen. Wir alle dachten, es sei nur eine Magenverstimmung, doch es ging ihm Tag für Tag schlechter. Seine Fieberanfälle wurden immer schwerer. Der Doktor kam und er stellte Diphtherie fest, eine sehr heimtückische Krankheit, sagte er. Der Doktor versuchte jede Medizin, doch er konnte ihm nicht mehr helfen, es war zu spät und so starb er am 23.August. Wir alle trauern sehr um ihn. Es ist für uns alle unfassbar, doch sein Wunsch war es, das wir unseren Mut nicht verlieren. Er wird immer in unseren Herzen weiterleben. Verzweifle bitte nicht, Anna! Gott nahm Peter zu sich und ich bin sicher, er hatte seine Gründe.

Bis bald Eure Magdalena.

Anna konnte nicht glauben, was sie las. Karl hatte Recht, es waren schlechte Nachrichten. Anna wollte weinen, sie wollte schreien. Der Schmerz, die Sehnsucht und die Wut stauten sich in ihrem Herzen auf und entfachten einen inneren Orkan, der alles mit sich riss.

Die Wiege der Damaszener

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