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Katharina

Leningrad, Frühsommer 1936

Die Sonne versank am Horizont, die Straßen leerten sich. Anna von Stein schaute ungeduldig auf die Wanduhr, es war bereits sieben Uhr. Ihr Mann war noch immer nicht zurückgekehrt. Karl von Stein arbeitete in der Akademie der Wissenschaften, die ihn sehr forderte. Zu oft kam er erst in den frühen Morgenstunden nach Hause und ging kurze Zeit später wieder fort, für einen neuen Tag. Anna war sehr einsam, doch sie hätte Karl niemals gebeten auf sie Rücksicht zu nehmen. Sie wusste, wie wichtig seine Aufgabe für Leningrad war.

Heute jedoch wollte er seine Studien früher beenden, für einen besonderen Tag. Denn Anna und Karl von Stein waren zum Fest der Künste in der kleinen Eremitage im Winterpalais eingeladen, wo berühmte Maler, Künstler und Architekten geehrt werden sollten.

Anna war sehr aufgeregt, denn seit langem waren sie und Karl nicht mehr aus gewesen. Seit Wochen dachte sie darüber nach, welche Gardarobe sie heute tragen würde. Anna wusste nicht viel über die neueste Mode, die die Frauen der neuen Stadtherren trugen. Das Einzige, woran sie sich orientieren konnte, war die alte Zeitschrift ihrer Schwester, die einst das kurze Schwarze diktierte. Doch dann endlich fand sie das perfekte Kleidungsstück, das fast vergessene, gut eingepackte Abendkleid ihrer Schwester. Anna liebte den feinen Stoff und einst beneidete sie Magdalena darum, weil sie einfach wunderschön darin aussah. Magdalena wusste um den liebevollen Neid und schenkte ihr das Kleid am Tag der Abreise nach Leningrad. Anna war sehr angetan, auch wenn sie in all der Zeit nie die Gelegenheit fand es herauszunehmen. Stets kleidete sie sich hochgeschlossen und ganz nach den Gepflogenheiten der einfachen Leute. Doch heute wollte sie raus aus dieser Kluft, sie wollte das Gefühl der Eleganz der alten Zeiten haben, nur dieses eine Mal.

„Karl? Bist du es?“ Anna, die gerade ihre Lippen schminkte, hörte das leise Öffnen der Eingangstür.

„Ja, Anna! Ich bin es!“ Karl legte seine Akten auf den Sekretär und goss sich heißen Tee ein.

Anna war sehr gespannt auf die Reaktion ihres Mannes. Sie wollte ihn überraschen und hoffte, dass sie Karl gefallen würde, der mit seinem Wirken in Leningrad sehr konservativ geworden war.

„Wo bist du?“, fragte er und schlürfte laut seinen Tee.

„Ich bin hier! Aber bitte, komm nicht zu mir!“ Aufgeregt und unsicher warf sie einen letzten Blick in den Spiegel, dann ging sie zur Teestube.

„Hallo, Karl!“ Anna blieb im Türrahmen stehen und posierte in einer sehr weiblichen Haltung.

Karl drehte sich herum und sah seine Frau in hauchdünner schwarzer Naturseide gekleidet. Der weich fallende Stoff ließ die Rundungen ihrer Brüste erkennen. Schmale, mit Perlen bestickte Träger dekolletierten das Kleid ungewohnt tief. Ein ebenso bestickter Hüftgürtel gab der Trägerin den letzten Akzent. Anna hatte ihr Haar locker aus dem Nacken hoch geschwungen und ihre Lippen orangefarben hervorgehoben. Sie war mehr als bereit für diesen Abend.

„Mein Gott! Wie du aussiehst!“ Irritiert durch den reizvollen Anblick seiner Frau, ließ Karl seine Teeschale fallen. Er hatte längst vergessen, wie wunderschön seine junge Frau war und in all den Jahren sah er nicht, wie aus dem damals impulsiven und interessierten Mädchen eine sehr zurückhaltende, einsame Frau geworden war. Sie war für ihn fast selbstverständlich geworden. Und er schämte sich mit einem Mal, dass er sich zu wenig Zeit für sie nahm. Dass er nicht einmal mehr wusste, welche Träume sie hatte und er erinnerte sich an die wundervollen Tage und Nächte, die sie gemeinsam in Deutschland verbrachten. Jene Tage, in denen er sich unsterblich in sie verliebte und ihren Vater um ihre Hand bat, um sein ganzes Leben mit ihr verbringen zu dürfen.

„Karl, was ist? Gefalle ich dir nicht? Soll ich etwas anderes anziehen? Vielleicht eines meiner Kleider von Natascha?“ Anna war verwirrt und traurig über die Reaktion ihres Mannes und hob, ohne ein weiteres Wort, die Teescherben auf.

„Entschuldige! Es tut mir leid! So war es nicht gemeint! Du siehst einfach wunderschön aus, ich hatte nur vergessen wie wunderschön!“ Liebevoll nahm Karl Annas Hand.

„Es gefällt dir wirklich? Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich damit machst.“

„Ich weiß! Und ich verspreche dir, dass dieser Abend ein ganz besonderer Abend für dich werden wird.“ Karl von Stein gab seiner Frau einen langen Kuss und ging hinaus, um sich ebenfalls für das bevorstehende Fest umzuziehen.

Anna verrichtete die letzten Arbeiten im Haus. Nach etwa einer Stunde brachen sie auf, um Wassily und Natascha Petrovic in ihrem Haus abzuholen, die ebenso wie Anna und Karl von Stein geladene Gäste auf dem heutigen Fest waren.

Lange fuhren sie durch die Straßen von Leningrad, in Richtung Wassilys und Nataschas Heim. Anna lehnte sich in Freude auf den bevorstehenden Abend zufrieden im Wagen zurück.

„Ich habe noch nie eines dieser alten russischen Blockhäuser gesehen. Ich freue mich darauf! Wassily erwähnte, dass ihr Haus zwar sehr klein und einfach ist, das die Holzarbeiten aber überaus dekorativ seien.“ Anna sah ihren Mann einen kurzen Moment lang an, dann fuhr sie fort.

„Wieso lud man Wassily und seine Frau eigentlich zu diesem Fest ein? Ich dachte, es würden nur besondere Gäste geladen. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass Wassily und Natascha nicht etwas Besonderes sind, nur...“

Anna sprach nicht weiter, verschämt drehte sie ihr Gesicht zum Wagenfenster. Ihre Frage war ihr plötzlich sehr unangenehm. Um keinen Preis wollte sie Wassily und Natascha beleidigen.

„Ich habe dich nicht falsch verstanden. Du musst dich für deine Frage auch nicht schämen. Sie ist mehr als berechtigt.“ Beruhigend streichelte Karl über Annas Hand.

„Man lud Wassily als Vertretung für seinen Bruder Sergej ein der, bevor er nach New York City emigrierte, ein sehr bekannter Architekt in Leningrad war. Er wurde von vielen Stadtherren wegen seiner umfassenden Kenntnisse sehr geschätzt. Sergej baute vor einigen Jahren ein kleines Modellgebäude, wie ich hörte ein kleines Kunstwerk. Deshalb soll er heute Abend in der Eremitage eine Danksagung erhalten und Wassily wird diese Danksagung in Vertretung seines Bruders entgegennehmen.“

„Ich wusste gar nicht, dass sein Bruder so berühmt ist. Wieso ging er nach New York City, wenn ihm hier alle Wege offen stehen?“ Nachdenklich wandte sich Anna wieder ihrem Mann zu.

„Nun, ich weiß noch immer nicht viel darüber. Du weißt, das Wassily immer nur mit Wut und Trauer über die Geschichte seiner Familie spricht. Ich denke, ihnen hat die damalige Landenteignung sehr zugesetzt. Wie ich auch denke, müssen schreckliche Dinge passiert sein. Sergej glaubte wohl nicht mehr an sein Land und seine Führung und deshalb ging er fort.“

„Aber wieso gerade New York City?“

„Wassily erwähnte einmal, das sich sein Bruder Sergej schon seit langem für New York City interessierte. Er soll von der geographischen Lage sehr beeindruckt gewesen sein. Er verglich New York City, so erklärte Wassily mir, mit Leningrad und er war wohl sehr fasziniert von den Parallelen. Mehr kann ich dir leider nicht sagen, obgleich ich über diese Parallelen sehr gerne mehr erfahren würde.“

„Mein wundervoller intelligenter Ehemann. Wieso bist du nur so klug und so wissbegierig.“ Anna lächelte.

„Ich glaube wir sind angekommen. Die Wohnhäuser entsprechen sehr Wassilys Beschreibung. Sieh nur, da sind die beiden! Sie haben uns bereits erwartet.“

Wassily und Natascha Petrovic begrüßten Anna und Karl von Stein schon von weitem. Freundlich baten sie ihre Gäste ins Haus, das aus einfachen horizontal übereinander angeordneten Holzteilen und dekorativen umrahmten Fenstern gebaut war. Wassily hatte nicht übertrieben, es sah kunstvoll aus.

Im Eingang bemerkten Anna und Karl sofort Nataschas Einfluss auf die Inneneinrichtung. Ihre Familie stammte aus Usbekistan, in deren Volkskunst das Ausschmücken der Jurten und der Kleidung der Viehzüchternomaden im Vordergrund stand. Und für wahr, Natascha hatte diese überaus farbenfrohe Kunst in diesem Haus weiterleben lassen. An den Wänden hingen geschnitzte und gemalte Alabasterarbeiten. Keramikteller und Keramikschalen mit bunter Unterglasmalerei standen überall auf den Holzvorsprüngen. Gravierte Metallkrüge und Figuren aus Holz gaben dem Haus eine sehr gemütliche Atmosphäre.

„Ich freue mich, sie zu sehen! Seien sie herzlich willkommen in unserem Heim!“, sprach Natascha höflich.

Wassily zog einen schweren, dunkelroten Samtvorhang mit Seiden und Goldfadenstickerei zur Seite und führte Anna und Karl in die Teestube, die den Eingang des Hauses um ein Vielfaches übertraf.

In der Mitte stand ein sechseckiges Tischchen aus bunt bemalter Holzschnitzerei und um den Tisch herum lagen vier Sitzkissen aus schwerem dunkelrotem Brokat. An den Wänden hingen ein Säbel mit Quaste und Band, eine Ballaleika und ein seltener Wandbehang, der Anna an Nataschas und Wassilys Willkommensgeschenk erinnerte.

Anna war fasziniert von der Gemütlichkeit im Raum. Eine Farbenpracht, die sie noch nirgendwo sah und ebenso von Natascha, die sich wunderschön gekleidet und zurechtgemacht hatte. Sie trug ein Gewand aus dunkelbraunem Samt mit symmetrischer Goldfarbenstickerei, die Farnblätter in Kronenform darstellten. Der längliche Halsausschnitt erschien wie aus purem Gold und die Säume waren mit Perlen besetzt. Natascha hatte zahlreiche Goldarmringe und goldenen Halsschmuck angelegt. Sie sah sehr stolz darin aus. Es schien, als wollte sie jedem zeigen, welchem Volk sie angehörte und das sie sich dessen nicht schämte.

„Anna, auch sie sehen sehr gut aus. Bestimmt freuen sie sich schon auf den heutigen Abend“, unterbrach Wassily, der Annas Gedanken erraten konnte.

„Ich danke ihnen, Wassily! Und ja, ich bin schon sehr aufgeregt. Aber ich denke, dass sind wir alle, denn es werden heute Abend sehr viele Berühmtheiten zugegen sein und wir haben die Möglichkeit sie alle persönlich kennen zu lernen. Nicht wahr, Karl?“ Karl, der durch die Anrede seiner Frau aus seiner gedanklichen Erkundungsreise in die russische Volkskunst herausgerissen wurde, schaute schuldbewusst in die Runde.

„Entschuldige, bitte! Was sagtest du?“

„Ich sagte gerade, dass heute Abend wohl sehr viele Künstler zugegen sein werden.“ Anna schaute ihren Mann ein wenig vorwurfsvoll an.

„Oh, ja! Ich sah die Gästeliste. Falkin, Raschenkowitsch, Tatlinin, Prokofjewowitsch, Schostalowa und noch viele andere Namen, die ich allerdings nicht kenne.“ Karl sah in erstaunte Gesichter.

„Nun, dann bleiben sie heute Abend am besten in meiner Nähe. Ich werde ihnen die heute erscheinenden Persönlichkeiten einzeln vorstellen“, scherzte Wassily und bat um Aufbruch.

Jeder, der vier Freunde war in seinen Gedanken bei dem bevorstehenden Abend und keiner von ihnen ahnte, das diese Nacht für jeden von ihnen ein Wendepunkt in ihrem Leben sein würde.

„Karl, sieh nur die vielen Autos und die Beleuchtung, wie beeindruckend!“ Anna konnte kaum glauben, das sie ihn endlich aus der Nähe sah, den Winterpalais, einen prunkvollen Barockbau im Herzen der Stadt, der über und über mit Stuck besetzt war. Die Fenstereinfassungen hatten die unterschiedlichsten Formen, schwarze Statuen, grüne Mauern, weiße Säulen und dunkelgelbe Kapitelle. Er schien göttlich und mystisch zugleich.

„Doktor von Stein und Gemahlin! Herr Doktor, wir freuen uns sehr, sie in der Eremitage begrüßen zu dürfen. Bitte, folgen sie mir!“, rief ein junger Mann in strenger Kleidung und führte Anna und Karl die großen Stufen zum Eingang des Winterpalais hinauf.

Auch Wassily und Natascha wurden in aller Höflichkeit empfangen und ebenso wie Anna und Karl durch die große Eingangshalle geführt. Jeder der Vier war überwältigt, als sie die große Halle des Winterpalais durchschritten, die über und über mit Marmor, Malachit, Jaspis, Bronze, seltenen Hölzern, Bergkristallen und Edelsteinen besetzt war. Reichtum, von dem sie sich niemals hätten vorstellen können, dass es ihn gab. Sie betraten den Zwanzigsäulensaal der Eremitage. Zwanzig überdimensionale dunkelgraue Marmorsäulen stützten den Saal und an jeder dieser Säulen stand ein Diener mit einem ovalen Silbertablett, auf dem die verschiedensten Appetithäppchen kredenzt wurden. Man führte sie in den Malachitsaal, der alles Bisherige übertraf und noch viel pompöser und prunkvoller war als das, was sie noch vor wenigen Augenblicken sahen. Die Säulen, Pilaster und Kaminverkleidungen waren aus purem Malachit im Russischen Mosaik. Die Decken, Türen und Fensterbögen waren über und über mit Gold verziert und ein riesiger Kronenleuchter aus Tausenden von Edelsteinen und Goldfiguren zierte den Goldstuck. Überall hingen Bilder großartiger Künstler.

Anna und Karl hatten noch nie zuvor in ihrem Leben eine derartige Vielfalt an Kostbarkeiten und Gemälden gesehen. Sie hätten es nicht in Worte fassen können.

Wassily und Natascha erging es ebenso. Natürlich hörten sie schon viel über den Winterpalais und der berühmten Eremitagesammlung, doch war ihnen das Ausmaß, der ihrer Meinung nach großen Verschwendung, nicht bewusst.

Im Malachitsaal hatten sich unzählige Gäste versammelt. Anna, Natascha, Karl und Wassily waren nun wieder gefasst und begaben sich, wie die meisten der andere Gäste an die einzelnen, ihnen zugeteilten und reichlich gedeckten Tafeln. Wassily schaute sich im Saal um.

„Sagen sie schon! Sehen sie Berühmtheiten?“ Alle waren gespannt auf Wassilys Erklärungen.

„Ich habe bereits einige der Herren gesehen! Schauen sie nach rechts, an die zweite Tafel! An der Kopfseite, der Herr mit der hohen Stirn und dunklem Haar, das ist Sergej Sergejewitsch. Er ist Komponist und sehr berühmt. Auf der gegenüberliegenden Kopfseite, der Mann mit den schmalen Lippen, sehen sie? Es ist Dimitrij Schostalowa, auch er ist Komponist. Und da ist auch Aram Chatschar, er ist Armenier, der Mann mit dem dunklen welligen Haar, sehen sie ihn Anna?“ Wassily war völlig aufgelöst.

„Und dort, schauen sie links von ihnen, die Tafel vor dem Kamin! Das ist der Tisch der Filmherren. Der Mann an der Kopfseite ist Pudowa. Und dort der Tisch der Künstler, da sehen sie Lissitz, Robert Falkin, Raschenkowitsch und Wladi Tatlinin, was für ein Fest!“ Wassily ließ sich in seinen Stuhl fallen und es sah beinahe so aus, als hätte er einen Schwächeanfall. Am liebsten wäre er zu jedem der Komponisten und Herren vom Film gestürmt, um ihnen die Hände zu schütteln und ein Plauderstündchen zu halten.

Anna, Natascha, Karl und Wassily waren sichtlich gerührt und während sie noch immer den Menschen des Saales zugewandt waren, betrat ein weißhaariger alter Mann in Uniform den Saal. Die Menge fing begeistert an zu klatschen. Der alte Mann betrat das Podium. Um ihn herum reihten sich Männer in feinen Anzügen. Dann begann er zu sprechen.

„Sehr verehrte Gäste! Meine Damen, meine Herren! Ich möchte sie heute, an diesem wundervollen Abend und in dieser wundervollen weißen Nacht, im Zeichen der Kunst und Kultur Leningrads auf das allerherzlichste begrüßen. Dieses Fest sei unseren Künstlern und Künstlerinnen gewidmet, die uns am heutigen Abend zum größten Teil mit ihrer Anwesenheit ehren, und jenen Künstlern und Künstlerinnen, in deren Abwesenheit oder Andenken wir diesen Abend nutzen wollen, um ihnen für ihre großartigen Leistungen und ihre Wegweiser, in welcher Form auch immer, zu danken....“

Die Rede des vornehmen alten Mannes dauerte endlos, er sprach über die Errungenschaften der Stadt und über Leid und Schmerz. Er sprach von vergangenen Kriegen und großer Zukunft und die Gäste im Saal lauschten seinen Worten. Sie trauerten mit ihm um die Menschen, die in der Vergangenheit ihr Leben im Kampf verloren und sie jubelten mit ihm im Glauben an eine bessere Zukunft.

Er rief einen Gast nach dem anderen zu sich und überreichte Medaillen, Umschläge und Blumen. Dann, nach etwa zwei Stunden war es soweit. Die Ehrung Wassilys Bruder Sergej wurde vorgenommen.

„... eine ganz besonders große Ehre möchten wir einem Mann erweisen, der unserer Stadt, im Sinne der Menschen dieser Stadt, durch sein Wirken um ein vielfaches bereichert hat. Sergej Petrovic, derzeit in New York City lebend und heute durch seinen Bruder Wassily Petrovic vertreten, schuf das Modell eines Krankenhauses. Ein planvoll durchdachtes Kunstwerk, welches seinen Bau finden wird. Mit diesem Krankenhaus schaffte er große Hoffnungen. Wir danken dir Sergej für eine glanzvolle Leistung und überreichen dir heute Abend den Verdienstorden.“

Die Menschen im Saal applaudierten und Wassily ging voller Stolz und erhobenen Hauptes durch die sich erhebende Menge, vorbei an Prokofjewowitsch, Pudowa und dem Tisch der Komponisten, er sah in jedes einzelne Gesicht, in jedes einzelne Lächeln und er weinte.

„Es war ein tolles Fest! Wassily, sie waren großartig, wie sie vor den Gästen sprachen. Ihr Bruder Sergej wäre sehr stolz auf sie gewesen, wenn er sie nur hätte sehen können“, sagte Anna während sie sich im Kreis drehte.

Anna, Natascha, Karl und Wassily waren vom Fest zur Heimreise aufgebrochen. Die weißen Nächte in Leningrad ließen nicht erkennen, wie viel die Uhr geschlagen hatte.

Die vier Freunde waren müde und freuten sich auf einen erholsamen Schlaf. Sie fuhren durch die Furcht erregenden leeren Straßen, über die in Nebel gehüllten Brücken, vorbei an zahlreichen Kathedralen und kamen schließlich in die Nähe von Nataschas und Wassilys Haus, als Natascha plötzlich leise aufschrie.

„Was ist das? Mein Gott! Wassily, was ist das?“

Karl stoppte den Wagen vor dem Eingang. Im Dunst des Newanebels sahen die vier Freunde ein Bündel, ein junges Mädchen, sie lag scheinbar leblos am Boden. Natascha lief zu ihr und versuchte sie behutsam umzudrehen. Das Mädchen stöhnte vor Schmerz. Natascha sah, dass sie über und über mit Blut verschmiert war und ihr fast nackter Leib nur in eine Wolldecke gehüllt war. Das Mädchen war hochschwanger und hatte Wehen.

„Wir müssen sie ins Haus bringen! Karl helfen sie mir!“

Wassily und Karl trugen das Mädchen ins Haus und bei jeder Bewegung trat frisches Blut aus den Wunden. Natascha legte schützend ihre Hände auf die klaffenden Öffnungen.

„Wassily! Schnell hole Stoff! Ich muss die Wunden schließen!“

„Was ist mit dem Kind? Sie müssen ihr helfen!“, rief Karl. Er war außer sich.

„Ich werde es versuchen. Doch ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Sie hat bereits Wehen und ich muss mit ihr sprechen. Bitte, Karl! Lassen sie mich jetzt meine Arbeit tun. Anna, kochen sie Wasser! Wassily, bringe mir auch meinen Koffer!“

Natascha war eine routinierte Hebamme und sie wusste bereits, dass diese Geburt nur eine der beiden überleben würde. Sie wusste auch, dass sie über das Schicksal der Mutter und das des Kindes nicht entscheiden konnte und nicht wollte.

„Sage mir deinen Namen! Wie heißt du?“ Behutsam versuchte Natascha mit dem Mädchen zu reden die ihre, vom Blut verklebten Augen öffnete, sie waren himmelblau. Ihre Lippen begannen sich zu bewegen.

„Mein Name ist Anastasia. Bitte, helfen sie meinem Kind!“

Wieder setzten die Wehen ein, die Hände des Mädchens verkrampften sich vor Schmerz.

„Ganz ruhig! Es ist gleich wieder vorbei. Nicht verkrampfen, hörst du! Nicht verkrampfen!“ Die Wehen ließen nach.

„Anastasia! Sieh mich an! Du bist sehr schwach, doch du musst mir helfen, dein Kind zur Welt zu bringen. Du musst mir helfen!“ Natascha war verzweifelt, sie wusste nur zu gut, dass das Mädchen ihr keine Hilfe war.

Anastasia sah Natascha tief in die Augen, sie lächelte.

„Bitte! Retten sie mein Kind! Retten sie es, es ist das Einzige, was mir wichtig ist.“

„Mein Gott, du bist so jung! Anna, ist das Wasser fertig? Wassily! Karl! Bitte, ich möchte, dass ihr uns jetzt alleine lasst. Betet für sie und das Kind.“

Anna reichte das abgekochte Wasser. Natascha legte ihre Hilfsmittel bereit und krempelte ihre Ärmel hoch.

„Anna! Ich möchte, dass sie sie festhalten! Sprechen sie ihr Mut zu. Sie muss unbedingt bei Bewusstsein bleiben! Tupfen sie ihre Stirn und achten sie darauf, dass sie ihre Augen geschlossen hält. Beten wir zu Gott, dass ich es schaffe.“

Natascha spreizte Anastasias Beine auseinander, der Muttermund war bereits weit geöffnet. Überall war blutiger Schleim und wieder setzten die Wehen ein, Anastasia schrie.

„Natascha, können sie ihr nicht helfen? Sie leidet furchtbar!“ Anna sah zum ersten Mal eine Geburt, sie war der Ohnmacht nahe.

„Es tut mir leid, das kann ich nicht. Sie wird diese Schmerzen aushalten müssen. Sie darf nicht ohnmächtig werden! Halten sie sie wach, sonst verliere ich auch das Kind!“

Anastasia sah auf und bewegte ihre Lippen. Natascha beugte sich nah zu ihr.

„Ich fühle mich so schwach. Versprechen sie mir, mein Kind zu retten. Lassen sie mich dafür sterben.“

„Anastasia, du musst......“

„Nein! Ich will, dass sie meinen Jungen retten! Geben sie ihm ein Zuhause. Es wird ein Junge, ich weiß es. Geben sie ihm den Namen Michail. Versprechen sie es mir!“

Anastasia konnte die Antwort nicht mehr abwarten, denn die Wehen, die das Kind in die Welt pressten, setzten ein.

„Anna! Helfen sie ihr! Halten sie sie ganz fest. Anastasia du musst pressen! Ihre Blase ist geplatzt, dass Fruchtwasser tritt aus, das Kind kommt! Anastasia, du musst pressen! Ich sehe es, der Kopf, da ist der Kopf, weiter Mädchen, weiter!“

Anastasia presste mit letzter Kraft.

Anna hielt den Kopf und die Hand des Mädchens. Ihre Fingernägel gruben sich in Annas Haut, die aufriss. Es schmerzte, doch Anna wusste, dass dieser Schmerz nichts im Vergleich zu dem war, was dieses Mädchen in diesen Augenblicken durchlebte. Sie sah dass viele Blut. Sie sah, wie das Kind aus dem zarten Körper des Mädchens rutschte, wie Natascha die Nabelschnur durchschnitt. Sie sah Anastasias Augen, die weit geöffneten himmelblauen Augen. Sie sah, Anastasia war tot.

„Es ist ein Junge, Karl. Sie hatte es gewusst! Mein Gott, ich kann es immer noch nicht fassen.“ Anna schaute aus dem Wagenfenster auf das dunkle Wasser der Newa, sie weinte.

Unter Tränen sprach sie weiter, kaum hörbar: „Karl, liebe mich heute Nacht! Bitte, liebe mich heute Nacht!“

Karl von Stein nahm seine Frau in den Arm und sie fuhren nach Hause. Diese Nacht hatte ein Leben gegeben und ein Leben genommen. Ein kleiner Junge, namens Michail war geboren. Und ein weiteres Leben sollte noch in dieser Nacht entstehen.

Die Wiege der Damaszener

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