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Die Boheme löst sich auf

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Für die Schwabinger Boheme, die fast einem Jahrzehnt deutscher Kunst und Literatur ihren Stempel aufgedrückt hat, kam ich 1911 bereits zu spät. Es mag früher ein gemeinsames Bindeglied vorhanden gewesen sein, das die Schwabinger zusammenhielt und zu der Charakteristik als Schwabinger Boheme geführt hatte – die Herausforderung gegen das Althergebrachte, gegen die bürgerliche Tradition, der Elan des „épatez le bourgeois“, der von Paris übernommen worden war. In dieser Bürgerschreck-Atmosphäre muss eine tiefere Sinngebung vorgewaltet haben, als ich sie damals noch in Schwabing angetroffen habe. Eine gewisse Nachwirkung war zurückgeblieben, vereinzelt und beinahe schon wieder außerhalb der Zeit … die Arrivierten, deren Bilder schon wieder gekauft wurden, anzupumpen und darauf zu achten, dem Hauswirt die fällige Monatsmiete schuldig zu bleiben; mehr nicht.

Die neue Sezession, die sich aus einzelnen Gruppen zusammengefunden hatte, war bereits im Verfall. Ihre Parallele der Literatur hatte es noch nicht zu Profil und Eigenart gebracht. Was von den Malern übrig geblieben war, schon völlig außerhalb der ursprünglichen Boheme, leitete bereits den Expressionismus ein, die provozierend unabhängige Kunstform, unbeeinflusst von Paris und Mailand.

In der Literatur habe ich dagegen eigentlich nur noch den üblichen Geschäftsbetrieb angetroffen. Die älteren Semester, die sich früher zur Boheme gerechnet haben mögen, trafen sich außerhalb Schwabings in der Torggelstube, die Wedekind, Halbe, Bierbaum, Bleibtreu und so weiter, die Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschriften „Simplizissimus“ und „Jugend“ und was sonst als Literaturbeflissene dort Eingang gefunden hatte, Herr Piper und Herr Langen und die Kunst-Mäzene, die sich damals schon Essayisten nannten; der Kreis hielt sehr auf Exklusivität, genauer genommen ein Kegelclub.

Im Café Stefanie residierte der Dr. Franz Blei, ein ausgezeichneter Mann, mit einem umfassenden kritischen Wissen – ich sage das mit besonderer Genugtuung, weil Blei mich mit einer offen zur Schau getragenen Verachtung behandelt hat und – das „Trottelbuch“ war gerade erschienen – mich nicht als Schriftsteller gelten lassen wollte. Er hatte einen Kreis junger Leute um sich, Sprösslinge wohlhabender Eltern, ästhetisch abgestimmte, gesittete Manieren. Sie waren nach München gekommen, Schriftstellerei zu lernen, das heißt Romane zu schreiben und Gedichte zusammenzustellen … zum Zeitvertreib. Blei hat diese Leute in die Literatur gebracht, den Zeitschriften zugeführt, zu denen er Beziehungen hatte, und sie bei den Münchner Verlegern einkaufen lassen. Auch dieser Kreis gab sich äußerst exklusiv und Margot hat sich dort sehr wohlgefühlt.

Und im Café Stefanie selbst saßen noch Erich Mühsam und Roda Roda, beide eigentlich der Torggelstube zugehörig, und spielten jeden Tag zur bestimmten Stunde Schach. Anziehungspunkt für Durchreisende. Der Ober Julius pflegte die beiden den Fremden zu zeigen als Schaustücke – bei Mühsam war es der Revoluzzerbart, bei Roda Roda die rote Weste.

Unter den Bohemiens, die vom Pariser Café Dome nach dem Stefanie in München herübergewechselt waren, machte Henry Bing, der Simplizissimus-Zeichner, am meisten von sich her. Auch Bing hatte stets einen Kreis Gleichgesinnter um sich – gleichgesinnt meine ich in der Aufgeblasenheit, dem lauten Auftreten und ihrer Maniriertheit, mit Geld um sich zu werfen, auch wenn sie in Wirklichkeit keins hatten; Julius hatte das Geld vorzuschießen und sammelte es dann auch wieder ein. Ich nehme an, dass die Mehrzahl der Bing-Jünger später Handelsreisende geworden sind. In diesem Kreis war Margot gleichfalls ein viel gesuchter Gast.

Die Künstler-Boheme war bereits in den Sog der allgemeinen Gesellschaftskrise geraten, die das laufende Jahrhundert auszeichnen wird. Die bedeutsamste Rolle für die sozialkritische Aufspaltung der „guten alten Zeit“ hat die Psychoanalyse von Sigmund Freud gespielt. Der Höhepunkt im Streit um die richtungsweisende Interpretation der Freudschen Grundregeln zwischen den von Freud abgefallenen Schülern war vorüber. Otto Groß, in München Assistent in der psychiatrischen Universitätsklinik unter Kräpelin, war bereits von München nach Ascona in der Schweiz abgewandert und bereitete sich dort auf eine Privatdozentur vor.

Otto Groß hatte in seinen Münchener Jahren einen Kreis von Anhängern um sich versammelt, die zum größten Teil mit ihm nach Ascona gegangen sind; bekannt geworden sind mir Leonhard Frank, Karl Otten, Frick und Schiemann, den ich schließlich in Moskau zehn Jahre später wiedertreffen sollte. Die Asconaer kamen noch oft nach München, auch Otto Groß, mit dem ich dann bei einem dieser Besuche näher bekannt geworden bin.

Die zersetzende Wirkung dieser Gruppe auf die bisherige Kultur- und Gesellschaftsanalyse habe ich selbst in München nicht mehr beobachten können. Je mehr ich später mit Groß befreundet wurde, um so mehr habe ich die verlorenen Jahre als Handelsjournalist in Berlin bedauert. Dieses Versäumnis habe ich auch in all den nachfolgenden Jahrzehnten nicht mehr aufholen können.

Groß hatte den Plan, in Ascona eine freie Hochschule zu gründen, von der aus er die westliche Zivilisation anzugreifen gedachte, die Zwangsvorstellungen der inneren wie äußeren Autorität, die von dieser getragenen sozialen Bindungen, das Zerrbild einer parasitären Gesellschaftsform, in der zwangsläufig jeder von jedem zu leben genötigt ist, um weiter existieren zu können.

Nach München waren über Ascona im Grunde nur Gerüchte gelangt über die Aufhebung der Sexualmoral, in bürgerlichem Sinne interpretiert als „freie Liebe“, im Gegensatz zu den Dunkelkammerassoziationen unserer Zeit. Auch der Prozess über den Sacharinschmuggel aus der Schweiz nach Österreich-Ungarn und Böhmen, in den der Kreis um Otto Groß mit verwickelt gewesen ist, war längst über die Bühne gerollt, die Erinnerung war noch sehr lebendig geblieben.

Aus der heilsamen Explosion, die selbst von der medizinischtherapeutischen Anwendung der Psychoanalyse in ihren ersten Anfängen ausgelöst worden ist, hätte sich eine revolutionäre Bewegung entwickeln können weit über die engere politische und soziale Zielsetzung hinaus, hätte nicht Freud den opponierenden, weil ungeduldigen Schülern selbst die Tür zugeschlagen mit dem unheilvollen Ausspruch: Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben. Er hat damit zugleich den noch unheilvolleren Konkurrenzkampf unter den abgefallenen Schülern ausgelöst. Freud selbst hat sich zwar an diesen seinen Grundsatz selbst nicht gehalten, als er später die Untersuchung über das „Unbehagen in der Kultur“ schrieb. Damals hatte er dann allerdings auch nicht mehr den Begeisterungseinsatz von Schülern hinter sich, die bereit gewesen waren, für ihn in die Arena zu steigen.

Aus den mit allen Mitteln der Intrige, oft unter Anrufung der staatlichen Autorität, geführten Streit der Schüler unter sich, der sich zunächst darauf zu konzentrieren schien, Otto Groß auszuschalten und zur Strecke zu bringen, ist der Kreis um Otto Groß allmählich auseinandergefallen. Als ich Otto Groß in München kennengelernt habe, war er für das tragische Ende eines Einzelschicksals bereits gezeichnet.

Etwas Ähnliches wie dieser Kampf innerhalb der Boheme spielte sich auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft ab.

Der Durchbruch zur Biologie war erfolgt im Rahmen der Gesellschaftswissenschaft, der von der orthodoxen Wissenschaft an den Universitäten nicht nur nicht erkannt, sondern fanatisch verfolgt wurde – gleichfalls abgedrängt als Boheme. Ich hatte nur sehr lose Beziehungen zu diesen Leuten, ich kannte eigentlich nur Raoul Francé persönlich, aber ich weiß, dass eine sehr weitverzweigte und aktive Anhängerschaft, besonders unter den Studenten und jüngeren Dozenten, dahinterstand. Francé, Haeckel-Schüler, hatten eine eigene Bewegung ins Leben gerufen, deren Angehörige sich Vitalisten nannten. Ihr Ziel war, mit den rationalistischen Lehrsätzen des Konfutse den emotionellen und mystischen Dunst aus den westlichen Religionssystemen zu beseitigen, mit einer materialistischen Moral ein neues Gesellschaftssystem aufzubauen. Ich kann nicht sagen, ob diese Vitalisten einen großen Erfolg, zum Mindesten einen nach außen sichtbaren, aufzuweisen hatten. Aber, wenn ich hier aus der Hitler-Zeit vorgreifen darf, die Groteske, dass Hitler gleich zu Beginn seiner Regierung eine Kommission bestellt hatte aus Fachwissenschaftlern, die mit der Aufgabe betraut war, für Deutschland und die übrige Welt eine Einheitsreligion zusammenzustellen. Raoul Francé war in diese Kommission neben fünf anderen berufen worden. Er hat abgelehnt und ist sogleich aus Deutschland emigriert.

Francé ist in Budapest 1943 gestorben. Mir war die Ehre zuteil geworden, am Grabe vor einem kleinen Kreis ungarischer Wissenschaftler und einem halben Dutzend seiner deutschen Freunde einige Worte als Nachruf für den Toten zu sprechen.

Ich bin trotzdem noch einigen Nachfahren der echten Schwabinger Boheme begegnet. Da war vor allem Fritz Klein, der wandernde Scholar, aus dem Jahrhundert der Romantik überkommen, der zu Fuß Griechenland, Italien und Frankreich durchwandert hatte; ein Genie in der Beschaffung von Existenzmitteln. Durch ihn habe ich Karl Otten kennengelernt, der damals nur noch sporadisch in München aufgekreuzt ist. Otten hatte aber auch noch weitere Anhänger, die in einer scheuen und schwärmerischen Verehrung zu ihm standen, die Holzer Buben zum Beispiel, Konstantin, der Bildhauer, Carlo, der Maler und Poet, Emilio, der Kunstgewerbler, der seiner Mutter zu helfen hatte, die mit kunstgewerblichen Arbeiten für eine streng ausgewählte Kundschaft die Jungen über Wasser hielt; Eugenio, der vierte der Buben, war damals ausgewandert.

Die Atmosphäre im Hause der Holzer war die einer Fürstenwitwe im Exil in der Zeit der italienischen Frührenaissance. Sie waren sehr arm, die Holzers; das war ihr Stolz. Mir ist nicht bekannt geworden, dass von den Holzer Buben bemerkenswerte künstlerische Leistungen in die Öffentlichkeit gekommen sind. Trotzdem war ihr Ruf in den Kreisen der Kunstakademie fest begründet: verkannte Genies.

Fritz Kleins kostbarster Besitz war hingegen ein langatmiges Gedicht an die Menschheit, das er Leuten verlieh, die zu ihm kamen und denen er helfen wollte. Man musste es neu in Handschrift abschreiben und sich damit zur Schillerstiftung oder zum Schillerbund begeben, dessen Geschäftsführer ein pensionierter Gymnasialprofessor war. Die Stiftung zahlte einen einmaligen Unterstützungsbeitrag von zehn bis zwanzig Mark an angehende Dichter, vorausgesetzt, dass der Unterstützungssuchende eine Probe seiner dichterischen Versuche vorzulegen imstande war; dazu diente das Gedicht, dessen Verfasser nicht etwa Fritz Klein selbst gewesen ist, darüber hat niemals ein Zweifel bestanden. Es ist im Laufe der Jahre unbeschadet einige Dutzend Male vorgelegt worden. Ich selbst habe mit diesem Gedicht zu gelegener Zeit zwanzig Mark einkassiert, von denen ich die Hälfte an Klein abzugeben hatte.

Fritz Klein ist wie noch viele andere aus den Resten der Künstler-Boheme in Schwabing in den ersten Monaten des Krieges gefallen, Kriegsfreiwilliger im Leibregiment. Vor Ypern. Jemand war auf die Idee verfallen, die jungen Kriegsfreiwilligen in englische Uniformen zu stecken und sie in einem Überraschungsangriff auf die englischen Stellungen auf den Ypernhöhen einzusetzen. Dabei sind die Pseudo-Engländer im Vorgelände liegen geblieben und dort von der eigenen Artillerie niederkartätscht worden. Von einem sächsischen Artillerie-Regiment. Seit der Zeit, heißt es, besteht in der Kunst zwischen München und Sachsen ein tiefer Trennungsstrich.

Obwohl ich im zweiten Münchner Jahr – das „Trottelbuch“ war noch nicht erschienen – bereits angefangen hatte, in der Berliner Zeitschrift „Sturm“ regelmäßig kleine Skizzen und Dialoge zu veröffentlichen, handwerkliche Übungsstücke – soweit im Textteil noch Platz übrig geblieben war, Döblin veröffentlichte dort einen Roman in endlosen Fortsetzungen –, was mir zu einiger Beachtung in den Münchener Caféhäusern hätte verhelfen sollen, hatte ich keinen Zugang zur kleineren oder größeren literarischen Prominenz. Ich habe das auch nicht gerade gesucht. Ich habe wahrscheinlich eher noch durch Provokationen eine beiderseitige Annäherung von vornherein unmöglich gemacht.

Das so vielgerühmte Simplizissimus-Kabarett der Kathi Kobus war bereits in diesen Jahren mehr oder weniger eine geschlossene Gesellschaft; die Leute drinnen gehörten zusammen, mit einigen wohlsortierten Bohemiens aus verflossener Zeit als Schaustücke dazwischen. Ich habe zwar auch Emmi Hennings kennengelernt, mit der sich Margot angefreundet hatte, aber keinen Eindruck von ihr zurückbehalten, als die spätere Bewunderung, wie dieses so zerbrechliche Menschenkind die Kraft aufgebracht hatte, sich an der Seite Hugo Balls und nachher im Leben mit einer von tiefem moralischen Ernst erfüllten Aufgabe zu behaupten.

Als Kabarett hätte ich dem Kathi-Kobus-Laden das Benz-Varieté in der Ludwigstraße vorgezogen. Es war freier und ungezwungener, und die Tränen der vergessenen Genies tropften nicht von der Decke.

Aber wie dem auch sei: Die Boheme existierte nicht mehr. Am Kreuzwege angelangt, wies die weitere Richtung sie bereits in sozial kritischer betonte Aufgaben, so verschwommen und so illusionistisch diese auch noch erschienen sein mögen.

Ich habe zwar gleichfalls zeitweise in der Künstlerpension des Fürmann gewohnt. An den dort fast Woche für Woche veranstalteten Künstlerfesten, zu denen auch die Arrivierteren aus Kunst und Literatur erschienen, habe ich nicht teilgenommen. Ich wurde auch sehr bald aus der Pension hinausgeworfen, weil wir die Miete nicht bezahlen konnten. Fürmann, der Kavalier, hatte Margot gestattet, wohnen zu bleiben, die auch bis zum Ende meines Aufenthalts in München dort gewohnt hat.

Ich glitt in eine Doppelexistenz, nicht zuletzt getrieben von dem Wunsch und auch der Notwendigkeit, mich von Margot und ihrem Umgang noch mehr abzusetzen. Es kam zu Konflikten, manchmal zu stürmischen Auftritten von Seiten Margots. Ich habe darüber die wenigen Freunde, denen ich glaubte näher zu stehen, verloren. Auch später noch im Laufe der Jahre, wenn ich gezwungen gewesen bin, einem Idol, das andere aufgebaut haben, entgegenzutreten. Ich bin weder ein Minnesänger gewesen noch ein Verteidiger und Befreier der Frauen. Ihre Vergewaltigung durch die bürgerliche Gesellschaftsform und den daraus gebildeten Moraltabus hat tiefere Wurzeln. Es muss aus der Gesellschaft heraus bekämpft werden.

Bezeichnenderweise bin ich lange Zeit, zum Teil auch heute noch, literarisch abgestempelt nach meinem äußeren Auftreten mit Margot in den Münchener und Berliner Cafés und Künstlerpensionen. Es hat sich kaum jemand die Mühe genommen, sich zu fragen, was es damit auf sich gehabt habe; wahrscheinlich hat Margot etwas erwartet, das nicht von mir erfüllt werden konnte. Wir waren beide nahe daran, zugrunde zu gehen. Es ist vorläufig wenig Anlass, eingehender darüber zu schreiben.

Ich habe das Wesen der Frau nicht verstanden, und ich verstehe die Frauen nicht. Das ist auch heute noch so. Wer aufnahmefähig und gewillt ist, das Erlebnis der Frau in sich wirken zu lassen, wer bereit ist … dem wird es ähnlich ergehen. Die gegenwärtige Form der gesellschaftlichen Tabus lässt ein gegenseitiges Verständnis nicht zu, noch nicht … wir glauben daran, wir hoffen, aber wir können es nicht erreichen, noch nicht.

Das erklärt vielleicht, warum es mir immer gleichgültig gewesen ist, wie die Leute mich aus dieser Zeit eingeschätzt haben, auch diejenigen, die es hätten besser wissen können.

Ich hatte mich dem Kreis um Erich Mühsam angeschlossen. Gustav Landauer war unser Prophet. Wir gerieten in die Bewegung der Syndikalisten, mit denen der Kreis um Mühsam, der sich Gruppe Tat nannte, in Verbindung stand.

Es gibt eine Fiktion von der anarchistischen Bewegung, die als Bürgerschreck aufgezogen wird. Der Italiener Luccheni, der die Kaiserin Elisabeth erstochen hat, der Pariser Autobandit Garnier, die Bomben und die russischen Emigranten aus der Revolution 1905, Winitschenkos Roman „Ehrlich zu sich selbst“, der von Männerbordellen spricht, die von den Frauen als zahlende Gäste besucht werden – Winitschenko ist übrigens später erstaunlicherweise Präsident der Ukraine unter der ersten deutschen Okkupation gewesen –, das waren so einige Helden und Grundsätze, die in der Gruppe Tat diskutiert worden sind.

Um es hier vorwegzunehmen, die verschiedenen anarchistischen Gruppen, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe und mit denen ich lange Zeit im Briefwechsel gestanden bin, in den europäischen Ländern und in Amerika, singen alle an einem Choral, das Lied von der Freiheit, das wie ein Gebet gesprochen wird und nichts und alles enthält. Ich habe nur einfältige, bescheidene Leute getroffen, abgestuft im Grade ihrer Einfalt nach ihrem Beruf und den Notwendigkeiten der nackten Existenz, von ausgesprochen kleinbürgerlichem Zuschnitt mit der Sehnsucht nach einer Moral, die den Einzelnen und die Menschheit leiten wird: die imaginäre Ordnung, die von selbst einmal kommen wird. Sie glauben daran, die meisten wenigstens.

Der Choral muss früher oder später nach innen schlagen, in die Seele sozusagen, sobald einige äußere Ziele schwinden oder schärfer sich abzeichnen in dem Sinne, dass eine persönliche Entscheidung getroffen werden muss … wer sich dann umbringen will, wird ins Irrenhaus gesteckt.

Andere pflegen dann ihren Körper und nähren den Geist in übersinnlichen Gefilden, den Kühen vergleichbar auf der grünen Weide, über die der Himmel sich weitet, die Sonne scheint und der Regen herniederträufelt; Vorübergehende, die ob dieser Naturverbundenheit in Erstaunen geraten, hören dann nur das Muhmuh.

Die Mehrzahl der amerikanischen anarchistischen Gruppen sind bei den Rosenkreuzern gelandet, Jack London bei den Spiritisten.

Ich sage das alles nicht im Bösen, es sind trotzdem prächtige Menschen, und ich wünschte, ich hätte mich in eine solche Gruppe wenigstens einleben können, ob im südamerikanischen Urwald oder im Dschungel der Großstadt oder in den Niederlanden, wo die Schelde die gut meinenden Leute in den Schlaf wiegt, während draußen in der Welt so böse Unruhe herrscht. –

Von unseren Diskussionen in der Gruppe Tat gingen wir indessen auch zur Praxis über. Wir warben mit Handzetteln von Wohnung zu Wohnung für den Kirchenaustritt. Die Syndikalisten, vielleicht 200 Mitglieder stark, hatten für München den Generalstreik ausgerufen, beginnend mit dem Streik der Plattenleger, bei denen sie am stärksten vertreten waren. Es kam in einer von den sozialdemokratischen Bauarbeitern nach einem der großen Bierkeller einberufenen Massenversammlung zu einem großen Skandal. Die Handvoll Syndikalisten hatten die Versammlung reichlich in Harnisch gebracht, mit Sontheimer als dem Redner für den Generalstreik – Sontheimer ist nach dem Kriege in die Regierung der Münchner Räterepublik geraten, ich glaube als Kriegsminister. Er wurde beim Einmarsch der Reichswehr in seiner Wohnung aufgespürt und erschlagen, in der Badewanne.

Dann hatte sich Mühsam zu Wort gemeldet. Es war ihm auch gelungen, das Podium zu betreten, flankiert und abgedeckt von den Mitgliedern der Gruppe Tat, alles recht schmächtige und windige Gestalten im Vergleich zu den Urbayern im Saal, die bereits angefangen hatten, ihren Protesten und dem sonstigen wilden Geschrei mit einer Kanonade von Bierkrügen und Stuhlbeinen auf das Podium mehr Nachdruck zu verleihen. Für mich hätte das eigentlich der Vorgeschmack sein sollen, für das, was alles in den späteren Jahren noch zu erwarten sein würde.

Glücklicherweise ist niemand ernstlicher verletzt worden. Unserer Kameradin Ida, die mit ihrem Freund Morax auf den Abendveranstaltungen der Gruppe Tat französische Revolutionslieder zur Guitarre zu singen pflegte, wurden die Kleider vom Leibe gerissen.

Zu diesen Abendveranstaltungen luden wir aus der Gastwirtschaft „Zum Soller“ die Mädchen ein. Sie brachten ihre Zuhälter mit, die kleinen Taschendiebe und sonstige Elemente in der Gesetzlosigkeit von geringerem Format, die Nelke hinterm linken Ohr. Wir wollten ihnen einen freien Abend unter sich veranstalten, losgelöst von ihren sonstigen Verpflichtungen. Wir lieferten die Unterhaltung. Mühsam las einige Gedichte vor und hielt eine kurze Ansprache; dann wurde gesungen und getanzt, wir hatten Guitarre und Harmonika, und wir bezahlten das Bier, das heißt, Mühsam bezahlte das. Wenn ich das heute noch so sagen darf, es herrschte eine wundervolle Stimmung.

Später hat Gustav Landauer, der uns von Frankfurt her regelmäßig besuchte und unter Kontrolle hielt, diese Abende verboten. Aber auch sonst hätten wir das Interesse der Soller Kameraden nicht halten können. Sie sind zu sehr vom Saisongeschäft abhängig. Es gibt Wochen, in denen die Bauern schon am frühen Morgen in die Stadt hineinkommen und sehr früh in den Soller einfallen, wo man ihnen das Geld dann abnehmen kann. Es gibt aber auch Wochen, in denen nur Abendgäste zur Behandlung eintreffen.

In den Universitätsferien hatte ich mich einer Gruppe von Tat-Besuchern angeschlossen zum Hopfenzupfen in die Holletau. Ich entsinne mich an den Marktplatz in Wolnzach. Wir wurden von dem Stadtgendarmen in einer Reihe aufgestellt, alte und junge, Frauen und Kinder dazwischen. Der Bauer mit einem übermannshohen Stab, wie St. Peter an der Himmelstür, schritt die Reihe ab und stieß mit dem Stock den einen oder anderen auf die Brust – das hieß, der war angenommen. Ein Schreiber, der hinter dem Bauern herging, teilte die Nummern aus. Später wurden die Nummern aufgerufen, die Kolonnen zusammengestellt, und wir marschierten ab, der Bauer an der Spitze, in den Hopfengarten, oft ein weiter Weg von der Stadt und auch von dem Anwesen des Bauern. Wir bekamen Quartier im Stroh in der Scheune, alle miteinander und durcheinander.

Die Arbeit ist nicht sehr schwer gewesen, natürlich ungewohnt, wenn am frühen Morgen die Dolden noch von dem starken Tau bedeckt sind und an den Fingern kleben bleiben. Wir bekamen dreimal am Tage zu essen, jedes Mal ein Berg Kartoffeln für alle, zweimal eine dünne Zwiebelsuppe und drei große Scheiben Brot für den Tag. Die Gesellschaft, der ich mich angeschlossen hatte, war ebenso unerfahren wie ich. Wir waren zu Fuß von München aufgebrochen und hatten uns bei den Bauern durchgebettelt. Wir hatten natürlich nicht einen Pfennig Geld. Von diesem Essen aber kann man nicht existieren, den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinein hopfenzupfend, Reihe für Reihe. Am dritten Tag brannten mir die Eingeweide wie Feuer, ich hatte große Mühe, Wasser zu lassen. Den anderen war auch das Singen vergangen, der Aufruf zur Revolution, die Verteilung von Flugblättern. Wir hielten schließlich die erste Woche durch, bevor wir vom Bauern einen Vorschuss erhalten konnten. Davon kauften wir uns im Dorf Wurst und Bier; die anderen vier Wochen ging es dann schon besser. Aber den Choral haben wir trotzdem nicht zelebriert.

Nach Wolnzach strömten um die Zeit der Hopfenernte damals dreißig- bis vierzigtausend Leute aus ganz Deutschland zusammen, in der Mehrzahl die Vagabunden der Landstraße, für die es eine Art Jahrestreffen gewesen sein muss. Diese Leute werden sonst von der Feldpolizei scharf angefasst und nach Laune eingesteckt, je nachdem wie viel Mangel an Arbeitskräften in einem Ort war. In diesem Monat aber drückt die Polizei ein Auge zu, und zwar sowohl für den Anmarsch wie für den Abtransport. Für revolutionäre Lieder und Aufrufe, gleichviel für was, sind diese Tippelbrüder nicht zu gewinnen – ich würde sagen, sie werden auf uns mit ironischer Verachtung herabgesehen haben.

Nach dieser ersten schweren Enttäuschung ging die Begeisterung mit gedämpftem Trommelschlag. Das Studium störte mich wenig. Ich hatte auf den Prüfungstermin zu warten und die Bekanntgabe der mündlichen Prüfungsfächer. Da Sinzheimer auf ein Jahr nach Amerika gegangen war als Austauschprofessor, würde sich die Sache hinziehen.

Der Rest meines Aufenthaltes in München, während dem ich angefangen hatte, ein zweites Buch zu schreiben, verbrachte ich mit einem Tippelbruder namens Kindler, den ich bei Mühsam kennengelernt hatte. Kindler kannte Dutzende von Arbeitshäusern und fast alle Polizeigewahrsame in Bayern. Seine Gesellschaft war mir lieber als diejenige der prominenten Schriftsteller und Philosophen, bei denen Grabisch mich gern eingeführt hätte.

Wir, das heißt Kindler und ich, verkauften die Berliner Illustrierte in den großen Bierkellern. Zehn Nummern bekamen wir vom Verteiler auf Kredit; bei fünf Abonnements, für die wir je eine Mark erhielten, konnte gelegentlich ein Schwund mit unterlaufen, das ist der Mann mit der falschen Adresse, in diesem Falle bekamen wir das Geld trotzdem. Kam es zu oft vor, mussten wir zu einem andern Verteiler wechseln… es kam vor, dass wir zu viele dieser fiktiven Adressen selbst ausgeschrieben haben.

Wir arbeiteten auch mit der Kleider-Masche. Kindler stieg in einem jämmerlichen Zustand, was Rock und Hose anlangte, die Hintertreppe in den herrschaftlichen Häusern in die Küche und in die Kammern der Dienstmädchen hinauf und fragte nach abgelegten Kleidern der Herrschaft. Das Mitleid ist immer stärker als der Verdacht. Ich stand unten auf der Straße und nahm die Kleider in Empfang, brachte sie ins nächste Versatzamt oder versuchte, sie schon an der Straßenecke zu verkaufen.

Wir schliefen in der Gastwirtschaft „Zur Ewigen Lampe“ in Schwabing, der Inhaber war ein Straßenbahnschaffner, die Frau betrieb neben der Gastwirtschaft eine Unterkunft, dreißig Pfennig für das Bett. Oft konnten wir nachts durch ein offenes Fenster ohne Bezahlung einsteigen, durch die Vordertür indessen hatten wir, wenn schon kein Geld, zum Mindesten Ware zu liefern. Ich lieferte die Enten aus den Wassergräben des Englischen Gartens, die ich mit der Angel herauszog, mit einem Stück eingeweichtem Brot am Haken, so dass sie nicht laut werden konnten.

Wir schliefen aber auch manchmal in den Kiesgruben außerhalb der Stadt in der Schwabinger Ausfallstraße. Die eindringende Wärme der frühen Morgensonne, die dem Schläfer dann ins Gesicht scheint, ist mir in Erinnerung geblieben.

Es wird auch schon damals kaum jemandem der Gedanke gekommen sein, dass wir mit unserem Protest gegen gesellschaftliche Formen die Welt ändern und verbessern würden. Ein solcher Protest hat kein erkennbares Ziel, er ist mitgewachsen automatisch mit dem Druck, den die Gesellschaft auf den Einzelnen ausübt. Die große Mehrzahl findet sich mit diesem Druck ab, einige wenige rennen sich dabei die Schädel ein, die Intelligenten wie die weniger Intelligenten.

Der Weg nach unten

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