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Auf! – Sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht die Jäger blasen?

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Die Straße Unter den Linden zu beiden Seiten entlang zum Schloss zog eine nach Tausenden zählende Menge hin und her, unter infernalischem Gebrüll, woraus ein Reporter die Wacht am Rhein herausgehört haben wird. Auch noch in der Erinnerung heute fast unvorstellbar. War das Ende der Welt gekommen?

Zum Mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hineingeraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: Nieder mit dem Krieg! begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.

Ich glaube nicht, dass besondere Gewalt angewendet worden ist; die Flut ging über uns weg, wir trieben vereinzelt und auseinandergerissen in dieser Flut, jeder wahrscheinlich unfähig, sich zu wehren, sich überhaupt zu rühren. Polizei hatte nicht nötig, einzugreifen. Militärposten und Polizei, die ich vorher um die französische Botschaft herum gesehen hatte, schienen nicht mehr vorhanden.

Sie werden erst später in Erscheinung getreten sein. Ich fand mich wieder in einer Art Turnhalle am Hausvogtei-Platz, die von der Polizei requiriert worden war. Dort wurden die verdächtigen Ausländer eingeliefert, die auf der Straße als Spione aufgegriffen worden waren. In einem Kreuzverhör von erstaunlicher Kürze und Präzision wurden die Eingelieferten – von Stunde zu Stunde strömten neue Hunderte hinzu – sortiert in Gruppen und irgendwohin abtransportiert. Mir wurde bedeutet, ich hätte mich in Spandau beim 5. Garde-Grenadier-Regiment zu melden und würde dorthin überstellt werden. Ich wartete nicht ab, sondern entfernte mich – die Wachen am Tor kümmerten sich nicht darum, wer da ein- und ausging.

Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Margot und die Mutter schrien sich gegenseitig an: um Geld und um die Zukunft des Kindes. Die beiden stritten sich um den Sinn der Welt, die Unterhaltspflicht und den Respekt der Kinder gegenüber den Eltern. Mein Erscheinen vereinigte die Wut, für die es sonst keine Auslösung gegeben haben wird, gegen mich. Ich war der Schuldige. Vieles, was so auf mich eingeschrien wurde, war mir durchaus nicht fremd, ich habe selbst manchmal darüber nachgedacht: die Verantwortungslosigkeit, Kinder in die Welt zu setzen, die zweifelhafte Rolle des Mannes in der Bindung zur Frau, die Stellung in der Familie.

Ich wurde mehr oder weniger aus der Wohnung herausgeschmissen; so eines der ersten Opfer dieses Krieges.

Margot kam mir auf die Straße nachgelaufen und versuchte, mich wieder zurückzuholen. Ich wollte nicht mehr. Für mich war an diesem Tage einiges eingestürzt; vielleicht mehr als nur eine Welt.

Wir stritten uns auf der Straße. Leute kamen hinzu. Wir fingen an, aufeinander einzuschlagen. Alles wurde jetzt weggewischt – die Zärtlichkeit, die Verschmähung, der Schmerz des Unverstandenseins und die Hoffnung – nicht nur die Hoffnung, die Gewissheit, die Zuversicht.

Die Umstehenden mischten sich ein. Ein Herr im steifen Hut schlug mir mit einem Stock über den Kopf. Ich brach durch die Menge hindurch, die sich um mich und Margot angesammelt hatte, und begann zu laufen … hörst du schon die Jäger blasen? … viele Jahre später pflegte das Harriet dann zu zitieren.

Ich fuhr den nächsten Morgen – wie ich die Nacht verbracht habe, weiß ich nicht mehr, sicherlich allein, ich ließ mich treiben –, den nächsten Morgen meldete ich mich in Spandau in der Kaserne. Ich hatte nicht die notwendigen Papiere bei mir. Das machte damals wenig aus. Auf dem Kasernenhof waren Strohsäcke ausgelegt. Dort kampierten wir, es gab Essen, und von Zeit zu Zeit wurden Leute aufgerufen. Für mich kam das am dritten Tage, und ich wurde zu einer Kompanie eingeteilt. Wir wurden aufgeschrieben. Ich befand mich in der Gruppe der Kriegsfreiwilligen. Nach einigen Wochen wurde ich aus dieser Gruppe wieder ausgesondert und in eine andere Kompanie gesteckt. Das ist der Grund, warum ich schon nach sechs Wochen, kaum in dem Grundverhalten ausgebildet, ich konnte zur Not grüßen, aber nicht schießen, ins Feld geschickt wurde – dieser Vorgang hat mir wahrscheinlich später das Leben gerettet. Mit dem ersten Ersatz zum aktiven Regiment, mitten hinein in die Schlacht bei Tannenberg. Der Ersatz kam zwar nicht mehr zur Zeit, die Schlacht war schon geschlagen, aber wir fuhren dann noch mit der Bahn ein paar Wochen hin und her und marschierten Tage um Tage nach Polen hinein, bis wir zum Schluss an der Weichsel zum Einsatz kamen, ich glaube bei Iwangorod.

Den größten Teil des darauf folgenden Rückzuges der 3. Garde-Reserve-Division nach der heimatlichen Grenze habe ich allein gemacht, als Mitglied der Grünen Armee, einer Gruppe von Deserteuren, die sich auf eigene Faust in die Heimat absetzte, nachts auf Seitenstraßen durch die Wälder. Am Tage schliefen wir in verlassenen Scheunen und in Bauernhöfen, die von den Bewohnern verlassen waren. Es gab eine Anzahl kritischer Situationen, besonders an den zentralen Kontrollpunkten der Feldlazarette, die wir passieren mussten, um den Krankenschein zu bekommen.

Für mich war dies die geringere Schwierigkeit. Auf diesem Marsch zur Heimat bin ich körperlich derart heruntergekommen, Mantel und Uniform zerrissen, die Hose klebte in einer festen Kruste von Dreck und Blut, dass man mir den Oberschenkelschuss ohne weiteres geglaubt hat; zum Glück waren zu gleicher Zeit ringsum Schlachten im Gange, Versprengte und von der Einheit Abgekommene keine Seltenheit. Unser Feind war die berittene Feldgendarmerie.

Ich bin durchgekommen. Ich kam nach Berlin. Im Café des Westens wurde ich von einem Dr. Serner in Empfang genommen, der von Margot gebeten war, sich meiner anzunehmen. Dr. Serner empfing mich im Café in einem pompösen Pelzmantel – das war aber auch alles; darunter war nur spärliche Unterwäsche, den Anzug hatte er versetzen müssen. Dieser Serner war auch kein Doktor und hieß nicht Serner, sondern Seligmann. Sohn eines Zuckerbäckers aus Karlsbad. Serner schrieb unter seinen vollen Titeln einen ärztlichen Rapport an das Ersatz-Regiment, wonach er auf der Straße einen Soldaten mit dieser und dieser Nummer aufgefunden habe, in einem desolaten Zustand, so dass er sofort die Überweisung in ein Spital veranlasst habe – er vergaß, den Namen des Spitals anzugeben. Ich hatte damit einen Vorsprung von gut einer Woche für meine Flucht nach Österreich gewonnen.

Walter Serner schrieb später eine Reihe Kurzgeschichten, darunter den Sammelband „Der Pfiff um die Ecke“, aus dem man ganze Serien von amerikanischen Kriminalromanen herausstehlen könnte. Es ist mir eine große Freude gewesen, später zu hören, dass Dr. Serner sich nach der Schweiz absetzen konnte, und zwar am gleichen Tage, als die Polizei im Café des Westens bereits mit dem Verhaftungsbefehl auf ihn wartete.

In Wien wurde ich bald festgesetzt in eine Art Ehrenhaft in der Elisabeth-Promenade, um meine Auslieferung abzuwarten. Zusammen mit einem der größten Schweine-Exporteure Serbiens, der dort als Spion festgehalten wurde. Der Herr wurde besonders bevorzugt behandelt, ein Wärter stand ausschließlich zu seiner Verfügung, nachmittags wurde er in einem Fiaker durch Wien spazieren gefahren. Den Tag über legte er Patience und zündete Kerzen vor dem Bild seiner Frau an, das er vor sich auf dem Tisch stehen hatte. Wenn noch Zeit blieb, erzählte er dazwischen balkanesische Witze und Zoten. Er hatte mir das Angebot gemacht, in seine Firma einzutreten. Ich habe vergessen, darauf später zurückzukommen.

Ich wurde per Schub aus Österreich herausgebracht. In Mährisch-Ostrau, so nahe meiner Heimat, wäre ich im Keller des Arrestlokals beinahe erfroren; auf den Straßen draußen lag meterhoch Schnee. Ich hockte oder lag auf dem Steinboden, der Gefängniswärter war betrunken und hatte mich im Keller völlig vergessen. Gerettet wurde ich durch den preußischen Unteroffizier, der von Ratibor gekommen war, mich abzuholen. In Ratibor, beim Abtransport vom Bahnhof nach dem Militärarrest, bewarfen mich die Kinder mit Steinen. Es war sehr feierlich: Zwischen zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr, der Unteroffizier an der Seite des Zuges, ohne Marschmusik – offen gestanden, unter anderen Umständen, bei veränderter Gelegenheit hatte ich mir einen Einzug in die Heimat in tief gegliederter Marschkolonne mit Musik vorgestellt.

Ich wurde in das Festungsgefängnis Spandau eingeliefert. Ich blieb dort eine ganze Weile, täglich mit dem Kompanie-Essen verpflegt. Ich hörte nichts von einem Prozessverfahren. Mir wurde auch keine Anklage verlesen. Ich saß in der Zelle und schrieb den ersten Teil der Bücher, die im Aktionsverlag später erschienen sind. Niemand hat mich dort besucht.

Es ist natürlich leicht, nach den Jahrzehnten die Erinnerung abzustoßen in hell und dunkel, trotzdem ist es ohne Übertreibung die Wahrheit: Ich habe mich niemals mehr in meinem Leben so wohlgefühlt. Ich habe mich mit den Fliegen unterhalten, denen ich Zucker gestreut habe und Brotkrümel in Zuckerwasser getaucht. Ich habe dann beobachtet, wie die Fliegen betrunken wurden, im Zickzack um den Zucker gezirkelt und oft auch umgefallen sind; alle haben sich nach einer Weile wieder erholt – die Fliegen hatten keine Erinnerungen mit sich herumzuschleppen, sie fliegen beschwingt davon …

In der Zwischenzeit kam ich in die Landesirrenanstalt Wittenau einige Wochen zur Beobachtung. Die übliche Routine vom Kastenbett auf Holzwolle zur Bettruhe, später im Kittel auf dem Stuhl neben dem Bett, dann ein paar Schritte im Saal hin und her und schließlich der Rundgang im Anstaltsgarten – die Routine ist mir schnell eingegangen. Ich hatte mir nichts Besonderes vorgenommen, keine Stimmen, keine Anfälle – der Maler George Grosz ist in ähnlicher Situation damit schwer reingefallen; er hatte es in langer Praxis und mit großer Kunst fertiggebracht, Schaum vor den Mund zu produzieren, ein besonderer Trick in der Atemtechnik, den Tiefatem ständig zu unterbrechen und abzudrosseln – eine Prozedur, die einem epileptischen Anfall täuschend ähnlich ist. Das Pech für Grosz ist gewesen, dass die andern im Saal ihre Ruhe haben wollten, vor allem aber musste vermieden werden, die Wärter in den Saal zu ziehen. Sobald Grosz seine Technik durch tieferes Stöhnen vorbereitete – lautlos geht so etwas nicht –, fielen die Kameraden über ihn her und prügelten ihn windelweich. Grosz musste die Sache schließlich einstellen – was ich dagegen zu tun hatte, bedurfte keinerlei Anstrengung, es kam sozusagen ganz natürlich und von selbst. Ich zeigte nicht das geringste Interesse, ich las nicht die Zeitung, ich hörte den verschiedenen Gesprächen ringsum nicht zu, ich ignorierte den Wärter und den besuchenden Arzt, der täglich mich ansprach, das heißt, ich gab exakt die Antwort auf das, was gefragt wurde, aber auch nicht ein einziges Wort mehr.

Schließlich konnte ich ein etwas eingehenderes Verhör nicht vermeiden. Es fand im Zimmer des Arztes statt. Ich habe bereitwilligst alles beantwortet, meine Interesselosigkeit, mein Unvermögen, mich anzupassen, überhaupt zu verstehen, was um mich herum vorging und was von mir verlangt wird. Bei dieser Gelegenheit hörte ich auch, dass meine Mutter an die Anstalt geschrieben hatte, mich möglichst für die Dauer dort zu lassen, weil ich, einmal entlassen, ihr Leben bedrohen würde. Auch Margot war vorgeladen worden. Ich entnahm aus Bemerkungen des Arztes, dass Margot einen wenig günstigen Eindruck hinterlassen hatte – was mir wahrscheinlich sehr genützt hat.

Das war alles, was ich von dieser Untersuchung weiß. Den schriftlichen Befund habe ich nicht gesehen. Ich wurde wieder in das Festungsgefängnis zurückgebracht und wartete dort wieder einige Monate auf die Eröffnung des Verfahrens. Ich schrieb ein weiteres Buch für den Aktionsverlag.

Ich wurde eines Tages sang- und klanglos entlassen und in eine Rekonvaleszentensammelstelle gesteckt. Man wusste mit mir dort nichts anzufangen, meine Papiere waren nicht mitgeschickt worden und sind dort, glaube ich, auch niemals angekommen.

Alles, was ich über meinen eigenen Fall weiß, habe ich von dem zu dieser Zeit gerade gegründeten Schutzverband Deutscher Schriftsteller gehört, von Robert Breuer, dem Generalsekretär. Breuer hat alle die Verhandlungen geführt mit den Militärbehörden, die Zeugen gestellt, meinen Status als Militärperson angezweifelt … meine Verschickung an die Front ohne militärische Ausbildung mag den Behörden unangenehm genug gewesen sein … von Breuer hörte ich auch, dass mein ärztlicher Befund als manische Depression, untauglich für den Militärdienst, umschrieben worden ist. Ich verdanke diesem Breuer nicht nur in diesem einen Falle mein Leben.

Wenn ich hier bereits wieder etwas vorgreifen darf: Später, als Breuer in den ersten Revolutionsjahren Pressechef der Reichsregierung geworden war, habe ich ihn einmal nachts zufällig auf der Straße getroffen. Verschiedentlich war ich in Vorgänge verwickelt, die der Verfolgung durch das Presseamt unterstanden, zum Beispiel, als wir an die Auslandskorrespondenten in Berlin eine besondere Korrespondenz „Berlin Expreß“ täglich durch Boten austragen ließen, in der wir über versteckte Waffenlager und die Wiederbewaffnung Deutschlands berichteten – Breuer hat mir darüber keine Vorwürfe gemacht. Er war traurig und sprach sehr besorgt und sagte mir dabei, dass er schon einige dringende Anfragen erhalten habe, warum das Amt mich noch nicht den Gerichtsbehörden übergeben habe; man werde sonst zur Selbsthilfe greifen müssen. Bisher habe er solche Fälle immer noch abbiegen können, aber wie lange noch? – die Warnung kam sehr zur Zeit. Wir schieden damals mit einem festen Händedruck. Ich bin ihm viel schuldig geblieben.

Bis man sich über meinen Status entschieden haben würde, blieb ich in der Revierstube. Der Oberleutnant, dem der Rekonvaleszenten-Haufen unterstellt war, weigerte sich, mich zu sehen, genauer: Er bekam einen Wutanfall, wenn nur mein Name genannt wurde. Der Sanitätsfeldwebel dagegen hatte seine eigenen Pläne mit mir. Die zur ebenen Erde gelegene Revierstube eignete sich sehr gut dazu, das bei der Kompanie übrig bleibende Kommissbrot zu verkaufen. Zu einer bestimmten Stunde versammelten sich vor meinem Fenster die Interessenten, es wurde bald eine lange Kette von Käufern, die anstanden, – ich reichte die Brote heraus, kassierte das Geld, fünfzig Pfennig das Stück – der diensthabende Sanitäter stand schon hinter mir, das Geld sogleich in Empfang zu nehmen. Wahrscheinlich wird der Verkauf mit der Zeit aufgefallen sein. Eines Tages sagte mir der Sergeant vom Dienst, ich hätte sofort zu verschwinden. Er drückte mir eine Mark in die Hand mit dem Befehl, den Bahnhof Spandau zu meiden, mit der Straßenbahn zu fahren und am Spandauer Block umzusteigen. Auf diese Weise würde ich nicht in die Hände einer Militärkontrolle geraten. So wurde ich entlassen – wie schon früher gesagt, sang- und klanglos und ohne das geringste Papier.

Ich darf hier nicht vergessen zu erwähnen, dass manchmal, wenn die Kompanie ausgerückt war, die Knochen zu bewegen, mich die Revier-Sergeanten auf den Hof hinausgehen ließen. Die eine Seite des Hofes war durch einen kleinen Damm abgeschlossen, der mit Gras bewachsen war. Das Grün war mit Sommerblumen gesprenkelt, weiße Margeriten und blaue Glockenblumen. Darüber wuchsen zwei große Akazienbäume empor. Ich hatte mich an dem Abhang niedergelegt und dem Summen der Bienen gelauscht. Falter strichen über die Blumen hin. Und alle Süße der Welt lag in dem Duft der Akazienblüten. Ich habe diesen Duft in Erinnerung behalten, mehr als ich zugestehen mag. So stark, dass, wenn ich heute an einer Akazie vorübergehe, ich zögere, ich habe fast Mühe weiterzugehen – es ist nicht so leicht, eine solche Erinnerung einfach beiseite zu schieben.

Durch Vermittlung des Schutzverbandes erhielt ich eine Stellung als Handelsredakteur am Deutschen Kurier, einer neu gegründeten Berliner Tageszeitung, die von politischen Dissidenten-Gruppen aus Reichstag und Abgeordnetenhaus kontrolliert wurde, ausschließlich zu dem Zweck, die Industriefonds zur Bekämpfung der Steuergesetze zur Verteilung an die politischen Parteien an sich zu ziehen. Trotzdem geriet das Blatt sehr bald in Schwierigkeiten, die Gehälter konnten nicht gezahlt werden, und das Ende war abzusehen.

Mit einem Kollegen am Blatt gründeten wir den „Industrie-Kurier“, Fachblatt für die oberschlesische Eisen- und Kohlenindustrie unter der etwas anzüglichen Firma „Jung & Ehrlich“. Trotzdem wurde das Blatt ein voller Erfolg, wir erhielten Kredit, Ehrlich besorgte die Inserate, ich leitete die Redaktion.

Der Krieg fand unterdessen am Rande statt. Ich habe während dieser Jahre in diesem Geschäftskreis niemanden getroffen, der sich ernstlich für den Krieg und insbesondere für den Ausgang des Krieges interessiert hätte. Zwanzigtausend Mark wurden geboten für die deutsche Friedensfeder, das ist die Feder, mit der Kaiser Wilhelm den Friedensvertrag unterzeichnen würde; ein Leipziger Fabrikant versprach sich mit dieser Feder ein Riesengeschäft – ich konnte sie ihm nicht verschaffen. Die Wellen der Kriegskonjunktur gingen hoch.

Margot wurde davon mit weggespült. Wir hatten wieder eine neue Wohnung genommen, und ein zweites Kind war bereits unterwegs – die Tochter Dagny, die geboren wurde, als ich Margot bereits verlassen hatte und zu Cläre gezogen war, der Frau von Richard Öhring.

Ich bewegte mich in einer immer betonter werdenden Doppelexistenz, als wäre ich von einer geheimen Kraft abgeschirmt und gepanzert. Es wird nicht der Fall gewesen sein, mehr die Flucht vor der Gefahr, wieder in einen Strudel ungelöster und unlösbarer Fragen zu stürzen, in ein Nichts, aus dem ich nicht herauskommen würde. So seltsam das an dieser Stelle klingen mag, ich war nach all dem Feuerwerk der letzten Jahre erwachsen geworden.

Ich war sehr viel ruhiger geworden und ausgeglichener. Im Gegensatz zu meiner redaktionellen Tätigkeit neigte sich mein Interesse wieder mehr der Literatur zu. Ich besuchte Verleger und war die Nachmittage im Café des Westens anzutreffen. Einige der größeren Verleger zeigten Interesse, mich zu einem Autor für den Leserkreis des Verlages zu erziehen, vielleicht für später in Reserve zu halten. Ich hatte eine solche Unterredung mit Sammy Fischer, der mir sehr wohlgesinnt gewesen ist. Der Verlag suchte gerade einen neuen Standard-Autor. Oskar Loerke und Moritz Heimann hätten mich gern als Verlagsautor gesehen. S. Fischer war auch nicht abgeneigt. Er hat mir väterlich zugeredet, die Politik sein zu lassen, sie mehr innerlich zu verarbeiten und umzusetzen in gute Dichtung. Die Zusagen, die er von mir erwartet haben mag, habe ich verschluckt; ich blieb störrisch. Herr Fischer wollte durchaus mein Zutrauen gewinnen. Er zog aus der Schreibtischschublade das Frühstücksbrot, das er von zu Hause mitgebracht hatte, und gab mir die Hälfte ab über den Schreibtisch hinüber. Ich bin sehr einsilbig gewesen. Der andere Schriftsteller, der zur Auswahl stand, ist Otto Flake gewesen; Flake ist der Standardautor geworden.

Ich war viel mit meinem alten Freunde Max Herrmann-Neiße zusammen; eine Oase in der Wüste. Ich traf mit Theodor Däubler, dem von der Stadtverwaltung die doppelten Lebensmittelkarten zugebilligt waren, zusammen. An und für sich hätte das Däubler nicht nötig gehabt. Wo immer er in den größeren Restaurants am Kurfürstendamm erschien, die Kellner servierten ihm ohne Karten. Trotzdem haben wir auch noch in unserem Kreis Karten für Däubler eingesammelt.

In dieser Zeit erneuerte ich meine Bekanntschaft zu Else Lasker-Schüler, mit der ich schon früher auf den Aktionsabenden bekannt geworden war. Ich traf sie meist im Café des Westens. Sie saß dort viel allein, wie von allen verlassen. Sie war dankbar für jedes freundliche Wort.

Else Lasker-Schüler hatte jeden Kontakt zur Umwelt und den Vorgängen draußen in der Welt verloren. Der Krieg muss für sie etwas Unvorstellbares und auch völlig Unverständliches gewesen sein. Sie hat mich manchmal im Café aufgefordert, sie in ihre Wohnung zu begleiten. Ich erinnere mich an ein typisches Altberliner Zimmer, mit einem kleinen Podium am Fenster, wie das früher war in der guten alten Zeit, als die Bewohner dort ihre Blumentöpfe stehen hatten. Auf diesem Podium saß dann Else Lasker-Schüler auf einem einfachen Rohrstuhl und sah auf die Straße hinaus und in ihre Welt, die Kamelstraßen durch die fernen Wüsten, das seit Jahrtausenden angestammte Land des Prinzen von Theben. Sie sprach vor sich hin und überließ sich den bunten Träumen oder sie rezitierte Gedichte oder las aus Briefen vor, die sie durch Kuriere zu senden beschlossen hatte und die niemals abgeschickt worden sind. Der Besucher saß etwas abseits am Tisch in der Mitte des Zimmers und hörte zu, stundenlang und voller Ehrfurcht.

Der Weg nach unten

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