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Es zog ein Bursch hinaus

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Die Studentenjahre für jeden in die Gesellschaft Hineinwachsenden haben kaum irgendwie Bedeutsames aufzuweisen. Der Zuchtrute der Familie entlaufen, und in die Weide eines Berufes noch nicht eingepfercht, bedeutet das für die Studenten eine Fülle von Geschehnissen, die in ihrer Bedeutung überbetont sein werden. Sie vergilben mit dem Examen und sind schließlich völlig vergessen außer einer künstlich aufrechterhaltenen Tradition, an die sowieso niemand mehr recht glaubt.

Kocht man solche Erinnerungen alle zusammen zu einem Brei und gießt das Wasser der Illusionen ab, so bleibt überall der gleiche Bodensatz, bei allem und jedem: Schlagschatten der Jugend, Nachwehen von Idealen, die in einer früheren Zeit, unter weniger komplizierten gesellschaftlichen Bedingungen, in diesen Jahren geboren wurden – sowieso schon stark verdünnt und gerade noch angelernt, der Träger schon unfähig geworden, aufzustehen, zu kämpfen und Opfer zu bringen, ganz gleich für was und für wen – selbst das Wenige gibt es heute nicht mehr. Den Jüngling, der nach Stifter die Sonne sich an den Hut stecken wollte und die Abendröte umarmen, den gibt es nicht mehr.

Für mich hätte das schon von Grund aus keine Rolle gespielt. Ich merkte sehr bald, dass ich ausgezogen war, nicht in die Gesellschaft hineinzuwachsen, sondern aus der Gesellschaft entfernt zu werden. Das dauerte zwar noch eine Weile und vollzog sich mit Schwankungen nach oben und unten, aber es fügte sich zu dem Ende Punkt für Punkt; zusammengetragen nur von mir, nicht von draußen und nicht von anderen.

Mein erstes Auftreten in Leipzig wurde sogleich ein Fehlstart; nahe genug einer Katastrophe. Der Bautzener Onkel hatte mich in eine Pension eingemietet. Am ersten Abend hatte ich mich mit einem um einige Jahre älteren Mitschüler verabredet, der früher von der Schule abgegangen war als ich und in Leipzig in einem Buchhändlerkommissionshaus als Lehrling arbeitete. Name Gerstenberg; sehr literaturbeflissen. Er ist ein paar Jahre später mein erster Verleger geworden, brachte das „Trottelbuch“ heraus. Er hatte wenig Ahnung vom Verlagsgeschäft und verlor sehr bald die kleine Erbschaft, mit der er den Verlag aufmachen konnte, nachdem seine Mutter gestorben war. Er war spezialisiert auf Schulausgaben von Klassikern mit erklärenden Texten, für Lehrer wie für Schüler gesondert, und druckte sogenannte Kladden, Themenbehandlung für Schulaufsätze zu den Klassikern, das Einzige, wofür er Honorar bezahlte; auch ich habe solche Schemaaufsätze geschrieben zu Wilhelm Tell und Maria Stuart, fünfzig Mark pro Band. Gerstenberg ist früh gestorben.

Mit diesem Gerstenberg ging ich den ersten Abend aus. Ich hatte Geld und zwar das Geld, womit ich meine Einschreibegebühr und die Kollegs in den juristischen Pflichtfächern bezahlen sollte. Kurz – wir landeten in einer Kneipe mit Damenbedienung. Zuletzt spielten wir mit zwei Männern, die die Kellnerin an den Tisch gebracht hatte, Karten – Meine Tante Deine Tante. Sie werden es jetzt schon wissen, ich verlor in kürzester Frist alles bis auf den letzten Pfennig.

Am nächsten Tage hielt ich mit dem Gerstenberg Kriegsrat. Die Universität selbst war noch nicht offen, aber wir lasen die Anschläge, wonach man sich bei der Musik-Hochschule immatrikulieren konnte, ohne Geld und ohne weitere Gebühren. Allerdings war ein Aufnahmeexamen vorgeschrieben.

Ich zog noch den gleichen Tag aus der Pension aus, ließ das vorausbezahlte Zimmer im Stich, eine Art Strafe, die ich mir auferlegt hatte, mietete ein Zimmer mit Klavier – das Geld schaffte Gerstenberg herbei, indem er meine Bücher, eine ziemlich umfangreiche Sammlung neuester Literatur, an einen Buchhändler verschleuderte – und ich bereitete mich für das Examen vor. Ich startete von Neuem.

Es scheint, dass ich vergessen habe, früher zu erwähnen: ich soll sehr musikalisch gewesen sein. Meine Mutter gefiel sich lange Zeit in der Vorstellung, dass sie an der Kasse, am Eingang zu den großen Sälen sitzen würde, wenn das Wunderkind Franz vom Podium aus die Konzertstücke auf dem Klavier vortragen würde. Angefangen hat das bei einem Stiftungsfest des Sängervereins Liedertafel. Ich brachte als Einlage Präludium und Fuge in h-Moll von Johann Sebastian Bach zum Vortrag. Ich bin damals neun Jahre alt gewesen.

Ich habe das vergessen zu erwähnen, weil es zum gewöhnlichen Tagesablauf gehörte, die Wutanfälle des Vaters, der mich, glaube ich, vom vierten Lebensjahr an unterrichtete, die Übungen, die Finger für die Oktave zu spannen, das Gewicht auf dem Handrücken, um die Hand im Gleichgewicht und ruhig zu halten und ähnlichen Virtuosenkram mehr, von Clementi bis Mozart. Es hat mich nicht gerade interessiert, ich habe aber auch nicht besonders darunter gelitten. Ich kam schließlich, bevor ich noch auf das Realgymnasium ging, zu einem anscheinend erstklassigen Klavierlehrer; der sollte mir erst den richtigen Virtuosendreh beibringen. Vielleicht wäre das sogar gut gegangen; ich spielte alle Stücke nach einmaligem Durchgehen und nur noch gelegentlichem Aufholen sofort auswendig. Wahrscheinlich wird es mir genügt haben, dass ich wusste, die Noten waren da – ich hätte, wenn nötig, nur hinzusehen brauchen.

Ich sah nicht hin oder nur sehr selten. Der Mutter fiel das auf. Da stimmte etwas nicht, und sie ärgerte sich darüber, je öfter ihr das auffiel. Kopfschüttelnd: der Junge folgt doch nicht, der sieht wieder nicht auf die Noten – und zu dem Vater gewendet: siehst du denn nicht, der Junge hat die Augen ganz woanders? Er sieht nicht auf die Noten … dies konnte sich in einer Spirale, jeweils einen Ton zwingender immer wiederholen, bis der Vater etwas zögernd zwar eingriff und von sich aus etwas sagte …

Allmählich brachte dies die Krise zum Reifen. Ich hörte auf, Klavier zu spielen, jeden Tag weniger, die Schularbeiten – konnte angeführt werden – verlangen mehr Zeit, und ich fing an, die Violine zu lernen, in fest bestimmten Stunden und außerhalb des Hauses.

Wenn es interessiert – es gab sogar eine kurze Zeit, wo mir das Klavier Spaß gemacht hat. Das war – ich spielte zur Erholung Walzer –, als ich von dem Vater für einen durchkomponierten Walzer mit mindestens drei verschiedenen Themen fünfzig Pfennig bekam. Ich komponierte nach dem Vorbild der Dynastie Strauß sehr schnell und dann in solcher Menge, dass man sich schließlich nach einigen Wochen gezwungen sah, das Angebot zurückzuziehen.

Mit der Violine ging es etwas anders. Ich lernte bei einem alten gediegenen Militärmusiker, der jeden Ton feilte, während er Karl-May-Bücher las, die ich ihm mitzubringen hatte, und der auch nicht einen halben Ton abrutschen ließ. Ich lernte bei dem Mann sehr schnell, zu schnell, sodass ich bald alles Interesse verlor. Es gehörte zu einer festen Norm, wie Schularbeiten, Violinstunde und der Spaziergang mit den Eltern.

Das änderte sich, als der Vater, der mich für das Klavier verloren hatte, auf den Ausweg verfallen war, im Hause Quartett-Abende zu veranstalten. Irgendwelche musikbeflissenen Leute aus der Stadt spielten Bratsche und Cello. Der Vater oder mein früherer Klavierlehrer spielten Klavier, und die beiden Geigenstimmen hatten der Militärmusiker und ich. Damals war ich schon sehr selbstbewusst geworden. Mit dem Part der ersten Geige und den brillierenden Solopartien kümmerte ich mich wenig darum, dass die Mutter kritisierte und mäkelte, ich stünde zu nahe am Pult, ich halte die Schulter schief oder lasse sie hängen – wahrscheinlich sollte ich dadurch veranlasst werden, Augengläser zu tragen; was auch durchaus angebracht gewesen wäre.

Ich war schon wieder auf dem Wege zum Virtuosen, zu Sarasate und Tartini und den Teufelstrillern. Wie es mit diesen Quartetten weitergegangen wäre, weiß ich heute nicht. Sicherlich wäre es zu einer Explosion gekommen, denn diese abendlichen Quartette, obwohl ich dabei behandelt wurde wie ein rohes Ei, nahmen einfach zu viel von meiner Zeit weg. Ich hätte zwar nicht direkt gewusst, was sonst zu tun – sie standen mir aber im Wege. In dem Jahr, als der Tod die große Unruhe in unser Haus brachte, hörten die Quartette von selbst auf; zugleich auch meine Violinstunden.

Seltsamerweise habe ich von diesen Quartetten, die sozusagen die ganze Skala klassischer Musikliteratur umfassten, und von den Violinkonzerten der Mozart, Beethoven, Bruch und Genossen nichts behalten. Ich strich sie mit einer zunehmenden Fertigkeit hin und her, von der Pizzicato-Kadenz bis zur Viola-Stimme auf der G-Saite; aber das war auch alles.

Heute sehe ich: Ich hasse diese klassische Musik, ich hasse Musik überhaupt. In dieser Gesellschaftsform ist so vieles ausschließlich auf Musik gestellt, der Tod und die Geburt, die Moral und der Versuch, dieser Moral Widerstand zu leisten – alles ist eingewickelt in Musik; die Prügel, die Wehlaute, alles, was schreit und nicht mehr aufstehen wird und selbst bis zuletzt die Hinrichtung, sei es im Marschtempo, in der Ballade oder den langgezogenen Wellentönen bei Wagner. Ein einfaches Geräusch ist mir lieber – solange nicht jemand kommt und es in Musik setzt; leider ist das zu oft der Fall.

Ich bin gezwungen, zuzuhören und stille zu sein. Ich bin schwach, zu schwach, gegen diesen von der Gesellschaft ausgehenden Druck etwas auszurichten. Für mich liegt der Betrug in der biologischen Fehlleistung, die als Musik bezeichnet wird, darin, dass sie als notwendig erkannt wird, die Leere, die Langeweile, den Überdruss auszufüllen und, wenn notwendig, innerhalb der Gesellschaft niederzuhalten, weil ohne dieses die Gesellschaft explodieren würde … Würde sie? Warum nicht?

Verwechseln Sie nicht Musik mit Rhythmus. Der Rhythmus steckt in den Knochen, im Blut, im Organismus, in der Lebenserwartung und in dem Zusammenbruch dieser Erwartung. Im Beinahe – möchte man sagen. Der Rhythmus ist das Leben selbst, sicherlich mehr als das physische Leben … wächst und weitet sich und zieht sich zusammen, konzentriert sich auf den Atem … ein und aus, tiefer ein und schneller aus.

Und weiter: Ja, ich habe mich auf die Aufnahmeprüfung in der Musikhochschule vorbereitet. Den Eltern hätte ich keine größere Freude bereiten können, als auf das Musikstudium umzuschwenken. Der Gerstenberg besorgte mir aus einer Leihbücherei Klavierauszüge. Ich hatte mit drei Spielopern zur Auswahl anzutreten, geeigneter Konzertmusik und einigen Schaustücken. Ich paukte auf dem Klavier in diesen April-Wochen 1907 in Leipzig von morgens bis abends – ich hatte in den letzten drei, vier Jahren keine Taste mehr angerührt, manchmal brachte mir der Freund etwas zu essen, manchmal aber hatte er auch selber nichts.

So ging ich schließlich in die Prüfung, spielte Teile von „Maurer und Schlosser“, ferner mächtig rauschenden Klingklang von Schumann und irgendeine Ecke von Brahms, die Umsetzung eines Themas in verschiedenen Schlüsseln und hatte noch ein Thema in die Form einer Fuge zu bringen – die beiden Prüfungen im Transponieren gingen so gerade schlecht und recht, in den ersten Übungen kam ich glatt durch. Immerhin wurde mir sogleich für das erste Semester ein Pflichtkurs bei Max Reger in Kontrapunkt auferlegt. Als Blasinstrument wählte ich die B-Klarinette, obwohl ich kaum eine Aussicht sah, mir das Instrument anzuschaffen, das jeder selbst mitzubringen hatte.

Den Eltern waren die veränderten Umstände noch nicht bekannt. Ich benutzte den Wechsel nur insoweit, als ich über den Bautzener Onkel Geld für einige zusätzliche Ausgaben anforderte, etwaige Kurse in der Musik-Hochschule betreffend, wovon ich die Immatrikulation an der Universität schließlich bezahlen konnte.

Inzwischen verkaufte ich meine sämtlichen wohlsortierten Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe und den Zylinderhut, den damals die Abiturienten am Tage des bestandenen Examens als eine Art Uniform zu tragen pflegten. Ich besaß gerade nur noch das Allernotwendigste, um auf die Straße gehen zu können.

Ich zog in eine Vorstadt um, hatte einen Fußweg von etwa einer Stunde zum Thomasring oder Augustusplatz im Zentrum der Stadt. Ich war völlig ohne Mittel und im Grunde auch ohne ernstliche Aussichten für das eine oder andere Studium. An der Universität konnte ich nur einige Freikurse belegen, Literatur bei Witkowski, Musikgeschichte bei Riemann.

Ich erwähne diese Einzelheiten, weil ich in Wirklichkeit sehr zufrieden und ausgeglichen in dieser Zeit gewesen bin. Ich habe diese innere Ausgeglichenheit trotz aller der damit verbundenen Mängel nie mehr wieder gefunden. Ich hatte kaum Freunde und nur einige Zufallsbekanntschaften. Es schien, dass ich imstande sein würde, alles, was ich in den Schuljahren an aufbauender Lebensenergie versäumt hatte, jetzt nachzuholen. Wenn es erlaubt ist, von einem jungen Menschen zu sagen: ich richtete mich wieder hoch, ich blühte auf.

Mit der Musikhochschule hatte es ein schnelles Ende. Es machte mir nichts, inzwischen innerlich viel sicherer geworden. Ich war nur einmal mit zirka vierzehn anderen Schülern im Reger-Kurs. Der Meister behandelte uns nicht nur wie Idioten, hergelaufene Strolche und noch nicht entwöhnte Müttersöhnchen, für die der Staat Geld zahlt, dass sie ihm, dem Meister, die Zeit stehlen – offensichtlich war Reger, was auch viele andere bestätigen werden, bei solchen Gelegenheiten stark unter Alkohol –, sondern er erklärte auch frei weg, dass er keinen von uns den Kurs passieren lassen werde – dies sähe er schon an unserem ganzen Auftreten. Er nahm die ersten drei vor mit einer Themenführung und sagte jedem Einzelnen schon nach wenigen Minuten, dass er sich nicht mehr mit ihm beschäftigen würde. Er habe zwar nicht das Recht, ihm zu verbieten, das Studio zu betreten, aber für ihn sei er künftighin Luft und von der Liste gestrichen. Ich wäre an einer der nächsten Stunden drangekommen und gab schon vorher auf. Im Augenblick erschien es mir sinnlos, dagegen anzukämpfen.

Auf diese Weise verkürzte Reger die Zahl seiner Pflichtstunden im Semester um mehr als die Hälfte. Ich war nicht einmal besonders enttäuscht. Die beiden Klavierkurse waren überflüssig geworden – ohne den Reger-Kurs wäre ich das Semester nicht weitergekommen.

Wenn folgenschwere Entscheidungen zu treffen sind, wählt derjenige, der völlig auf sich allein gestellt ist und niemanden hat, mit dem er darüber sprechen oder streiten kann, mit Sicherheit das Falsche. Er weiß es meist schon vorher, aber bestimmt gleich nachher, was er vielleicht noch hätte ändern können.

So war es auch bei mir, als ich mich entschlossen hatte, das juristische Studium wieder aufzunehmen, obwohl mir die Vorlesungen, die ich besuchte, nicht angerechnet wurden. Das wird später noch nachzuholen sein … ich saß mit ein paar Gleichaltrigen, die ebenso unentschieden waren wie ich, im Café Minerva am Thomasring. Wir diskutierten ohne Thema und ohne Ziel darauf los und in die Luft; nach all den Aufregungen der letzten Jahre ein wohltuendes Nichts. Und offensichtlich – ich war ruhiger, und ich schien reifer geworden zu sein. Geld hatten wir alle nicht und auch keine Lust zu besonderen Ausgaben. Einmal in der Woche ging ich in das Speiselokal „Zum weißen Hirsch“ zum Mittagessen. Ich habe lange Zeit die Löffel von dort aufbewahrt als Andenken, auf denen eingraviert war „Gestohlen im Weißen Hirsch“.

Was fehlte, waren die Menschen, die Freunde, die Kameraden, die wirklich Gleichgesinnten, vielleicht auch die Mädchen, obwohl ich kein Interesse hatte, denen hinterherzusehen oder sie gar anzusprechen. Die Leute um den Caféhaustisch waren mir im Grunde fremd; sie blieben schemenhaft, Figuren, mit denen man über den Kooperationsstaat diskutieren konnte – das gab es damals schon, Lenkung der Wirtschaft nach Säulen der Berufe durch eine obere Spitze als die politische Regierungsform, für uns damals noch ein Affront gegen Schmoller, dessen Vorlesungen wir alle besuchten –, aber eben nicht mehr, und dann der abendliche Fußmarsch nach Leutzsch … warte deine Zeit ab und alles wird werden. Zu der Tasse Kaffee wurde sehr viel Wasser getrunken, und es reichte sehr selten zu einem Stück Kuchen, das heißt, das knappe Geld war genau auf den Pfennig eingeteilt.

Hätte es so bleiben sollen? – ich machte einige schüchterne Versuche, den Leuten etwas näher zu kommen, der eine von dieser Tischrunde ist Rechtsanwalt in Apenrode geworden und hat in der dänischen Politik lange eine Rolle gespielt. Ich habe ihm eines Tages in einer unverständlichen und völlig überflüssigen Laune Gottfried Kellers Gesammelte Werke geschenkt, von dem Gerstenberg mir besorgt, auf Abzahlung bei seiner Firma; nichts ist weiter daraus entstanden; ich habe allerdings auch später die Bücher nicht bezahlt. Der andere ist Pastor geworden an der Kirche in Naumburg, wo sein Vater als Küster angestellt gewesen ist. Ich habe den Vater auch kennengelernt, damals, als plötzlich dieses Idyll in Leipzig durch eine kleine Bombe zerstört worden war, damals, als ich es dann in Leipzig nicht mehr aushalten konnte und wer weiß wohin ausgerissen wäre, hätte mich nicht dieser Bekannte an die Hand genommen und nach Naumburg zu Besuch über das Wochenende zu seinem Vater gebracht, der an einer der Kirchen dort Küster war, Chordiener und die Orgel spielte.

Der Blitz kam aus heiterem Himmel. In einer der von der Freien Studentenschaft veranstalteten Massenversammlungen hielt der Graf v. Hoensbroech, ehemaliger Jesuitenzögling, die übliche Brandrede gegen das Papsttum. Schließlich ging mich das alles nichts an. Ich besuchte solche Veranstaltungen der Freien Studentenschaft genau gesagt aus Langeweile und aus dem Bedürfnis nach Abwechslung. Ich hörte den Grafen vor dieser Massenversammlung von vielleicht zwei- bis dreitausend Studenten gegen den Papst losdonnern. Weder die Lautstärke noch die Argumente zündeten, obwohl sicherlich alle die Anwesenden dem Grafen zugestimmt haben. Es sprachen in der folgenden Diskussion noch ein paar ältere Studenten und hieben in die gleiche Kerbe, nur noch dümmer und, wenn möglich, noch aufgeblasener.

Auch ich hatte mich zu Wort gemeldet. Die Stimmung war noch flauer geworden, lustlos zum Gähnen. Ich wusste im Grunde nicht, was ich sagen wollte – wahrscheinlich stimmte ich mit dem Grafen überein, aber das spielte jetzt keine Rolle. Technisch – schien es – hatte ich den Grafen anzugreifen. Ich musste ein grobes Geschütz auffahren, und ich legte los.

Aus dem katholischen Religionsunterricht und der allgemeinen Atmosphäre des heimatlichen Katholizismus war bei mir nicht mehr viel übrig geblieben; umso gröber konnte ich loslegen … wozu erst Argumente, lass das Herz sprechen.

Ich hatte großen Erfolg. Die Versammlung wurde aufgeregt. Neue Wortmeldungen, alle zwar gegen mich, aber mit Ehrenbezeugungsfloskeln. Die ehrbaren Gegner kreuzen die Degen in ritterlicher Tradition und so. Am begeistertsten war der Graf von Hoensbroech selbst, der eine direktere Zielscheibe gefunden hatte, als den immerhin recht weit entfernten Papst. Ich wurde am Saalausgang von allen Seiten aus beglückwünscht. Ich wusste selbst nicht, was eigentlich los war. In dem Mitteilungsblatt der Freien Studentenschaft war die erste Seite dem tapferen jungen Studenten gewidmet, der gegen eine überwältigende Übermacht seine religiöse Weltanschauung verteidigt hatte.

Das wurde mir zu viel. Ich ließ an dem erwähnten Caféhaustisch an einem der nächsten Tage die Bemerkung fallen: es habe sich da überhaupt um keine Weltanschauung gehandelt, ich hätte in der Diskussion lediglich aufgrund einer Wette gesprochen, und sie alle würden bezeugen können, ich hätte diese Wette gewonnen. Mehr sei nicht dahinter. Dies sprach sich herum wie ein Lauffeuer. Schon am folgenden Tag wurde ich im Minerva von allen gemieden. Ich war aus, fertig. Die Studentenzeitung bereitete einen neuen Artikel, diesmal gegen mich, vor, und selbstverständlich meinen Ausschluss aus der Freien Studentenschaft.

Da nahm mich der Theologiestudent an die Hand und lud mich ein über das Wochenende nach Naumburg in die Küsterwohnung. Vater und Sohn waren einander sehr zugetan, die Mutter war schon längere Zeit vorher gestorben, ältere Geschwister waren außer dem Haus. Der Sohn lebte für den Vater und der Vater wahrscheinlich für den Sohn. Beide hatten das Herz auf der Zunge, besonders dem Gast gegenüber. Eine Insel des Friedens und der Zuversicht. Uns wird heute eine solche Zeit, vielleicht sind in Wirklichkeit schon Jahrhunderte darüber vergangen, als geschichtliches Märchen aufgetischt. Literaten haben sich der Sache bemächtigt … es sollte jedenfalls darüber nicht so viel geschrieben werden.

Ich spielte in Naumburg zur großen Freude des Küsters mit dem Sohn abwechselnd die Orgel; – ich glaube, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich auch in Neiße in der Kreuzkirche die Orgel oft vertretungsweise gespielt habe. Meist in den wöchentlichen Schulmessen am Morgen, zum Beispiel im Dezember. Ich habe dann, erinnere ich mich, die Register gezogen in die Überleitung zum Choral: Rorate coeli de super … Tauet, Himmel, den Gerechten …

Vater und Sohn sind beide aus meinem Leben verschwunden. Beide habe ich nicht mehr wiedergesehen, auch keine Verbindung mehr gehalten.

Ich habe es indessen noch einmal versucht, mich in Linie zu bringen. Vorbereitet in den Ferien durch zwei meiner Mitschüler, wurde ich im folgenden Semester Mitglied der Leipziger Burschenschaft Arminia. Von dieser Zeit ist nichts im Gedächtnis geblieben, nicht einmal die Gesichter der Kommilitonen, mit denen ich zweimal die Woche im Haus der Burschenschaft an einer langen Tafel saß, den Sonntagvormittag den Farbenbummel auf dem Thomasring bestritt, den Fechtboden regelmäßig besuchte und am Anfang und Schluss des Semesters an einem Ausflug mit Damen teilzunehmen hatte. Ich besuchte in dieser Zeit die juristischen Kollegs, soweit ich sie nachholen konnte. Ich muss mich schrecklich gelangweilt haben, aber es geschah sonst weiter nichts. Ich wurde ein leidlicher Fechter, besser geeignet für die Bestimmungsmensuren als für die Kontrahagen auf schwere Säbel – dafür war mein Arm im Verhältnis zur sonstigen Körpermasse zu kurz; ich bezog regelmäßig Prügel.

Ich wechselte im nächsten Semester über nach Jena in die Burschenschaft Germania, zum Teil, weil ich mich dort besser auf meine Säbel-Kontrahagen vorbereiten konnte, mehr aber, weil ich eine breitere Gesellschaft, offenere Kameradschaft und Zusprache dort zu finden hoffte. Darin wurde ich sehr enttäuscht. Unter den dreißig bis vierzig Aktiven war auch nicht ein einziger, mit dem ich irgendwelche Ansichten oder Erlebnisse auszutauschen gehabt hätte. So würde ich mir das Leben in einer Kaserne vorgestellt haben. Es war alles genau geregelt. Es wurde kommandiert und zur Ordnung gerufen. Möglicherweise ist eine solche Erziehung für eine spätere Eignung im Beruf ganz angebracht. Ich konnte mir indessen keinen Beruf ausdenken, wo ich der stützenden Hilfe dieser Kommilitonen bedürfen würde. Es wurde ein großes Missverständnis, auch dann noch, als ich mich Hals über Kopf in den Betrieb stürzte, also Sänger unter den Singenden, Schläger unter den Schlagenden und Säufer unter den Pflichtsaufenden geworden war. Es war eben ein Missverständnis.

Das merkte nicht nur ich. Das merkten noch mehr die anderen. Zwei Semester gingen darüber hin. Die Universität sah ich nur von außen. Ich hatte enorme Schulden aufgehäuft. Wir fuhren in der Kalesche um den Hahnfried und schmissen das Geld aus eigens dafür zurechtgemachten Säcken auf die Straße; eine gewaltige Horde Kinder, wahrscheinlich aus der Arbeitervorstadt Wenigen-Jena, hinterher.

Auch das ging zu Ende. Ich war die Ferien über wieder in Jena geblieben und hatte mich mit einigen älteren Semestern, sogenannten verbummelten Studenten, angefreundet, in der Mehrzahl bereits ältere Herren. Sie waren auf dem besten Wege, sich zu Tode zu saufen und hielten sich mit Injektionen von Strophantus aufrecht. In dieser Gesellschaft fühlte ich mich wohl, obwohl ich nicht genau weiß, warum – ernstere Fragen dürften wir kaum erörtert haben.

Eines Nachts, in der Weinstube Göhre, unserm Stammquartier, wo ich überdies den Couleurkredit genoss, muss ich das Bedürfnis gefühlt haben, mich vor meinen Kumpanen zu beweisen, die alle aus dem einen oder anderen Bund längst herausgeschmissen worden waren. Ein stadtbekannter alter Herr der Germania, irgendein hohes Tier in der Universität, hatte mich in dieser Gesellschaft aufgefunden und angefangen, mir die Leviten zu lesen. Ich ließ ihn nicht nur grob abfahren, sondern – als er zu drohen anfing, ging ich auch tätlich gegen ihn vor – er flog, glaube ich, in der Göhre die Treppe hinunter. Durch einen in aller Eile am nächsten Tage aus dem Kreise der in Jena ansässigen Alten Herren zusammengetrommelten Konvent wurde ich mit dem Rat zum Austritt bestraft.

Ich verließ Jena ein paar Tage später. Mit meinen Eltern kam es zu einem großen Skandal, als dann die Rechnungen in der Heimat einzulaufen begannen. Ich weiß nicht, wie viele davon bezahlt worden sind; alle bestimmt nicht.

Als ich Jena verlassen musste, dachte ich an so vieles, was die Stadt zu bieten gehabt hätte, mit einer gewissen Wehmut. An den Philosophenberg mit den schönen Villenhäusern, in denen sicherlich so viele berühmte Leute gewohnt haben. Wahrscheinlich auch Johannes Schlaf, für den ich eine tiefverschwiegene Begeisterung bewahrt hatte – ich habe den Philosophenberg nie betreten, ich bin nicht einmal in die Nähe gekommen. Ich dachte an den Eucken-Kreis, zu dem ich mich sowieso nicht hingetraut hätte. An die Lesesäle der Zeiß-Stiftung, die ich allerdings einmal von weitem gesehen habe, ohne jedoch den Mut aufzubringen, hineinzugehen, abgestempelt mit dem Kainszeichen der Couleur. Ich dachte an die Wanderungen im Frankenwald und die Tanzveranstaltungen mit den Dorfschönen von Ammerbach, die nach der Tradition alle das Band der Burschenschaft Germania über der Brust tragen und sich unter den jeweiligen Aktiven, den Burschen und Füchsen der Germania, besser auskannten als ich selbst. Aus all dem habe ich mir selbst nichts aufbauen und nichts erhalten können. Es ist verlorengegangen.

Es ist schon im folgenden Jahr weggespült worden in Breslau. Die Eltern hatten in langen Beratungen mit Freunden des Hauses beschlossen – ich war nicht hinzugezogen, wurde auch nicht aufgefordert, irgendetwas zu erklären, zu beschönigen oder Besserung zu versprechen – trotz all der bisherigen Misserfolge das Risiko einzugehen, mich in Breslau das Rechtsstudium zum ersten Abschluss bringen zu lassen. Ich wurde in eine Pension eingemietet mit einem auf fünfzig Pfennig berechneten Taschengeld, das mir täglich mit dem Frühstück ausgezahlt wurde, und gleichzeitig bei einem Repetitor eingekauft, der mich für das Referendar-Examen vorzubereiten hatte und erst alle die versäumten Vorlesungen in abgekürztem Schnellverfahren nachholen musste. Beide Kontrollstellen hatten monatlich an die Eltern zu berichten, bevor weitere Zahlungen erfolgen würden. Merkwürdigerweise verlief das die längste Zeit ganz gut.

Ich besuchte den Repetitor täglich für mehrere Stunden und besuchte nebenbei die noch ausstehenden Pflichtkollegs an der Universität. Aber darüber hinaus geriet ich in eine Art von Trance, vielleicht eher mit völliger Apathie zu beschreiben. Ich fing an, stark zu trinken, den billigen Henning-Korn – in einer Gesellschaft von Zufallskumpanen in den für Breslau typischen Kneipen, im Dunkel der Hinterhöfe gelegen. Ich traf dort die gleichfalls für Breslau typischen Studenten der katholischen Theologie, die ihren Ausgang vom Priesterseminar in diesen Kneipen verbrachten oder überhaupt bereits aus dem Seminar weggelaufen waren. Diese hatten den nahen Untergang vor Augen. Keiner hätte gewusst, was tun – keiner eignete sich im Augenblick wenigstens für einen Beruf, wenn das Stipendium des Pfarrers aus dem oberschlesischen Heimatdorf ausbleiben wird. Mir sind nur ganz wenige Fälle bekannt, in denen es solchen Seminaristen gelungen ist, sich über Wasser zu halten.

Ich fing auch wieder an, Karten zu spielen mit der inzwischen leicht betonten Tendenz, mein tägliches Taschengeld aufzubessern. Mit der Zeit wurde das eine regelmäßige Einnahme. Etwas von der inneren Verkrampfung löste sich. Jemand verschaffte mir Aushilfen als Klavierspieler, sonntags am frühen Morgen in einer der Breslauer Ausflugsorte, oder als Stimmungsklavierspieler in einem der kleinen Kinotheater – war die Katastrophe bereits in Sicht oder wurde die Tote ins Bild hereingetragen: Chopin; stieg jemand feierlich die breite, vielstufige Treppe herab, der Treulose, die betrogene Braut, oder der Hochstapler zum entscheidenden Coup, stand eine schwerwiegende Entscheidung bevor: Rubinstein oder Mendelssohn.

Ich verkehrte schließlich in einer Halbwelt von Studenten, Zirkusartisten und Künstlern, Serviermädchen und allerhand zweifelhaften Gestalten aus der Provinz, die mit Geld um sich schmissen. Solche Abende endeten für gewöhnlich im Café Royal, Reudel genannt, das die ganze Nacht geöffnet war und hauptsächlich von Strichmädchen besucht wurde. Ich lernte dort eines dieser Mädchen kennen und freundete mich mit ihr an. Wir warteten, bis ein Besucher und Kunde an den Tisch kam, dann entfernte ich mich. Ich glaube, ich hatte damals die ernste Absicht, den Beruf eines Zuhälters zu wählen – ich würde darunter verstanden haben, dass es meine Aufgabe sei, das Mädchen zu schützen, ihr Kunden zuzuführen und im Notfall für Kleidung und Nahrung zu sorgen.

Meine Freundschaft endete mit einer großen Verwirrung. Ich hörte eines Nachts von dem Ober im Royal, dass das Mädchen in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Ich wollte sie aufsuchen, wurde aber nicht vorgelassen. Es war auch kein eigentliches Krankenhaus, sondern das Gefängnisspital. Sie war von einer Sittenstreife hochgenommen worden, als sie auf ihrem Zimmer am Neumarkt, wo ich sie oft besucht hatte, sich zum Fenster hinausgelehnt haben soll, wahrscheinlich um jemandem etwas nachzurufen, vielleicht auch nur, um etwas frische Luft zu schnappen. Nach der Polizeiverordnung war dies für eingetragene Strichmädchen verboten.

Im Augenblick schien die Welt einzustürzen. Ich hätte jeden einzelnen Polizisten, der mir gerade in den Weg gekommen wäre, angefallen und niedergeschlagen. Merkwürdigerweise konzentrierte sich dann sehr bald die Wut weniger auf die beteiligten oder zuständigen Personen, sondern sinterte durch auf Staat und Gesellschaft, die Stadt Breslau, das Haus am Neumarkt – ich hätte es einzeln Stück für Stück niederreißen mögen.

Das Mädchen blieb im Spital. Es war lungenkrank und würde vermutlich irgendwohin verschickt. Ich habe es nicht wiedergesehen. Es ließ mir durch ein anderes Mädchen bestellen, ich solle mich nicht weiter mehr um sie kümmern.

Ich muss noch erwähnen, dass ich in diesem Jahr selbst mit den Behörden in Konflikt gekommen bin. Ich hatte in einer betrunkenen Nacht an die große Portaltür der katholischen Garnisonkirche gepisst und war dabei festgenommen worden. Damals hat mir noch die frühere Verbindung zur Burschenschaft geholfen. Bekannte, die mit mir zusammen ihren Spaß gehabt hatten, mobilisierten am nächsten Morgen einen Burschenschaftler-Anwalt, der mich aus dem Polizeigewahrsam und der Kette von Paragraphen loseiste und mich dem Disziplinargericht der Universität überstellte. Dort kam ich mit einem strengen Verweis davon und drei Tagen Karzer, die ich mit Ausnahme der täglichen Mahlzeiten, für die ich freien Ausgang hatte, in der Wohnung eines der Pedelle in der alten Universitäts-Sternwarte verbringen musste. Ich hatte die Tage über eine recht lustige und lärmende Gesellschaft um mich versammelt. Mein Großvater wird von diesem Raum aus auf die Sterne gesehen haben.

In diesen Wochen lernte ich in meinem Umgang mit arbeitslosen Artisten eine Tänzerin kennen, die sich als Modell in der Kunstakademie einiges Geld verdiente und mit den jüngeren Kunstprofessoren auf vertrautem Fuße stand. Sie war in unserer Gesellschaft durch ihren rüden Umgangston mehr gefürchtet als gelitten. Ich hatte Margot zunächst kaum beachtet. Merkte aber dann, dass sie sich in besonderer Weise für mich zu interessieren begann, indem sie mich manchmal auf der Tanzfläche herumschubste, als wollte sie mich in die Ecke feuern. Warum gerade ich, der mit solcher Anteilnahme beehrt wurde … zudem war ich um die Zeit, wenn Margot in unserem Kreis auftauchte, schon meist stark angetrunken. Ich hatte ihr nichts zu bieten, und sie interessierte mich nicht im Geringsten, auch nicht, als sie mich eines Tages zwang, sie mit auf mein Zimmer zu nehmen.

Das ging so eine Weile, bis mich die Pensionswirtin, der die nächtlichen Besuche nicht verborgen bleiben konnten, eines Tages hinauswarf. Margot brachte mich in einem Hotel unter, wo sie gut genug aus früheren Besuchen bekannt war. Mich rettete vor dem neuen Bruch mit den Eltern, dass der Repetitor meine Zulassung zum Referendarexamen fertiggebracht hatte. Ich stieg bei all dem Trubel in die schriftlichen Vorprüfungen, von der brieflich mir übermittelten tiefsten Verachtung der Mutter begleitet.

Ich habe den vielen Erzählungen der Margot mit halbem Ohr nur zugehört. Da war eine Mutter, die sie, wenn die Not sehr dringend war, mit Geld unterstützte und sie auch manchmal in der Wohnung heimlich schlafen ließ. Da war der Stiefvater, der seinerseits sie aus dem Haus gewiesen hatte. Da war die Reihe der Freunde und Künstler und Liebhaber, die sie alle abgeschüttelt hatte und die sie beschimpfte, sobald sie ihrer ansichtig wurde. Da war der Kanonenkönig, der auf der Bühne eine Kanone über seine Brust rollen ließ und dem anscheinend ihre erste große Begeisterung gehört hatte, und der sie dann sitzen ließ. Da waren die verschiedenen Engagementsverhandlungen mit den oft recht undurchsichtigen Agenten, und da war schließlich der Vertrag mit einer Schau- und Tanzgruppe für eine Tournée durch Finnland, Russland und die Türkei … der Manager der aus vier Personen bestehenden Truppe saß vor einem Zelt in der Wüste und spielte als Haremsscheich die Flöte. Der Mond ging über der Szene auf, die drei Mädchen bewegten sich im Kreise und gingen jeweils einige Schritte vor und zurück – getanzt wurde da nicht viel.

Ich habe es kaum bemerkt, eines Tages war Margot auf Tournée verschwunden, abgereist, und wird mir Nachricht senden, dass ich ihr nachkommen soll.

Ich lernte inzwischen auf die mündliche Schlussprüfung im Referendarexamen und fing wieder an, Geld zu pumpen. Ich tat das, was die Agenten von mir verlangten: Ich kaufte Lexika und wissenschaftliche Bücher auf Kredit, auf Grund der Studentenkarte, bekam von den Agenten nur den Pfandschein zu Gesicht, den ich ihnen verkaufte, das heißt, ich erhielt etwa zehn Prozent des Wertes in bar, für den ich den Abzahlungsvertrag zu unterschreiben hatte. Ich unterschrieb auch allerhand Versicherungen, die dann der Agent belieh oder zurückkaufte, bis ich schließlich so viel Geld zusammen hatte, dass ich eine Fahrkarte nach St. Petersburg kaufen konnte. Von dort erhielt ich von Margot ein Telegramm, ich solle nachkommen, und zwar sofort.

Warum ich wirklich abgefahren bin, das weiß ich heute ebenso wenig wie in früheren Jahren, wenn ich gelegentlich darüber nachgedacht habe. Es lohnt sich nicht, darüber analytische Spekulationen anzukurbeln, denn sie stimmen ja doch niemals ganz. Man wird es mir nicht glauben, aber es war weder der brennende Wunsch, Margot wiederzusehen, noch die Flucht vor den Schulden oder das masochistisch-sadistische Vergnügen, im letzten Augenblick noch das Examen zu schmeißen, ebenso wenig reine Abenteuerlust … vielleicht, um es dem Leser leichter zu machen, war von jedem ein wenig dabei.

Ich kam nach einigen Tagen Bahnfahrt ziemlich durcheinander in St. Petersburg an. Margot, in Begleitung einer Kollegin, nahm mich am Bahnhof in Empfang. Ich hatte unterwegs überall und in jedem Reisenden im Zugabteil einen Spion der zaristischen Staatspolizei gesehen, der mich festnehmen wollte. Ich war noch so aufgeregt und durcheinander, dass ich im Fontanka-Kanal beim Aussteigen aus dem Verkehrsboot vom Laufsteg ins Wasser fiel, mit dem Koffer fest in der Hand.

In dem Artisten-Hotel, wo die Truppe logierte, wurde ich die Nacht über einquartiert. Am nächsten Morgen ließ mich der Dwornik nicht mehr in das Hotel hinein. Ich ging in das Etablissement Flora-Varieté, wo die Truppe im Programm war, und sprach dort mit einem der Direktoren, mit dem ich mich deutsch verständigen konnte. Eine Beschäftigung als Bühnenarbeiter, Kulissenschieber, irgendeine Tätigkeit im Betrieb, Restaurant, oder Logendiener, Tellerwäscher, Auskehrer oder was immer – wäre mir recht gewesen. Als der Mann aber hörte, dass ich der Freund oder Liebhaber eines der Mitglieder des Ensembles sei, der ihr von Breslau aus nachgereist und hier ohne Mittel gestrandet war, schmiss er mich sofort hinaus – das Flora-Varieté lebt von den Separee-Logen, in denen für die Kavaliere Sekt serviert wird, die dafür das Recht hatten, die auftretenden Tänzerinnen in die Logen zu beordern.

Einige Tage später setzte die Geschäftsleitung auch Margot vor die Tür. Die ganze Truppe wäre entlassen worden, wenn diese nicht Margot einfach geopfert hätte. Dafür sorgten die Kollegen für Margot, solange sie noch in St. Petersburg ohne Engagement war. Sie konnte im Hotel wohnen bleiben, die Kollegen brachten durch Umlage das notwendige Geld auf. Ich durfte mich dort allerdings nicht sehen lassen.

Ich schlief auf einer Bank im Park – ich schlief dort etwa drei bis vier Wochen, Nacht für Nacht. Der Park war nach Zarin Elisabeth benannt, und an einigen Nächten, an die ich mich besonders erinnere, war er von Tausenden von Lampions beleuchtet. Nie hat mich ein Wärter oder die Polizei weggejagt, wenngleich manchmal angestoßen, ob ich noch am Leben sei.

Es waren die Wochen der weißen Nächte. Der silberne Dämmer in diesen Nächten tat mir wohl. Margot sah ich in dieser Zeit jeweils nur für ein paar Stunden im Café Reiter, einem Artistentreffpunkt am Newski, wo mir die Kollegen Margots einen Kaffee bezahlten, oft auch etwas zu essen bestellten. Margot selbst steckte mir gelegentlich einen Rubel zu. Ich kaufte mir dafür große Klumpen von schwarzem Brot.

Trotzdem musste schließlich etwas geschehen. Die Freunde gaben mir eine Liste wohlhabender Deutscher in Petersburg, die ich der Reihe nach aufsuchte, um Geld für die Rückreise zu erbetteln. Ich hatte mir einen ziemlichen Spruch zurechtgemacht, bei dem das bevorstehende Examen die entscheidende Rolle spielte. Ich bekam nichts, nicht eine Kopeke. Ich wurde an das Deutsche Konsulat verwiesen, und dort schrieb mir ein Beamter, dem ich meinen Spruch hergesagt hatte, einen russisch geschriebenen Zettel aus mit einer Adresse – ich sollte diese Adresse unverzüglich aufsuchen. Glücklicherweise ging ich vorher ins Reiter, wo mir jemand den Zettel übersetzte – es war die Einweisung ins Arbeitshaus.

Dies brachte mich etwas ins Leben zurück. Ohne besonderen Rat und ohne weitere Hinweise ging ich zum Hafen in das Kontor der Stettiner Dampferkompanie, die wöchentlich einen Passagier- und Frachtdienst zwischen St. Petersburg und Stettin betrieb. Dieser Mann hatte sofort Verständnis. Er sagte, ich würde an Deck unter der Persenning schlafen und für die Küche arbeiten. Als er hörte, dass ich eine Frau mitbringen wollte, war der Mann sogar noch mehr geneigt. Auf diesen Schiffen, die vierzig bis fünfzig Passagiere mitnehmen können, ist für Frauen noch leichter Arbeit zu finden.

Ich hatte zwar den Mund zu voll genommen, denn ich brauchte eine ganze Zeit, Margot, die vielleicht lieber in St. Petersburg geblieben wäre, zu überreden mitzukommen. Schließlich fuhren wir los, und nach einer Fahrt von fünf Tagen, während der Margot meist krank war und nicht arbeiten konnte, landeten wir in Stettin.

Selbstverständlich ohne Geld, ohne irgendein Ziel und völlig verlaust; die Persenning muss eine Brutstätte für unförmig große Läuse gewesen sein. Stiegen in einem kleinen Hotel am Hafen ab und bestellten Schnitzel und Bier, ich glaube zwei oder drei Portionen. Auf dem Schiff hatten wir nur von den Abfällen der Mahlzeiten gelebt, die von den Passagieren nicht aufgegessen waren.

Am nächsten Morgen werden wir weitersehen …

Am nächsten Morgen lauerte ich in aller Frühe dem Hausdiener auf, der das Trottoir vor dem Eingang sauber fegte. Ich erzählte ihm meine Geschichte und borgte von ihm eine Mark, womit ich die Kühnheit hatte, an meinen Vater um Reisegeld zu telegrafieren. Die Antwort kam prompt: Wende dich an den Onkel in Bautzen.

Ich musste mich jetzt dem Hotelwirt offenbaren. Dieser nahm seinerseits Verbindung mit Bautzen auf. Ich erhielt auf den Pfennig genau das Fahrgeld für zwei Personen nach Berlin, und der Wirt bekam die bis dahin aufgelaufene Rechnung bezahlt.

Am nächsten Morgen kamen wir in Berlin an. Die Sache sah jetzt sehr ernst aus. Die Lage war kritisch geworden. Margot blieb im Wartesaal des Stettiner Bahnhofs sitzen, und ich machte mich auf den Weg, einen Bekannten aus Breslau aufzusuchen, von dem ich wusste, dass er in einem Atelier in Charlottenburg wohnte. Ich hatte nur den Namen der Straße und daher wenig Hoffnung, den Mann zu finden oder ihn in der Wohnung anzutreffen. Ich sah ihn auf der Straße.

Ich verdanke Josef Grabisch sehr viel. Gute zehn Jahre älter als ich, ist er mir all die Zeit über ein geradezu väterlicher Freund gewesen, der gute Mentor. Nicht weitab von meiner Heimatstadt geboren, hatte er Theologie studiert, war aus dem Priesterseminar nach den ersten Weihen ausgetreten und hat sich als freier Schriftsteller durchgeschlagen. In den Kreisen der verbummelten Studenten in Breslau, und später in der Boheme in München war er der respektierte Gentleman. Er hat ein Buch über Jakob Böhme veröffentlicht, eine Serie mittelalterlicher Mystiker herausgegeben und ist bekannt geworden als Übersetzer von Chesterton. Grabisch hatte zwar in diesem Jahre kaum jemals Geld, das er hätte verborgen können, aber er konnte im Notfall immer aushelfen.

Ich traf diesen Grabisch in Berlin-Charlottenburg, nicht weit von seiner Atelierwohnung, auf der Straße. Er muss sich damals in einer persönlichen Krise befunden haben, denn er reagierte sehr nervös, und offensichtlich kam ich ihm sehr ungelegen. Unter anderen Umständen wäre ich von selbst sogleich wieder verschwunden. So aber … ich blieb ihm auf den Fersen, und man wird mir die Scham angemerkt haben.

Grabisch besorgte für Margot und mich ein kleines Zimmer, in das wir sogleich einziehen konnten, und regelte auch die Frage der Anmeldung; wir zogen dort als Verlobte ein. Ich holte Margot erst spätnachmittags aus dem Wartesaal ab. Ich war durchaus nicht so sicher, dass ich sie dort noch antreffen würde. Außerdem erhielt ich von Grabisch die Adresse einer Firma, bei der ich am nächsten Tage vorsprechen sollte. Grabisch hatte irgendeine lose Verbindung zu der Firma, er würde mit den Leuten vorher telefonieren, wahrscheinlich konnte ich dort unterkommen.

Und damit fing das Leben von Neuem an. Die Firma war der Börsenverlag Ahrends & Mossner, der eine tägliche Korrespondenz Gelb für die Börse herausgab, sowie mehrere wirtschaftliche Fachzeitungen, mehr oder weniger Kopfblätter für Inserate, darunter aber auch die täglich erscheinende Kuxen-Zeitung, ein an und für sich sehr angesehenes Fachblatt für die Kaliindustrie.

Ich wurde bei Ahrends & Mossner sofort engagiert mit einem Monatsgehalt von fünfzig Mark als Volontär und einem ersten Vorschuss von zehn Mark zur Bestreitung einiger notwendiger Einkäufe. Ich kam zur Kuxen-Zeitung, arbeitete aber schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit bereits völlig allein, nachdem der bisherige Redakteur auf einen Redakteursposten wegengagiert worden war. Volontäre und Redakteure wechselten bei Ahrends & Mossner sehr schnell. Zum überwiegenden Teil waren es halb gescheiterte Existenzen, die sich in der Firma wieder aufgefangen hatten. Das machte es mir in späteren Zeiten so verhältnismäßig leicht, immer wieder nach Zeiten des Zusammenbruchs mit einer Handelskorrespondenz auf die Beine zu kommen, denn die meisten der zuständigen Handelsredakteure der großen Blätter waren durch die Schule von Ahrends & Mossner gegangen.

Ich möchte noch hinzufügen, dass ich ohne Hilfe von Ahrends & Mossner in diesem Jahr zugrunde gegangen wäre. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, aus Eigenem wieder hochzukommen. Zu viele Aufgaben um mich herum drängten nach einer Lösung; der Boden war sehr dünn.

Margot hatte angefangen, wieder etwas Geld hinzuzuverdienen als Malermodell, allerhand Zeichner kamen ins Haus für Verabredungen, ein früherer Freund tauchte auf, der sich als Schriftsteller etabliert hatte und für Zeitschriften Artikel anfertigte; ein außerordentlich hochtrabend auftretender Mensch. Margot hatte überallhin wieder Fäden aufgenommen und einen Kreis um sich gesponnen, zu dem ich nicht nur nicht gehörte, sondern auch keinen Zutritt gehabt hätte.

Ich selbst kam beim Verlag gut voran. Ich verdiente nach wenigen Monaten mehr als das Doppelte als am Anfang. Ich hatte mit den anderen Volontären in der Firma guten Kontakt, ich brachte gelegentlich Kollegen mit ins Haus. Wir fuhren sonntags zusammen ins Grüne, die anderen mit ihren Frauen oder Freundinnen.

Genau genommen, ich fühlte mich eigentlich wohl. Ich versuchte, mich der Gesellschaft anzupassen. Ich traf mich mit den gleichen Leuten in der Mittagspause, an der Börse und nach Büroschluss noch zu einem Glas Bier. Ich weiß nicht, wie weit mir die Anpassung gelang. Eins ist sicher: Margot passte da nicht hinein. Sie hat es auch nach anfänglichen Versuchen bald aufgegeben. Sie wurde immer abweisender und blieb abseits. Ich hatte damals manchmal das Gefühl, sie steht wie ein Stock – nur nicht anfassen, dann spritzt sie Gift.

Das war bald soweit. Man kann ständig oder auch nur regelmäßig zu bestimmter Zeit mit einem anderen Menschen zusammensein, ohne dass dabei irgendetwas Besonderes geschieht. Es fällt meist nicht einmal auf im täglichen Ablauf unseres Daseins. Im Allgemeinen wird die Regel stärker als das Bewusstsein. Unmerklich kommt eine gewisse Ordnung hinein, mit dem Blick auf Zweckmäßigkeit, Verpflichtung und der inneren Begrenzung bei sich und dem anderen. Es hält eine gute Weile vor, wenn die Partner sich gegenseitig darauf einstellen, bei vielen sogar für ein ganzes Leben voller Licht und voller Schatten, es geht eben; nicht, dass man nur sagen würde, es muss eben gehen.

Zwischendurch entstehen die Spannungen, Stockungen im Kreislauf der beiderseitigen Beziehungen zueinander, wenn nicht rechtzeitig vorausgefühlt und unvorbereitet oft – Explosionen bis zur Kettenwirkung dieser Explosionen, zu wilder Abneigung und tierischem Hass. Das ist eben so. Die Schriftsteller machen viel zu viel Wesens davon und vor allem viel zu viel Worte.

Jeder Einzelne hat es in der Hand, eine solche Entwicklung abzufangen, zu mildern und es nicht erst zu einer Explosion kommen zu lassen. Das Verständnis hierfür, das gegenseitige Verständnis, die Brücke, die sich so allmählich bildet … das ist, was die Literatur und die geistigen Disziplinen unter Liebe verstehen oder, genauer gesagt, mit Liebe zudecken.

Mit Margot war es anders. Ich sah es sich entwickeln, ich sah das Gewitter heraufziehen, ich verfolgte es mit wachsender Spannung und wusste, die Entladung wird folgen … ich habe sie nicht gerade provoziert, aber auch nicht verhindert. Ich kann nur von mir aus sprechen; wie es auf der anderen Seite ausgesehen hat, weiß ich nicht. Die Entladung kam mit Naturgewalt, der Wille zur Zerstörung, die Lust, auch noch das Letzte in der Bindung auszulöschen, zu zertreten … bei mir war der Höhepunkt der Spannung dann schon vorbei, ich war längst wieder passiv. Und – niemand braucht mir das zu glauben, ich habe darunter entsetzlich gelitten. Dieser wühlende Schmerz ging so tief, dass er mir manchmal den Atem verschlagen hat. An solchen Sonntagen und freien Tagen von der Redaktion, wenn jeder von uns verschiedene Wege ging, ungewiss, ob der eine überhaupt zurückkehren würde, in solchen Stunden und auch Tagen hat sich vieles an Verkrampfung gelöst.

Ich habe erst viel später manchmal geweint, in persönlicher Auswegslosigkeit befangen und unfähig, Unrecht zu ertragen – weit entfernt davon, dass ich mich geniert hätte. Ich habe in diesem Jahr an solchen Tagen nicht gerade geweint, die Tränen mögen nach innen gesickert sein und haben dort Narben hinterlassen, die – würde ich sie heute bloßlegen – noch immer schmerzen. Ich weiß seit dieser Zeit, was es heißt, allein zu sein.

Die Bindung der Geschlechter scheint beim Menschenwesen biologisch darauf gegründet, dass die Partner jeweils von der Lebensenergie des anderen zehren, Stück für Stück aufsaugen und auffressen. Zuletzt – der Dauerhaftere, angefüllt mit der Erinnerungskraft an den anderen, frisst sich selber auf. Dies eben tut – allen Berufswissenschaftlern zum Trotz – weh; es tut sehr weh, wenn der Einzelne einsam wird. Die Panik, allein zu sein – niemand kann dem entgehen, und im Grunde hat auch niemand die Absicht, dem zu entgehen und den zyklischen Ablauf dieses Parasitären ändern oder verbessern zu wollen. Es wird später notwendig sein, diese Beobachtung auf das gesellschaftliche Zusammenleben allgemein zu erweitern.

Grabisch hatte sich die Idee in den Kopf gesetzt, Margot und ich sollten heiraten. Wir heirateten. Grabisch brachte noch einen zweiten Zeugen. An dem Termin, an dem wir vor dem Standesamt erscheinen sollten, war ich so stark betrunken, dass sich die Zeugen weigerten, mit mir aufzutreten. Die Zeremonie musste einige Wochen auf einen neuen Termin verschoben werden. An diesem Tage hatten wir alle zusammen so wenig Geld, dass wir nicht, wie vorgesehen, in eine Kneipe für den feierlichen Umtrunk gehen konnten.

Ich war bereits wieder arg in Schulden, wenngleich diesmal vorsorglich geordneten. Wir hatten eine Neubauwohnung im Hansa-Viertel, Hinterhaus, gemietet. Ich bezog die Einrichtung mit allem Drum und Dran auf Kredit mit Hilfe der Garantie der Firma. Die Firma schrieb sogar an meinen Vater, um ihn zu veranlassen, die Verbindung zu mir wieder herzustellen.

Ich hatte zu dieser Zeit schon meinen eigenen Tisch im Pressezimmer der Börse. Ich war nicht nur ein Informationszentrum für die Handelsredakteure und Korrespondenten, sondern auch für Makler, die mich mit einem sicheren Tipp mit einsteigen ließen. Das hätte sich groß entwickeln können …

Ich hatte bereits Angebote von großen Tageszeitungen, nach Hamburg, nach Essen …

Ahrends & Mossner wollten mich gegen eine geringe Beteiligung in das Verlagsgeschäft ihrer Börsenhandbücher bringen, um mich irgendwie enger an die Firma zu binden. Der Vater sollte die Beteiligung vorschießen …

Ich führte bereits das Leben eines avancierten Verlagsangestellten, eines Redakteurs, eines zukünftigen Börsenmannes; noch ein paar Jahre und …

Ein Sohn wurde in die Ehe geboren.

Manchmal kam ich abends nicht zur Zeit nach Hause, das Abendessen wurde kalt. Ich war in einer Wettgemeinschaft mit den Setzern der Verlagsdruckerei, wir wetteten in französischen Rennen auf Pferde, die wir meist dem Namen nach nicht einmal kannten. Ein Experte, der Faktor in der Druckerei, besorgte das für uns. Wir gewannen und verloren. Manchmal gewannen wir etwas mehr, und das wurde in einer Kneipe am Bahnhof Börse gefeiert; dort trafen wir uns auch sonst abends auf ein Glas. Es kam nicht oft vor, aber es kam vor, dass ich dann abends spät zu Hause erschien.

An einem solchen Abend, wir saßen im Nebenzimmer der Kneipe um einen runden Tisch, gesprächig, laut und lärmend und auch sonst guter Dinge, da stand plötzlich Margot in der Tür, hochrotes Gesicht, wie eine Furie anzusehen.

Sie kam durch die lähmend gewordene Stille auf mich zu und schlug mir die Hand ins Gesicht, rechts und links.

Der Weg nach unten

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