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In Neiße hat es angefangen

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Die Erinnerung ist das, was sich abgesetzt und bereits eingefressen hat, die ganzen Jahre über mitgewachsen und eingekerbt, Jahresringe. Vergangenheit allein verliert an Interesse, zumal es sich nicht vermeiden lässt, dass sie zumeist irreführend akzentuiert wird. Das zeigt sich in besonders eindringlicher Form in der Geschichte der Menschen als einer der bekannteren Lebensstufen unter tausend ähnlichen Entwicklungsphasen. Jeder weiß, wie verwirrend das sein kann, denn der Mensch steht nicht an der Spitze der Lebewesen.

Was zählt, ist das, was – wenngleich noch so entfernt – Gegenwart geblieben ist. Was sich in eine neue Gegenwart zurückrufen lässt, bunter und ständigem Wechsel unterworfen. Das was missverstanden worden ist oder überhaupt nicht verstanden. Das was so wehgetan hat und jetzt plötzlich explodiert in einer Hochspannung von Glück. Eine neue Gegenwart, tiefer verwurzelt in der Vorstellungswelt alles Lebenden, die in unser Dasein hinein die Zukunft spiegelt.

Ich meine diese Gegenwart, die ich vielleicht zurückzurufen in der Lage bin.

Es wird noch im ersten Lebensjahr gewesen sein, in dem schmalen Frontzimmer mit dem einen Fenster, allgemein Berliner Zimmer genannt. Längs der rechten Wand war die Krippe aufgestellt, das schmale Bett, das vielleicht schon etwas größer gewesen sein mag als die Krippe, und an der gegenüberliegenden Wand über dem Sofa mit dem Tisch davor, an dem in den späteren Jahren die Mahlzeiten eingenommen wurden … an dieser Wand hing das Bild, das eine Landschaft darstellen sollte, sicherlich ein billiger Kunstdruck. Dieses Bild hat sich mir tief eingeprägt. Die Farben, die Umrisse, die Figuren … sind schärfer geworden, von Jahr zu Jahr, leuchtender und zwingender. Es wäre vergeblich, dem entfliehen zu wollen oder zu vergessen; die neue Gegenwart holt den Zögernden ein.

Ich weiß heute, wenn ich noch einmal das Bild im Glanz der Breite und Tiefenperspektive ganz in mich aufnehmen werde, so wird dies bei vollem Bewusstsein der letzte Anblick meines Lebens sein. Ich gestehe, dass ich einer solchen Möglichkeit oft genug ausgewichen bin. Ich hätte diese Landschaft sehen können in den Fjorden im nördlichen Norwegen, an der italienischen und französischen Riviera, auch bei Loctudy in der Bretagne, besonders aber an den oberitalienischen Seen und im Tessin … eine Landzunge, die sich in eine Bucht vorschiebt, der breite Horizont als Hintergrund, See im Rückspiegel des Lichts, die Sonne wird hinter den Bergen stehen. Schon mehr nach dem Vordergrund zu Tupfen von weißen Wolken im Blau.

Von der Landzunge steigt nach rechts ein Weg auf zu einer Anhöhe, anschließend eine Welle von Hügeln, die Bucht abzuschließen. Oben wird der Weg weitergehen, an einer Reihe von kleinen Häusern entlang, ausgerichtet in Linie, die Fronten weiß, die Dächer flach mit rotem und blauem Rand.

Es wird an einem Feiertag gewesen sein, an einem Sonntagvormittag, frischer Glanz ist noch ringsum. Aus einem Einschnitt hinter der Landzunge ist ein langes Boot in die Bucht hinausgefahren. Man sieht, wie es eben die Spitze der Landzunge umfahren hat und jetzt in der freien See aufzukreuzen beginnt. Geputzte Menschen sitzen in dem Boot, stehen und schwenken die Hüte und Tücher. Es ist Musik im Boot, Geigen – Guitarren – Blasinstrumente, man sieht das nicht, ich erinnere mich nicht … aber sie singen, die Gäste, die Ausflügler; das weiß ich.

Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass ich die längste Zeit Umwege gemacht habe, diese Landschaft zu meiden, oder wenn ich schon davor gestanden bin, die Augen fest zu schließen. Das sind die Missverständnisse. Das Bild ist längst nach innen geschlagen, Teil einer Lebensfunktion, die nicht einmal mehr besonders interessiert. Ich muss sowieso damit fertig werden, wenn es so weit sein wird. Es liegt mir außerdem nicht. Ich liebe die Leere und die Weite, wo man nicht mehr über die Menschen, sondern über Dämonen stolpern wird. Ich liebe die Wüste, die Dürre, das Aufbäumen vor dem letzten Atemzug, die Revolte in der Wurzel, deren Stauden und Blätter oben bereits abgestorben sind. Und ich liebe die großen tiefen Wälder, in deren Dunkel ich mich verlieren will.

Mit dem Bild eng verbunden ist der große Mann, der sich über das Bett beugt und zu mir gesprochen hat. Ich sehe noch den Helm und den Flitter des Waffenrocks. Das ist der Mann, der bei den Eltern gewohnt hat und den ich Onkel genannt habe. Er ist damals zu einer der gelegentlichen Reserveübungen eingezogen gewesen; später habe ich ihn niemals mehr in Uniform gesehen. Damals muss eine Katastrophe eingetreten sein, so gingen jedenfalls später vage Gerüchte innerhalb der Verwandtschaft; die Eltern hätten sowieso nicht zu mir darüber gesprochen. Der Onkel hatte seine Berufsaussichten verloren und blieb in einer untergeordneten Stellung beim Landratsamt – so habe ich ihn kennengelernt. In dieser ersten Erinnerung hat mich die Uniform keineswegs erschreckt, und der Helm … der hatte etwas Leuchtendes um sich.

In welcher Verbindung der Onkel zu den Eltern stand, habe ich nicht erfahren und auch niemals danach gefragt. Es herrschte da eine Atmosphäre, die dergleichen einfach von selbst verbot. Es müssen gemeinsame Interessen gewesen sein, die den Onkel mit den Eltern, vor allem mit dem Vater verbanden; er schien studiert zu haben, war sehr musikalisch, mit einer ausgebildeten Tenorstimme und hatte sehr weitgehende allgemeine philosophische und selbst politische Ansichten, die den Vater interessiert hatten. Zu meiner Zeit bestand zwischen ihm und dem Vater keine Verbindung mehr. Ich könnte beinahe sagen, dass die beiden überhaupt nicht miteinander gesprochen haben. Mit der Mutter nur insoweit, dass beide sich über die wöchentlichen Abrechnungen für den Haushalt zu unterhalten pflegten und dabei auch zumeist über irgendwelche Sonderzuschüsse, die immer scheint’s gebilligt worden sind; Streit darüber gab es nie.

Der Onkel wohnte im Oberstock des Hauses. Später hatten meine Schwester und ich dort auch ein Zimmer. In dem Berliner Zimmer, an das ich mich so deutlich erinnere, saß ich mit dem Onkel zum Mittagessen allein, meist eine Stunde später als die Übrigen; ich kam zur gleichen Zeit aus der Schule wie der Onkel aus dem Büro.

Abends wurde es nicht mehr so genau genommen. Der Onkel kam sowieso später zu Tisch, weil er meist über die Zeit mit Freunden Billard spielte. Der Vater war schon wieder unten in der Werkstatt. Der Onkel half mir dann später bei den Schularbeiten und hörte ab, was ich etwa auswendig zu lernen hatte. Zu dieser Zeit war er nicht viel mehr, als was man einen möblierten Herrn zu nennen pflegte, mit Familienanschluss. Ich bin nicht neugierig gewesen, aber ich muss die ganzen Jahre eine Unterströmung gefühlt haben, die dem widersprochen hat. Es gehört zu den entscheidenden Phasen dieser Kindheitsjahre, dass ich in ständiger Angst war, der Onkel könnte sich mit den Eltern entzweien; es wäre eine unausdenkbare Katastrophe gewesen. –

Ich möchte das noch klarer ausdrücken: Ich bin völlig von dem Onkel abhängig gewesen, in allen meinen tastenden Bemühungen, in die Umwelt hineinzuwachsen, in den ersten Regungen, mich auf eigene Füße zu stellen. Übertreibung zu sagen, ich hätte ihn geliebt als Fünfjähriger, als Zehnjähriger, wie einen Vater, einen Bruder oder einen Onkel. Es war trotzdem mehr – er war meine Zuflucht, mein Schutz, mein Halt … so zu sprechen, obwohl ich nie gezwungen gewesen bin, diesen Schutz in Anspruch zu nehmen. Ich wuchs auf mit dem Onkel, bei dem Onkel und durch den Onkel, keineswegs etwa im Gegensatz zu den Eltern, obwohl mir das niemand glauben wird; aber es war eben so. Ich hätte nicht dies oder jenes tun können, was die Eltern verboten hatten und was der Onkel sicherlich geduldet hätte – er griff niemals in solche Entwicklungsschwankungen eines Kindes ein. Ich konnte zu ihm laufen, ich konnte ihn um etwas bitten – was ich selten genug getan habe –, Geld für Kuchenabfälle, Bruchschokolade, selbst für eine Schachtel Bleisoldaten oder gar ein Buch konnte ich mir anderweitig beschaffen, im schlimmsten Falle bei dringendem Notstand habe ich es aus der Ladenkasse genommen.

Ich zitterte für den Onkel, wenn er, was später öfter vorkam, abends überhaupt nicht zum Essen erschien, weil dann die Mutter ihm Vorwürfe machte.

Und bei alledem haben wir eigentlich wenig gesprochen, der Onkel und ich, keine Belehrungen, keine Erzählungen von seinen vielen Reisen, nichts, was eine direkte persönliche Verbindung geschaffen hätte, an die man sich klammem kann, wenn sie für die Dauer gegenwärtig bleibt, wie etwa die Beziehung zum Vater.

Ich bin sehr oft mit dem Onkel sonntags ins Gebirge gefahren. Wir sind gelaufen und gestiegen und gewandert; gesprochen wurde nicht viel, aber es ist großartig gewesen. Später nahm er meist auf seinen Fahrten die Freunde, mit denen er im Stadtcafé Billard zu spielen pflegte, mit. Ich war nur noch selten dabei; ich kannte die Leute nicht; ich mochte sie auch nicht Auf einer dieser Fahrten ist der Onkel dann verunglückt. In eine Lawine geraten, Rippen gebrochen und innere Verletzungen; die Begleiter wurden als Tote geborgen. Für einige Tage war das sehr aufregend. Schließlich verlor ich aber jedes Interesse, scheint’s – die Zeit geht weiter, immer geht die Zeit weiter.

Einige Monate später ist der Onkel gestorben, in einem Sanatorium in Zuckmantel, im Österreichischen, mit dem Fahrrad eine gute Stunde von Neiße. Ich habe ihn dort einmal besucht, Routine – ich denke, meine Eltern werden mich geschickt haben. Vom Krankenzimmer sah man durch ein breites Fenster auf die Berge – die Koppen des Altvater-Gebirges zum Greifen nahe. Der Onkel konnte das vom Bett aus sehen. Ich stand die ganze Zeit am Fenster … dorthin werde ich gehen, immerzu und ein ganzes Leben lang wandern, die Bergwege hinauf und hinunter. An den bevorstehenden Tod des Kranken, den zu besuchen ich gekommen war, habe ich dabei weniger gedacht. Es ist der Onkel, der mich auf den Weg bringen wird. Wir gehen zusammen, ich werde folgen mit kürzeren und schnellen Schritten, dem weitausholend Voranschreitenden, wie es eben immer so gewesen ist. Ich bin in diesem Krankenzimmer sehr traurig gewesen, aber nicht eigentlich unglücklich.

Später, solange ich noch in Neiße die Schule besuchte, fuhr ich die Ferien über in die Berge, allein und ohne bestimmtes Ziel, die große Kammwanderung bis ins Riesengebirge und in die Lausitzer Berge. Entfernungen haben mir nichts ausgemacht. Ich habe die Herbergen gemieden und den verlassenen Unterstand eines Grenzwächters vorgezogen, um die Nacht dort zu verbringen. Oft habe ich einfach vergessen, in die Gebirgsbauden einzukehren, Milch und Brot zu kaufen. Ich habe von Beeren gelebt und Tannennadeln gekaut und bin einige Male erschöpft am Wegrande liegen geblieben, dann aufgegriffen worden und zur nächsten Hütte geschleppt. Ich hätte das alles nicht erklären können, denn ich hatte Geld genug, wie es sich gehört, in den Herbergen zu übernachten und mich satt zu essen. Ich habe kaum darüber nachgedacht, keine Probleme gewälzt, keine Phantasieschlösser gebaut. Um die Heinzelmännchen habe ich mich nicht gekümmert und bin sicherlich an den Feen des Waldes achtlos vorübergegangen. Ich bin allein mit mir gewesen, ich hätte nichts zu sagen gehabt, und niemand hat mit mir gesprochen. Es war herrlich. Es war eine gute Zeit, war es die beste meines Lebens? … besonders, wenn oben auf dem Kamm die Nebelschwaden mich eingeholt hatten. So wird es noch einmal sein. So wird es dann sein … der Onkel ist vergessen, und ich weiß noch kaum etwas von ihm. Aber damals ist er mit mir gewandert, ich weiß das jetzt, und ich weiß auch, dass er wieder bei mir sein wird, in der Nähe, wenn die Zeit reif ist.

Ich habe keine derart gleichbleibende Erinnerungen an die Eltern zurückbehalten, zwar eine Fülle von Einzelheiten, manche davon schwerwiegend genug, dass es mir manchmal den Atem verschlägt, aber in Wirklichkeit lösen sie sich wieder auf. Ich habe die Eltern nicht verstanden.

Im Verhältnis zu heranwachsenden Kindern wirkt sich das verschieden aus. Meine um zehn Jahre ältere Schwester, die im gleichen Jahr wie der Onkel einige Monate später gestorben ist, hat es erfahren müssen. Ich war damals schon erwachsen genug für eine allerdings noch reichlich unbeteiligte Beobachtung.

Für die Eltern ist das Kind Teil der Familie, es gehört zum lebensumspannenden Haushalt, ein Stück, das man hier und da hinstellen kann und entsprechend dirigieren, worunter man zum größten Teil die Erziehung versteht; selbstverständlich nur zum Besten, zum Schutz des Kindes, zur besseren Vorbereitung für das spätere Leben. Ich sage das hier durchaus ohne jede Spitze und ohne jede Spur von Ironie. Dass ein Kind darunter leidet, dass es ständig gefoltert und bis in die Wurzeln der Lebensentfaltung getroffen und gestört wird, und dass schließlich das Kind in der Schwäche, die dem Unverstandensein folgt, in der Kälte und Verlogenheit der gesellschaftlichen Bindungen ringsum und in der Not der Verzweiflung, nicht länger selbst zu sein, in den Schoß der Familie flieht, den Kopf wieder an die Brust der Mutter legt … dass es sich ein Leben lang dann für die Schwäche rächen wird und an allem, was die Familie später ersetzen soll … das ist so. Ich habe es noch verhältnismäßig unberührt und nur wenig beteiligt miterlebt. Die Katastrophe rollte für mich ab wie ein gestelltes Schauspiel.

Die Schwester, bevor sie starb, hat unter diesem Einfluss der Eltern sehr gelitten. Es wäre zu einer Explosion gekommen, eine Erwartung, die mich überhaupt erst darauf aufmerksam machte, wäre die Schwester nicht plötzlich erkrankt. Ich weiß heute noch nicht, worin ihre Krankheit bestanden hat, die Symptome wechselten mit den Ärzten, die der Reihe nach hinzugezogen wurden. Sie starb im Alter von dreiundzwanzig Jahren, bis dahin blühend wie das Leben. Wenn damals noch irgendwelche Konfliktstoffe vorhanden gewesen sind, so hatten die Eltern schon vorher nachgegeben. Die verschiedenen Freier, die jeweils abgewiesen worden waren, standen jetzt bereit zur Auswahl. Die Schwester hätte sich einen aussuchen können, und die Verlobung wäre bekanntgegeben worden. Aber die Schwester hatte bereits vorgezogen zu sterben.

Ich konnte das alles beobachten: Die letzten Wochen vor dem Tode wichen die Eltern nicht mehr aus dem Krankenzimmer. Die Schwester hielt sie dort fest. Der Vater, mit dem sonst kaum eine tiefere Bindung bestanden zu haben schien, war der Bevorzugtere. Aber auch die Mutter, die von einem Tage zu dem anderen weniger sprach und mit zusammengebissenen Zähnen am Fußrande des Bettes saß, wurde mit zärtlichen Gesten bedacht, gestreichelt und zu vertraulicher Zwiesprache ermuntert – ich konnte das alles etwas verwundert von einer Ecke des Zimmers aus beobachten, in das ich von Zeit zu Zeit gerufen wurde; das Idealbild einer Familie, die Gott zusammengeführt hat und die er schließlich auch weiterhin zusammenhalten will.

Es ist notwendig, hier zu sagen: es war ein aufregendes Erlebnis für mich, dass die Schwester aus dem Hause kommen würde, so oder so, verheiratet oder tot. Als die Schwester dann starb – starb die Mutter mit, wenn ich das so ausdrücken darf. Die Mutter, die ich so oft erlebt hatte – kritisierend, mäkelnd, verbietend und im Schutz des Vaters intrigierend … die es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, wenn sie die Schwester ins Unrecht setzen konnte. Noch heute steht mir diese Tragödie vor Augen.

Der Schmerz der Mutter hatte kaum mehr die sonst bekannten Züge menschlichen Leids, es lag darin etwas so Gewaltsames, etwas nach außen so Zwingendes, dass darunter alles weitere Leben in diesem Hause erstickte. War das nur eine Art von Schuldgefühl? Ich glaube nicht; aber mehr und etwas anderes weiß ich auch nicht.

Und doch ging der Alltag weiter. Die Mutter hatte sich aus den Trümmern ein Kartenhaus zusammengerichtet, in dem sie sich nach einer bestimmten und sehr begrenzten Ordnung bewegte, ein Tag genau wie der andere; wenig Leute, mit denen sie sprach und mit denen sie über die Straße ging.

Der Vater stand behutsam und helfend zur Seite. Ich gehörte zwar noch hinzu, aber ich zählte in Wirklichkeit schon nicht mehr. Ich stand im Wege. Mit mir konnte man sich nicht beschäftigen, dazu hätte die seelische Kraft nicht ausgereicht. Mir war auch plötzlich die Möglichkeit entzogen, Widerstand zu leisten, zu widersprechen, mich vor mir selbst zu beweisen, aufzuwachsen – wenn es das ist, das den Jungen ins Leben eingleiten lässt. Genau genommen hatte ich auch schon früher nichts getan, was meine Ausschließung gerechtfertigt hätte – jetzt aber wurde ich der Schuldige.

Die Tragödie dieses Jahres traf mich mitten im Entwicklungsprozess des Bewusstwerdens von Charakter und Persönlichkeit; ich war damals vierzehn Jahre alt.

Bin ich auch schon früher im Wege gestanden?

Freunde der Eltern und gleichaltrige Verwandte, die mir die Ehre gegeben haben, auch später noch gelegentlich Verbindungen zu halten, haben mich überzeugt, dass dem nicht so gewesen sein kann. Schon von den frühesten Jahren an soll ich abweisend gewesen sein, scheu gegen Zärtlichkeiten und, wie die Mutter sich zu beklagen pflegte, mit einem bösen Gesicht. Ich weiß nur so viel, dass ich ständig abgeschoben wurde, beiseite gestellt. Dabei empfand ich die Vorwürfe, die Ermahnungen und gelegentlichen Bestrafungen nicht einmal besonders schwer, mehr allerdings, wenn ich das Gefühl hatte, dass dies zu Unrecht geschah, und das schien recht oft der Fall.

Die Schwerpunkte sind nur angedeutet. Was noch im Laufe der Jahrzehnte sich davon niederschlägt, das ist nicht mehr lebendig genug, um die Gegenwart zu erklären. Als in den persönlichen Wirren des ersten Krieges mein eigener Sohn von seiner Mutter bei den Eltern abgesetzt wurde, haben die Eltern alle bisher unfruchtbar gebliebene und unterdrückte Liebe auf dieses Kind übertragen. Die Mutter ist dabei gewillt gewesen, mich ohne Weiteres aufzuopfern – vielleicht war das die einzig mögliche und gerechte Lösung, das Kind zu halten. Fast ein Jahrzehnt ist über diesem Kampf, bei dem keine Mittel gescheut wurden, vorübergegangen. Ich habe gegen besseres Wissen für das Recht einer Mutter auf das eigene Kind gekämpft, obwohl mir bewusst war, dass es bei der Unausgeglichenheit der Mutter, die selbst mit ihrem eigenen Leben nicht fertig werden konnte, zugrunde gehen würde; seine besseren Chancen lagen, die äußeren Verhältnisse nüchtern gesehen, bei den Eltern. Ich wurde, was nicht zu verwundern ist, von der Frau, für die ich mich eingesetzt hatte, im Stich gelassen. Der Junge blieb schließlich bei meinen Eltern und hat mir für diesen Kompromiss keineswegs gedankt – er hasst seine Mutter, ist auch von mir abgerückt und sieht in mir den Fremden, der lästig werden kann, was verständlich ist.

Die Erinnerung an diesen Kampf mit meiner Mutter, der zum Teil über die Gerichte ausgetragen werden musste, lässt eine Zeit wiedererstehen voller Scham und Schrecken. Ich glaube, ich hätte selbst einen Teil dieser fanatischen Liebe für das Kind, auf mich bezogen und verstanden, selbst sehr nötig gehabt. Ich will mich nicht beklagen, aber vieles hätte damals noch geändert werden, das ist: mir erspart bleiben können.

Immerhin ist dies in den Kinderjahren nicht das Entscheidende, was in die Gegenwart gehoben wird. Aus all dem Unrecht, dem Fremdsein und dem Sich-Selbst-Überlassen-Bleiben schält sich trotzdem ein Lebensgefühl heraus, bleibt für sich alleinstehend erhalten, für das wir in unserer armseligen Sprache das Wort Glück zu gebrauchen gewohnt sind. In Kummer, Herzeleid und Unverstandensein schwingt oft die Schaukel nach oben zu jubelnder Freude, die sich einmal entladen wird, wenn die Zeit dazu da ist.

Die Zeit sollte stille stehen.

Die Jahre gehen vorüber und sollten Gegenwart bleiben, mit allem, was drin lebt, zusammen mit den Eltern und selbst der feindlichen Umwelt. Ich sehe es heute, die Jahre sind zu kurz und, genau betrachtet, wachsen wir nur sehr ungern, nein – überhaupt nicht darüber hinaus. Es mag notwendig sein zu betonen, dass ich darin keine Ausnahme bin und kein Sonderfall; es wird bei allen das gleiche sein.

Und: sobald ich im Wege gestanden bin, aufgefallen, dass ich nicht genügend beschäftigt war, mich nicht einfügte – wer weiß, was man erwartet haben mag … ich sollte dann einfach auf die Straße gehen, auf den Marktplatz hinaus. Ich bin um den Ring herum gelaufen, jede Runde immer schneller und schneller, eine Runde um die andere, vor einem imaginären Kreis von Zuschauern, den Leuten von Neiße, die noch einmal stolz darauf sein werden, Zuschauer gewesen zu sein – fühlte ich.

Und: jedes Jahr die großen Überschwemmungen. In den Uferanlagen auf den unteren Promenadenwegen gelbbraune Fluten, allerlei Hausgerät und oft ganze Ställe im Strudel, die Brücken werden nicht halten, das städtische Schwimmbad kracht zusammen, treibt hinaus in die Breite der Neiße, es regnet und regnet. Am Morgen die Enttäuschung, dass es aufhören wird zu regnen, und die tief brennende Glut des Wunsches, dass es niemals aufhören soll – zu regnen.

Und: das große Feuer im städtischen Schlachthof.

Die Fackelzüge der Schützengilde. Das feierliche Einholen der Fahrer zum sonntäglichen Radrennen, das Rennen selbst mit den Fahrern tief über die Lenkstange gebeugt in den farbigen Trikots. Das jährliche Kinderfest der Schulen, der Ausmarsch mit den vielen Musikkapellen, und zwischen den marschierenden Kolonnen der älteren Klassen, die Kleinen in stolpernden Haufen und die Hosenmätze, die überhaupt noch nicht in die Schule gehen. Die Mütter marschieren nebenher. Wenn einer von den Kleinsten, eine Fahne in der Hand oder die Stange mit dem Lampion, der abends beim Abmarsch in die Stadt angezündet wurde, einer von diesen stehen blieb und aus der Reihe treten wollte und nicht mehr gewillt schien, weiterzugehen und mitzumarschieren, dann wurde er von der Mutter oder der älteren Schwester wieder in die Reihe geschubst; weiter ging’s.

Und der jährliche Fleischerball, wenn die jungen Fleischergesellen mit Musik vorneweg im Wagen zu viert durch die Stadt fuhren, mit Fahnen und Bannern.

Im Berliner Zimmer auf dem Fensterbrett die Bleisoldaten, ganze Armeen in Schlachtordnung, Blockadeflotten auf dem unteren Rahmen des Fensters, wie ich das in der Schule über Salamis gelernt habe und daneben – unentschieden wer siegen und wer besiegt werden wird, beide kommen zurück in die gleiche Schachtel – daneben die Schundromane, die Bettelgräfin und Jack der Bauchaufschlitzer in 101 Heften und die Geheimnisse der Freimaurerei, die mir ein Gehilfe des Vaters zusteckte, dessen Mutter die Kolporteurin war, und mit dem allen eng verbunden die Brote mit Gänsefett und die Schokoladenplätzchen, ohne die man weder Schlachten schlagen noch Bücher lesen kann.

Wenn ich Drachen steigen ließ, sah ich ganze Luftflotten in Linienordnung über die Dächer der Stadt ziehen, obwohl damals das Gebrauchsflugzeug noch nicht erfunden war. Die Phantasie im Leben des Kindes greift voraus als Teil einer kosmischen Energie, die mit der Zeitenfolge nichts gemeinsam hat und deren Erkenntnis und Bewusstwerdung nachhinkt, oft nur zufällig übereinstimmt, meist aber überhaupt nicht oder erst nach Generationen.

So habe ich in vielen technischen Abenteuern mich bewegt, ohne die entsprechenden Bücher gelesen zu haben, Wells und Verne und wie solche Leute alle heißen, hätten mich nur in eine langweilige Wirklichkeit zurückgeführt. Beschäftigt hat mich das Prinzip der automatischen Ansammlung von Energie, das heutige Akzelerationsgesetz, auf dem die Atomforschung beruht. Mich beschäftigten nicht so sehr die Folgen, die Zerstörung, sondern der ständige Zuwachs von Energie, die sich im Leben nicht mehr entladen kann und immer weiter und immer schneller sich umsetzen muss. Das gibt Spielraum der vorausahnenden Bildfolge im eigenen Erleben, mit großen Sensationen und einer tiefen inneren Befriedigung.

Auch die Todesstrahlen waren mir keineswegs unbekannt, die Möglichkeit, durch Konzentration über weite Entfernung das Leben in einem anderen Wesen zu fixieren, aus Umweltsreaktionen zu isolieren und zum Erlöschen zu bringen; den Daumen drauf. Viel hat sich daraus allerdings nicht entwickelt. Die Vorstellung war noch zu schwach, wer in dieser Wirklichkeit ein Fremder und ein Feind ist, und außerdem – gab es damals für mich noch nicht so viele Feinde. Sie sind auch noch nicht so gewaltig in der Überzahl gewesen.

Es ist kaum noch etwas hinzuzufügen, was sich über den normalen Ablauf der Pubertätsjahre hinausheben würde. Einzelheiten, die vielleicht von einer tieferen Nachwirkung gewesen sind, werden sich als Krisenpunkte im späteren Leben widerspiegeln.

Die drei Jahre, die ich nach dem Tode der Schwester noch in Neiße zu bleiben genötigt war, sind ein wüster Trümmerhaufen von Erinnerungen, die alle das Eine gemeinsam haben: Panik, allein zu sein, eine zunehmende Unfähigkeit, sich anzupassen und sich ordnungsgemäß zu bewegen, wie ich die anderen sich täglich bewegen sah. Die Verschlossenheit, sich jemandem zu offenbaren, zu jemandem zu sprechen oder selbst angesprochen zu werden. Zu den großen Irrtümern in der Beobachtung ähnlicher Entwicklungen gehört, darin die Wurzeln einer Revolte zu sehen. Ich würde sagen, es ist eher das angeschlagene Tier, das sich verkriecht und das wütend faucht, wenn jemand sich nähert. Um zu helfen? … unter diesem Begriff sind zu viele sich widersprechende Deutungen im Verhalten der Menschen zueinander enthalten.

Aber von dem abgesehen, ich – der Gekränkte, der Übersehene, hätte den Eltern helfen sollen. Ich weiß, aber ich weiß auch heute noch nicht wie. Die Eltern erwarteten das. Sie werden erst mit Verwunderung und wachsendem Erstaunen, später mit Schmerz und Erbitterung verfolgt haben, wie ich mich zurückzog, mich gegen außen abschirmte, wie ich jede wie immer geartete Verbindung, moralisch und gesellschaftlich, niederriss – unfähig, mich aus dieser inneren Erstarrung zu lösen und unfähig, mich zu erklären. Diese drei letzten Jahre in Neiße waren an der Grenze des Erträglichen. Einen Tag länger noch nach der Abschlussprüfung im Realgymnasium hätte zu einer Explosion geführt, deren Umstände und Folgen sich auszudenken überflüssig ist. Wie eben erwähnt – das Tier, das sich eingekreist fühlt, entdeckt verborgene Kräfte; es geht wild. Nicht mein Trieb zur Gewalt, sondern der Überschwang zum Amok ist hier geboren worden.

Ich bestand diese Abschlussprüfung mit Ach und Krach. Der Schulrat hatte in seiner Schlussansprache mich nicht für reif erklärt, er sei indessen von dem Lehrerkollegium überstimmt worden; der Vater war in diesen Jahren inzwischen in die Stadtverwaltung gewählt worden und leitete das Schuldezernat.

Man lernt in solchen Schulen sowieso viel zu viel. Es wäre mir auch schwergefallen, mich für die einzelnen Stunden vorzubereiten. Wenn ich überhaupt Interessen hatte, so waren sie wesentlich anders gelagert. Man versteht dies leider erst sehr viel später.

Sobald ich mich von Haus freimachen konnte, und das stand völlig in meinem Belieben, ging ich Karten spielen – nicht, dass ich ein besonders eifriger Spieler gewesen wäre, aber es tötet die Zeit. Es wurde jeweils um eine Runde Bier gespielt, sodass ich kräftig mittrinken musste; aber auch an dem Trinken war mir nicht viel gelegen, es gehörte nur dazu. Die Hauptsache wird für mich gewesen sein, dass ich ein Heim hatte, eine Unterkunft, eine Gesellschaft, in die hinein ich wie selbstverständlich gehörte, wo niemand etwas von mir wollte als gerade das, wozu auch die andern gekommen waren – zu spielen und zu trinken. Dabei zuzüglich noch die bittere und zugleich erregende Schwäche … ich sollte gehen … ich komme wieder zu spät … es ist schon lange über die Zeit … das Abendbrot wird schon abgeräumt sein … die Mutter wird verbissen schweigen und mit Blicken strafen … der Vater wird zu einer Versammlung gegangen sein, der häuslichen Atmosphäre zu entfliehen, die sich zusammenballt … ich muss … ich sollte …

Ähnlich die Sonntagnachmittage, wenn ich die Eltern hätte begleiten sollen, die gewohnten Spaziergänge über die Festungswälle. Am Rande der Stadt gab es ein Kaffeehaus von etwas zweifelhaftem Ruf, wohin die Soldaten ihre Mädchen ausführten, ehe sie zum Tanzen gingen. Ich setzte mich dort fest und beschäftigte mich mit einem Spielautomaten. Die Bälle rollen in verschieden bewertete Löcher. Ich spielte stundenlang, allein; die Kartenspieler waren ihrerseits auch sonntags ins Freie gegangen. Ich habe dort gelernt, dass zum Glücksspiel mehr gehört als nur die Leidenschaft der Chance. Die Angst, plötzlich allein gelassen zu werden, nagelt den Spieler an den Tisch.

Inzwischen bin ich dann auch eingeführt worden in den Literaturbetrieb durch Max Herrmann-Neiße, der, einige Jahre älter als ich, bereits in Breslau studierte und auch schon einen Band Gedichte veröffentlicht hatte. Mackes Vater hatte einen Bier-Vertrieb, Vertreter verschiedener Brauereien außerhalb Schlesiens. Für seine Kunden war ein kleiner Probeausschank eingerichtet, der zugleich als Kontor diente. Außer den Bierkutschern, die mit dem Vater Herrmann abzurechnen hatten, kam kaum jemals ein Fremder dorthin. Dort trafen sich Schüler der höheren Klassen zum Kartenspiel. Am zweiten Tisch saß Macke mit seinen Freunden, zu denen ich allmählich zugezogen wurde, und ich wechselte von den Kartenspielern zu den Literaturbeflissenen hin und her.

Wir wussten schon eine ganze Menge von Alfred Kerr, Siegfried Jakobsohn und Samuel Lublinski. Besonders der Letztere hatte es mir angetan durch sein Wort Gemütswucht, womit er naturalistische Dramen wie den „Meister Ölze“ von Johannes Schlaf charakterisierte. Wir stellten in Perspektive die Brüder Hauptmann und Hermann Stehr, Wedekind, Scheerbart und Mombert und selbstverständlich den engeren Stefan-George-Kreis … wir marschierten schon mit, etwas von Hamsun und Przybyszewski noch mit untergemischt. Allerdings habe ich den neuen Kumpanen, alles angehende Philologen, die eines Tages im Deutsch-Unterricht auch die Literaturgeschichte einpauken würden, verschwiegen, dass ich im Geheimen die Klassiker las – nicht gerade Schiller und Goethe, mit Ausnahme vielleicht der „Wahlverwandtschaften“, aber Heine, Jean Paul und Ludwig Tieck, und dass auf dieser Liste weit oben an der Spitze gestanden haben der Eichendorff-Roman „Ahnung und Gegenwart“ und die Novelle von Stifter, „Der Hochwald“. Seltsam genug, das ist auch heute noch so, obwohl ich die Bücher nicht mehr persönlich besitze (ich mag Bücher nicht). Und genauso wie damals in der Bierstube von Herrmann spreche ich auch heute ungern darüber.

Damit, scheint mir, ist alles gesagt, was zu sagen wäre.

Wenn ich trotzdem noch ein paar Einzelheiten als Reflexe nachtrage, so nicht, weil sie sich besonders eindringlich abgesetzt und niedergeschlagen haben, sondern weil sie allen gemeinsam sind; auch denen, die sonst nichts damit anzufangen wissen.

Da sind die Abende im Oktober, wenn in den Kirchen der Segen gebetet wird. Von dem Land draußen, von den Feldern kommt der regenschwere Geruch von Frucht und Dünger, die wenigen Straßenlaternen in den Außenbezirken der Stadt sind in Nebel gehüllt. Es ist Herbst, bald wird Weihnachten sein.

Aus dem Segen strömen die Mädchen der Höheren Töchterschule in größeren Gruppen, bald nur noch zu dreien und zweien und zuletzt, am Ende der Straße, ist nur noch eine, die noch einen langen Weg außerhalb der Stadt hat, die Eltern wohnen in einem Nachbarort. Meist war der Bruder an der Straßenecke, ein Mitschüler aus der Oberklasse, das Mädchen nach Hause zu begleiten. Manchmal ließ es sich einrichten, dass ich die beiden begleitete. Und manchmal war ich allein nur an der Straßenecke, und ich durfte das Mädchen allein begleiten. Ich habe den Vornamen vergessen, aber ich habe noch viele Jahre später jeweils zur Wiederkehr ihres Geburtstages an sie gedacht. Ich wünschte, ich hätte den Vornamen nicht vergessen.

Da war diese Nacht im Stadtpark; es muss im Vorfrühling gewesen sein. Ich hatte mich aus dem Hause geschlichen. Im Park herrschte eine ganz unwirkliche Stille, wie ich sie später oft auf der Bühne eines Theaters wiedergefunden habe, kein Laut, keine Frösche, keine Vögel, kein Fußgänger. Darauf hatte ich gerade gewartet, jemand sollte kommen und mich ansprechen und irgend etwas – ich weiß nicht, ich hätte es nicht ausdrücken können. Ich hatte wahrscheinlich gehört, dass abendlich die Soldaten mit ihren Mädchen in den Park gehen. Die Enttäuschung, diese schreckliche Leere muss es gewesen sein, was die nächtliche Stille so überlaut gemacht hat; sie dröhnte mir noch lange Zeit nachher in den Ohren. Ich saß die längste Zeit auf einer Bank, nichts ereignete sich, absolut nichts. Es wurde sehr kalt, ich ging wieder nach Hause; ich glaube, noch im Dunkeln.

Dabei wird auch der Junge in einer der Unterklassen wieder in Erinnerung gekommen sein. Ich habe diesen Jungen manchmal zwischen den Pausen auf dem Schulhof verstohlen beobachtet. Ich zweifle, ob der Junge das je bemerkt hat. Mir ist noch gegenwärtig die innere Beschwingtheit, mit der ich von der Existenz des Jungen wusste. Er war von schwächlicher Statur, schmächtiges Aussehen, aufgeschossener Körper.

Da war dieser Silvesterball, zu dem ich nachts aus der Wohnung ausgerissen war und wohin ein Bekannter, der die Schule bereits verlassen hatte, mich geschleppt hat. Es wurde die ganze Nacht getanzt, und obwohl ich nicht tanzen gelernt hatte, ging es mit der Polka ganz gut. Das ist so geblieben.

Ich kann auch heute noch nicht tanzen, aber ich tanze Polka, allerdings nur für mich allein, des Nachts manchmal im Zimmer und ein wenig geniert, dass mich jemand beobachten könnte.

Auf diesem Silvesterball hatte ich einige Mädchen kennengelernt, Lehrmädchen in einem Laden am Ring und bei einer Schneiderin. Ich bin auch späterhin noch einige Male mit diesen Mädchen zusammen gewesen und habe sie auf der Straße gegrüßt. Besonders mit der einen hätte sich vielleicht eine engere Freundschaft entwickelt. Sie sagte mir einmal, es würde ihr nichts ausmachen, mit mir in die Berge zu fahren und auf einer Baude zu übernachten – nur müsste sie erst gesund werden. Sie starb bald danach an Tuberkulose.

Ich schritt im Leichenzuge hinter dem Sarge her als Leidtragender. Ich war sehr in Schmerz, und ich glaube, ich habe damals darüber auch ein Gedicht verfasst, das erste dieser Art, dem allerdings kaum noch irgendwelche gefolgt sind: Ich eigne mich nicht zu diesen Sachen. Indessen – ich möchte hier sagen, allzu groß wird der Schmerz nicht gewesen sein. Es war schon vieles darin künstlich hochgetrieben, dramatisch und literarisiert. Mein Umgang mit den Literaturbeflissenen hatte bereits begonnen, Früchte zu tragen.

Da war noch dieser peinliche Nachmittag in der Gastwirtschaft in der Friedrichstadt; ein Ausschank, der ausschließlich von den polnisch sprechenden Soldaten besucht wurde. Ein Bekannter, der sich schon etwas auskannte, er war nach Verlassen der Schule inzwischen Lehrling bei einem Apotheker geworden, hatte mich mitgenommen. In den frühen Nachmittagsstunden war die Gaststube leer, die Kellnerin war frei und servierte im Hinterzimmer. Der Freund kannte sich aus. Als die Reihe an mich gekommen war, die Kellnerin war außerordentlich weithüftig, breite Schultern und ein Gebirge von Brustkorb … sie saß auf meinen Knien, aber ich konnte die ungeheuer schwere Person nicht halten, sie hatte schon die Röcke gehoben und saß mit dem nackten Hintern auf meinen Knien … die Knie konnten das enorme Gewicht nicht halten. Die Figur rutschte mit dem Hintern hinunter auf die Diele unter den Tisch und muss sich dort einen Splitter eingejagt haben. Sie wurde mächtig wütend. Sie konnte auch nicht schnell genug hochkommen und schmiss den ganzen Tisch um, mit den Gläsern Bier und den Zigarettenschalen. Und sie nahm uns am Kragen und schmiss uns raus, mich und den Bekannten, der sich bereits betätigt hatte; direkt hinaus ins Sonnenlicht, auf die Straße in der Friedrichstadt

Schließlich will ich nicht verschweigen jenen Abend – es war kurz vor dem Abitur, dass ich mit einigen Schauspieleleven aus dem Stadttheater gezecht hatte in einem Restaurant, das von den arrivierteren Bürgern frequentiert wurde. Die Kumpane waren in das Theater zurückgegangen, und ich hatte allein weitergetrunken. Später hat mich der Kellner in ein Nebenzimmer gebracht, der wachsenden Empörung der Honoratioren entzogen. Ich lag dort besoffen unter dem Tisch. Jemand wird den Vater herbeigerufen haben. Der Vater musste mich über die Schulter aufladen und nach Hause tragen. Durch die ganze Stadt, unglücklicherweise von einem Ende zum andern; viele Leute noch auf den Straßen. Alkohol war den Eltern besonders verhasst. Diese Nacht muss für den Vater furchtbar gewesen sein, die Scham in den folgenden Wochen … es hätte nicht sein sollen.

Man kann aus all dem leicht verstehen, dass es mir nicht zu schwergefallen ist, die Eltern zu überzeugen, ich müsse zur Vorbereitung meines Rechtsstudiums auf der Universität Leipzig einige Wochen vor dem offiziellen Beginn bereits eintreffen. Ich wurde in die Obhut meines Onkels in Bautzen gegeben, der dort Goldschmied war. Der sollte mir behilflich sein. Der Onkel seinerseits schob mich ohne weitere Förmlichkeiten sogleich nach Leipzig ab.

Der Weg nach unten

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