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Neiße, Oberschlesien

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Die Stadt Neiße im preußischen Oberschlesien ist in ihrer sozialen Struktur, mit der sie in das zwanzigste Jahrhundert übernommen wurde, ein Überbleibsel aus dem Siebenjährigen Krieg. Friedrich, der preußische Soldatenkönig – nach der Historie – hatte für die Feldzüge gegen Kaiserin Maria Theresia ein Etappenlager bestimmt und zur Festung ausgebaut, etwas abseits gelegen von den Durchgangsstraßen durch das Gebirge nach Polen und Böhmen, geschützt in einem Winkel der westlichen Ausläufer der Sudeten. Im Zentrum dieses befestigten Heerlagers lag die Ackerbürgerstadt Neiße, am westlichen Abhang des Altvater-Gebirges in einer Ebene, die sich nach Norden hin zum Odertal ausweitet, Südzipfel jenes Österreich-Schlesiens, das nach den Feldzügen an Preußen abgetreten worden ist. Von dem eigentlichen Sudetenland war Neiße durch die Gebirgskette getrennt, aber nicht vergessen. Ein Waffenlager von beträchtlichem Ausmaß, Verpflegungs- und Ausbildungszentrum einer Armee. So ist es auch in all den Jahrzehnten, ein ganzes Jahrhundert und ein halbes, geblieben.

Früher war Neiße einmal der Sitz eines Bischofs, was der Stadt in der österreichisch-ungarischen Monarchie den Beinamen „das schlesische Rom“ eingetragen hat. Und wie die Chroniken gehen, noch früher saßen Markgrafen in der Stadt, die von diesem Schutzwinkel aus im Bergkessel der Sudeten die Hauptverbindungswege der deutschen Länder nach Ungarn und dem weiteren Südosten beherrschten, die durchreisenden Kaufleute mit Zöllen belegten und, wenn die Gelegenheit sich dazu ergab, ausplünderten. Außer einer Vorliebe für Ungarwein ist in diesem Teile Oberschlesiens und in Neiße nicht viel von dieser Zeit zurückgeblieben.

Dagegen aus der Bistumszeit ein Rathaus im Stil der Spätrenaissance, das in Kunstbüchern abgebildet wird, einige Kirchen aus dem österreichischen Barock, ferner die für diese Zeit typischen Giebelhäuser, die hohen Torbögen und schmiedeeisernen Straßenbrunnen.

Um die Jahrhundertwende kamen bei einer Zivilbevölkerung von rund 25 000 Seelen mehr als ein Drittel dieser Zahl als Militärpersonen hinzu, in Uniform oder sonstwie zur Militärverwaltung gehörig. Außer diesen gab es kaum Fremde in der Stadt. Touristen hatten damals angefangen, Reste des Mittelalters im ursprünglichen Deutschland, im Westen und Südwesten, zu beschreiben und neu zu entdecken. Nach Neiße kamen sie nicht. Zu den Kurorten in den Bergen, diesseits und jenseits der Grenze, den Mineralquellen und Heilanstalten führen die Schnellzüge in direktem Durchgangsverkehr, meist ohne Neiße zu berühren.

Die Reisenden kamen nicht, auch weil der Ruf der Stadt als eines gewaltigen Militärlagers den Besuch nicht gerade anziehend erscheinen ließ. Die Rekruten, die ausgebildet wurden, kamen in der Mehrzahl aus den rein polnischen Dörfern im Osten und aus Elsass-Lothringen, denen preußischer Schliff hier beigebracht werden sollte. Es schien manchmal, als ob der Zivilist auf der Straße sich dessen bewusst sei, dass er eigentlich nur geduldet wurde. Die Leute gingen sehr behutsam und zugleich scheu, und sie verschwanden sehr schnell in den Haustoren, oft wie weggefegt, als hätte sie ein Trompetenstoß getroffen von den Kasematten her.

Es war keine direkte Bedrohung. Die Sonne schien wie überall, und von den Dämmen der Wallgräben konnte man das Blau der Bergkette sehen; aber es lag eine gewisse Eigenart in der Luft. Das war es, was mein Großvater mütterlicherseits nicht ertragen konnte. Er lebte in Breslau und war an der Schlesischen Zeitung beschäftigt. Als er starb, erschien die Zeitung mit einem breiten Trauerrand, das Einzige, was meine Mutter als Erinnerung an ihn aufbewahrt hatte; sie hatte die Zeitung aber nie gelesen, ich übrigens auch nicht. So wusste sie nicht, was er an der Zeitung zu tun gehabt und mit wem er Umgang hatte. Obwohl er ihr zugetan gewesen sein soll, ist er für sie ein völlig Fremder geblieben, den sie nur selten bemerkt hat und nur bei besonderen Gelegenheiten, so zum Beispiel als ihre Geschwister der Reihe nach innerhalb einer Woche an der Cholera starben. An diese Woche erinnerte sich die Mutter und auch an den Großvater, der zu Hause geblieben war. Sonst wird er die Abende mit Freunden verbracht haben. Es wurde davon gesprochen, dass er sich auf der Sternwarte der Universität, in der Freizeit mit Astronomie beschäftigte, eine Wissenschaft, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch als Scharlatanerie angesehen wurde. Auf meine neugierigen Fragen nach dem Großvater – ich habe ihn nie gesehen, er lebte schon damals nicht mehr – hat mir die Mutter keine klaren Antworten geben können, nur dass er sehr eigenartig gewesen sei, sich auch nicht darum gekümmert habe, dass die Kinder lesen und schreiben lernten; die Mutter hat es selbst erst sehr viel später in der Uhrmacherwerkstatt des Vaters nachgeholt.

Dieser eigenartige Herr hat niemals die Eltern in Neiße besucht. Mit seiner Ablehnung auch gegen meinen Vater, dem er es übelnahm, dass dieser sich eine Existenz als Uhrmacher gerade in Neiße zu gründen suchte, hat er die ersten an sich schon schwierigen Ehejahre meiner Eltern sehr belastet. Die Mutter, die Putzmacherin gelernt hatte in einer Stadt, die sich zur Großstadt zu entfalten begann, hasste Neiße sicherlich ebenso sehr wie der Großvater. Sie ist oft, konnte ich noch hören, wochenlang nicht auf die Straße gegangen. Sie hasste dabei mehr noch als die Soldaten die Bauern, und die Bauern waren in der Hauptsache die Kunden des Vaters. In den späteren Jahren hatte die Mutter sich eher daran gewöhnt. Sie hat im Geschäft mitgearbeitet, die Wanduhren repariert und den dort in Jahren angesammelten Dreck weggeschabt; nach dem Abendessen durfte ich mithelfen, bis es Zeit war, schlafen zu gehen.

Der Großvater hingegen lebte seinen Erinnerungen aus dem Revolutionsjahr 1848: Ein Rock – der eine Schoß war vom Säbelstich eines Königshusaren durchbohrt – hing am Ehrenplatz in der Breslauer Wohnung im Wohnzimmer an der Wand über dem Kanapee, darüber war eine Studentenmütze genagelt und darunter zwei Rapiere über Kreuz! Von anderer Seite in der Verwandtschaft habe ich erfahren, dass der Großvater damals auf dem Schlossplatz in Berlin festgenommen und später von der Universität relegiert wurde. Er pflegte in Breslau auf die andere Seite der Straße hinüberzuwechseln, wenn ihm auf seiner Seite eine Militärperson entgegenkam – in Neiße hätte er sich das nicht leisten können, weil unter vier ihm Entgegenkommenden drei Soldaten gewesen wären.

Trotzdem sollte ihm im Leben noch eine große Genugtuung widerfahren. Wahrscheinlich war er seiner eigenen Familie entfremdet. Sie war preußischer Militäradel seit Generationen, Brüder und Vettern sind Offiziere gewesen. Und eines Tages ging die alarmierende Nachricht in die Öffentlichkeit des neuen Deutschen Reiches, dass ein Hauptmann v. Döring, Kommandierender der Schlosswache in Berlin, ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. versucht habe, indem er mit dem gezogenen Degen in der Hand Seiner Majestät den Weg verlegt … entwaffnet und in ein Irrenhaus gesteckt werden konnte … in der Geschichte der erste Attentatsversuch gegen einen preußischen König und Kaiser, der Bruder meines Großvaters! Ich bin sehr stolz darauf gewesen.

Zwischen der Militärstadt, deren ziviles Wohnzentrum ein selbständiger Stadtteil, die Friedrichstadt, war und dem eigentlichen Neiße bestand keine wie immer geartete Verbindung. Die Bürger, das sind die Handwerker, die Kaufleute und die ständig ansteigende Zahl der Rentner aus dem oberschlesischen Industrierevier, die ihre Pension in dem außerhalb der deutschpolnischen Schuldstreitigkeiten gebliebenen Neiße zu verzehren gewillt waren, unterhielten keinen gesellschaftlichen Verkehr zur Friedrichstadt. Dieser Abstand blieb bestehen, weil Neiße von den Gründerjahren nach dem deutsch-französischen Krieg von 70/71 nicht berührt wurde. Die Industrie hatte sich um die Kohlengruben im östlichen Oberschlesien konzentriert.

Die ständige Ausdehnung der militärischen Verwaltung und die zugleich auch enger werdende Bindung zur zivil-staatlichen Administration hatte eine Zwischenschicht entstehen lassen von durchaus selbständigem Charakter: die Beamtenschaft. Sie lebte in einer Art Ghetto, Neubauhäuser längs der Neiße und im südlichen Neustadt-Viertel. Dort setzte die allmähliche Verschmelzung der Schichten ein, vorerst zwischen der zugewanderten zivilen und der militärischen Beamtenschaft. Dem rapiden Ausbau des oberschlesischen Industriereviers waren größere Beamtenkolonien im Wege. So wurden höhere Verwaltungsstellen, Steuer- und Grundstücksämter, besonders die Justiz, nach Neiße abgeschoben. Sie bildeten noch zur Zeit meiner Kindheit gesellschaftlich einen Fremdkörper.

Der preußische höhere Beamte war überwiegend lutherisch. Im katholischen Neiße kam dies einem Verbrechen gleich. Solche Beamtenfamilien wurden behandelt wie Aussätzige. Wir durften als Kinder nicht mit den Kindern dieser Familien spielen. Die Verbindung mit der Militärkaste vollzog sich langsam genug. Die Militärbeamten, obwohl meist im Offiziersrang, wurden von den aktiven Militärs nicht für voll genommen und über die Achsel angesehen; es bestand kaum ein gesellschaftlicher Verkehr. Das schweißte die beiden Beamtenschichten beinahe automatisch zusammen, und es bildete sich allmählich aus dieser Zwischenschicht eine neue Kaste, zu der schließlich auch die jüngeren Militärs gesellschaftlich geladen wurden, die Offiziersanwärter, die sogenannten Avantageurs, die Kadetten der Kriegsakademie und die jungen Lieutenants, soweit sie aus bürgerlichem Hause stammten. Die so entstehende Tendenz zur Auflockerung, zufällig wie sie entstanden sein mag, gab dem gesellschaftlichen Leben in Neiße nach außen hin das Gepräge. Die einzelnen Kasten hatten das Bedürfnis, sich zu beweisen, nach außen hin sich sichtbarer zu machen, als dies vielleicht sonst notwendig gewesen wäre, es entstand beinahe so etwas wie eine gegenseitige Konkurrenz, besonders auf dem Gebiet kultureller Ansprüche und Veranstaltungen. Ich komme sogleich darauf zurück.

Es ist notwendig, diese Bewegung in der Verschiebung der Schichten hier aufzuzeigen, weil sie besonders typisch ist für das Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg. Sie wird meist zu Unrecht von den Geschichtsschreibern übergangen, die in dem gröberen und billiger zu erklärenden Gegensatz zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft steckenbleiben. Den dünnen Zwischenschichten zwischen den Kasten und noch mehr der sich überaus zaghaft entwickelnden neuen Kaste innerhalb der Industriearbeiterschaft in einigen Teilen Deutschlands (die katholischen Arbeitervereine in Oberschlesien ausgenommen) fehlte jede innere Bindung und Tradition. Sie war daher auch unfähig, die kommende soziale Entwicklung, deren Gegensätze sich erst nach dem Kriege schärfer abzeichneten, vorauszusehen oder zu verstehen, noch weniger zu meistern. Neiße war hierin typisch auch für das übrige Preußen, Deutschland zu sagen, wäre eine Übertreibung: Bayern oder Sachsen waren uns so nah oder so fern wie Frankreich oder Spanien, wir lernten nur die Hauptstädte in der Klippschule.

Die Kasten, für sich allein gesehen, sind keine ursprünglichen sozialen Gegensätze gewesen, auch wenn sie eine in sich abgegrenzte andere Lebensform und eine andere Lebenserwartung hatten. Als nach dem Kriege in den ersten Revolutionsjahren die Kastentrennung beseitigt schien – der bereits ein Jahrzehnt früher ausgetragene Kampf gegen das Drei-Klassen-Wahlrecht in Preußen ist im Wesentlichen von den bürgerlichen Schichten gewonnen worden, den kleinen Kaufleuten und Handwerkern – hatten die Arbeiter in Wirklichkeit keine anderen sozialen Forderungen, als sich satt zu essen; das hatten sie aber auch schon früher getan.

Die Arbeiter, sofern sie als Klasse angesprochen werden, sind gegen jede soziale Entwicklung. Das erklärt das völlige Versagen in den Revolutionsjahren. Die Arbeiterschicht beginnt sich bereits als Kaste abzugrenzen in der Gewerkschaftsbewegung, die in den westlichen Ländern und Amerika dabei ist, die gesellschaftliche Struktur zu bestimmen nach Beruf, Vordermann und Führungsanspruch, nach dem Bargeld, was jeder aus der Gesellschaft herauspressen kann, und der Lohntüte.

In Neiße gab es keine Arbeiter. Ich hätte das alles sonst schon früher erkannt und mir die Illusionen, die Verbitterung und den Leerlauf eines langen Lebens sparen können. Aber in Neiße hat es angefangen …

Aus der allgemeinen Unsicherheit in der Festlegung gesellschaftlichen Ansehens und der Stellung innerhalb der Zwischenschichten entstand ein Drang nach Auflockerung, der eine größere kulturelle Aufgeschlossenheit zur Folge hatte. Kultur wäre danach gleichzusetzen mit der Unsicherheit, mit Angst und Unwissen – wie es wohl auch allenthalben in der Geschichte gewesen ist. Letzten Endes kreist die Frage um den Sinn des Lebens und bleibt unbeantwortet; am Rande aber spielt man bereits mit der Frage nach dem Woher und Wohin, der Frage nach dem Warum und Wozu, natürlich noch in der engen Erwartung persönlichen Wohlergehens. Jeder hat einen Teil der Antwort, jeder weiß etwas, und jeder will zu Worte kommen.

Die Entwicklung in Neiße, in die ich hineingewachsen bin, zeigt dies deutlich. Es tat sich kein Widerstand auf, kein Muckertum, was man in einer solch streng katholischen Stadt hätte erwarten können. Zwar gab es keine von oben gesteuerte Ermunterung und keine Snobs, die für irgendwelche kulturellen Ziele etwa Geld geopfert hätten, aber es war eine wohlwollende echte Duldung vorhanden. Trotz der im Verhältnis geringen Bevölkerungszahl besaß Neiße ein das ganze Jahr über spielendes Stadttheater, mit je einer eingeschobenen Saison für Oper und Operette. Es gab künstlerisch geschulte Kirchenchöre, Symphoniekonzerte in einer Sommerreihe und im Winter, und einen ständigen Zustrom von Künstlern und Vortragenden, die in der üblichen Tournee-Route Wien–Breslau–Berlin auch in Neiße zwischengebucht wurden.

Die großen politischen Ereignisse dieser Jahre sind in Neiße kaum beachtet worden. Die Leute vertraten dabei anscheinend die ganz vernünftige Ansicht, dass es auf sie und ihre Meinung sowieso nicht angekommen wäre: Der Burenkrieg und der spanisch-amerikanische Krieg, eine Anzahl Balkan-Kriege, die Eskapaden Kaiser Wilhelms und die Flottenparaden, der Boxeraufstand in China … das deutsche Expeditionskorps wurde in Neiße zusammengestellt und ist hier auch wieder demobilisiert worden. Das hatte zur Folge, dass Neiße mit chinesischen Kunstschätzen überschwemmt wurde. Kunsthändler aus allen Teilen Deutschlands erschienen in Neiße, um noch etwas von der Beute zu erwischen und für billiges Geld einen goldenen Buddha gegen eine silberne Taschenuhr einzutauschen.

Von diesen Begebnissen blieb wenig in Neiße haften.

Weit mehr, dass ein deutschstämmiger Zentrumspfarrer in Gleiwitz den polnischen Abgeordneten Korfanty, der im preußischen Abgeordnetenhaus für den Anschluss Oberschlesiens an Polen sich ausgesprochen hatte, kirchlich getraut hat. Dass bei einer Übung der Pioniere beim Brückenbau über die Neiße ein Dutzend Soldaten ertrunken sind und die Neißer Zeitung den Hauptmann daraufhin einen Soldatenschinder genannt hat, was ebenfalls im Abgeordnetenhaus zur Sprache gekommen ist; der verantwortliche Redakteur wurde zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt. Das war sehr aufregend, denn der Redakteur war ein enger Freund meines Vaters und täglich bei uns im Uhrmacherladen anzutreffen.

Widerstand gegen den Impfzwang und die nachfolgenden Polizeistrafen gegen die Eltern, der Aufmarsch der Naturheilbewegung, Prießnitz auf der einen Seite, Pfarrer Kneipp mit seinen Anhängern auf der andern, der Bau eines offenen Schwimmbades in der Neiße gegen das Verbot des Stadtmagistrats, der Nietzsche-Kult … mein Vater war mit einem Freunde, dem schlesischen Dichter Philo vom Walde, der zugleich mein Klassenlehrer war, nach Weimar gepilgert und hat dort Nietzsche in einem Zimmer am Tisch sitzend sehen können, wie der Vater später erzählte, durch eine breite Glastür von einer Vorhalle aus, nachdem ein Diener das Trinkgeld einkassiert hatte. Die Botschaft des neuen Dramas: Ibsen, Strindberg, Gerhart Hauptmann und der Dichterkreis um Stefan George – wir diskutierten darüber schon als Sekundaner in der Deutsch-Klasse.

Daran hatte einen großen Anteil die Neißer Judenschaft. Eine neutrale, aber sehr solide Brücke zwischen den Kasten, allerdings auch nur eine Kaste für sich. Die Neißer Juden waren Inhaber der großen Warengeschäfte am Ring und repräsentierten für die Stadt das, was man Respektabilität nennt. Sie beeinflussten den Spielplan des Theaters und das Engagement der Akteure, vom Theaterdirektor bis zum kleinsten Schauspieler, garantierten den Kartenvorverkauf für die durchreisenden Künstler und hielten Berliner Zeitungen und führende Zeitschriften im Abonnement. Ich weiß von diesen Familien selbst wenig. Es galt als eine große Ehre, mit ihnen in Verbindung zu stehen, und zwar unterschiedslos für alle drei Kasten. Ich weiß nur von den Söhnen, die studiert und sich in Neiße niedergelassen hatten, Ärzte, Rechtsanwälte oder Apotheker. Ich kannte wiederum nur deren Söhne, die in der gleichen Altersklasse zu den wenigen Freunden gehörten, die ich in Neiße besaß.

Aus der Struktur der Bevölkerungsschichten und ihrer wirtschaftlichen Aufteilung hätte man für die Stadt auf eine gleichmäßige und ruhige Entwicklung zu einem bescheidenen Wohlstand schließen müssen. Das Gegenteil war der Fall. Die Offiziere machten Schulden, die Kriegsschüler, die nicht zurückstehen durften, die höheren Beamten und jedermann, der es seinem gesellschaftlichen Ruf schuldig zu sein glaubte. Diesen Leuten war es unter ihrer Würde, für Waren und Dienste bar zu zahlen. Und: eine Rechnung ins Haus zu schicken, war eine Beleidigung, die den sofortigen Verlust der Kundschaft zur Folge hatte. So gerieten auch die Erstlieferanten in Schulden, die Kaufleute, Delikatessenhändler und Gastwirte, die Schneider und Schuster, Klempner und Tischler, die ihrerseits ihre Lieferanten nicht bezahlen konnten. Nach einiger Zeit, oft nach Monaten, wenn der persönliche Kredit ausgeschöpft war für die Großlieferanten, mussten Rechnungen und Schuldscheine in Bewegung gebracht werden; sie wurden in Wechsel umgesetzt. Das war für den Erstschuldner die letzte Warnung und meist zugleich auch das Ende. Wer die Möglichkeit hatte – die höheren Offiziere, die Senatspräsidenten und sonstige Beamte mit freier Disposition – ließ sich versetzen. In einer neuen Umgebung konnte etwa auf die zukünftige Erbschaft der Ehefrau eine Anleihe aufgenommen werden, die inzwischen lawinenmäßig angestiegene Wechselzinsen so weit deckte, dass Gerichtsverfahren vermieden wurden. Davon hatte aber der Zweitschuldner nichts. Er saß mit gleich hohen Beträgen belastet in Neiße und ging schließlich pleite. Dem jüngeren Offizier, der vielleicht zunächst unter dem Druck der Gerichtsklage Unterschriften gefälscht hatte, blieb nichts übrig, als den bunten Rock auszuziehen oder sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Das geschah nicht selten und wurde sorgsam vertuscht.

Weit entfernt von dem allgemeinen Wohlstand, den die Geschichtsschreiber den Gesellschaftsschichten in Preußen zuzuschreiben pflegen, war das Charakteristische: der faule Geruch des Verfalls, Verwesung und Korruption. Ein Intendanturrat, dessen Tochter ich von fern verehrte, sprang aus einem dieser Neubauhäuser aus dem dritten Stock auf die Straße … meine Mutter hätte gern gesehen, wenn ich das Mädchen geheiratet hätte, sofern ich angesehen genug geworden wäre.

Geldverleiher waren sehr zahlreich; das waren die Leute, die sich auf die Wechselmanipulationen verstanden, fast ausschließlich zugewanderte Rentner aus dem Industrierevier, pensionierte Eisenbahner und Obersteiger, die gekommen waren, sich zur Ruhe zu setzen. Der Schaden, den diese Leute angerichtet haben, muss außerordentlich gewesen sein. Obwohl im Uhrmacherladen des Vaters Abend für Abend davon gesprochen wurde, ist mir das meiste nur sehr oberflächlich in Erinnerung geblieben. Damals war der Vater schon dabei, die Uhrmacherei aufzugeben und mit Gleichgesinnten eine Handwerker- und Hausbesitzer-Genossenschaft zu gründen, in deren Vorstand er später berufen wurde. Ich schrieb, noch in der Prima des Realgymnasiums, nach den Angaben des Vaters eine Broschüre über die zu ergreifenden Maßnahmen im Kampf gegen das Borgunwesen im Handwerk, die in der Schriftenreihe der gewerblichen Genossenschaftsbewegung München-Gladbach erschien. Heute weiß ich nicht mehr, was da im Einzelnen angeregt worden ist.

Es war noch eine andere Gruppe von Geldverleihern vorhanden, aus dem Handwerkerstand selbst hervorgegangen, aus demjenigen Teil, der noch den „goldenen Boden“ hatte, Fleischer und Bäcker, die sich nach wenigen Geschäftsjahren zur Ruhe setzen konnten, zum überwiegenden Teil vom Lande nach der Stadt eingewandert. Sie verborgten Geld aufs Land, an die Bauern. Das Ende war, dass der Bauer alles verlor, Haus und Hof. Solche Leute wurden „Güterschlächter“ genannt. Sie schlachteten aber nicht die Güter, sondern die kleinen Bauernanwesen, die dann zu Gütern zusammengefasst und an Grundstücksmakler im Industrieviertel verkauft wurden, vorerst für landwirtschaftliche Nutzung, in Wirklichkeit aber als stille Reserve für eine spätere Ausdehnung der Zubehörindustrie. Der erste Weltkrieg hat diese Entwicklung unterbrochen.

Mein Großvater väterlicherseits war einem solchen Güterschlächter in die Hände gefallen. Bauer in Seiffersdorf, vielleicht fünfzig Kilometer von Neiße, aber zur nächsten Kreisstadt Grottkau gehörig, mit etwa sechzig Morgen Acker. Als Schulze im Dorf hatte er seinem Nachbar einen Gefälligkeitswechsel unterschrieben. Später zur Schuldenzahlung mit herangezogen, ließ er sich auf Hypothekeneintragung und ähnliches nicht ein, was ihn bis ans Ende des Lebens in Schulden gehalten hätte. Lieber ließ er Hof und Haus versteigern, verlor sein Schulzenamt und ging als Arbeiter in die im Dorf ansässige Zuckerfabrik. Ich bin als Kind mehrmals dort gewesen zu Besuch. Er war mit der Großmutter eingemietet bei einem Häusler und betreute die Bewässerungsrinnen für die Wiesen der Fabrik. Von seinen beiden Söhnen hätte er keine Unterstützung angenommen. Eine Tochter war an den Schlächter im Dorf verheiratet, ein halbes Dutzend Enkelkinder; ich wurde bei der Tante untergebracht und mitbetreut. Mit dem Onkel fuhr ich dann über Land Kälber einkaufen.

Ich erinnere mich an den Großvater, der im Dorf der „polnische Josef“ genannt wurde und damals schon über siebzig Jahre alt war, besonders deswegen, weil er einmal im Jahr zu Ostern nach Neiße kam. Wahrscheinlich einem Gelübde folgend, kam er den langen Weg, nachdem er am Abend des Karfreitags in Seiffersdorf aufgebrochen war, oft noch bei Schnee und Eis barfuß nach Neiße, die Stiefel über den Rücken gehängt. Ich war mit meiner Schwester am Eingang der Bechauer Chaussee nach der Stadt aufgestellt, wo wir ihn erwarteten. Er traf in den frühen Nachmittagsstunden des Samstags ein und wurde von uns nach Hause gebracht, wo sich dann die Familie feierlich zum Essen versammelte.

Er beachtete meine Mutter überhaupt nicht, die Mutter kam auch niemals nach Seiffersdorf. Mit dem Vater sprach er gerade das Notwendigste, sonst blieb er einsilbig und abweisend. Warum er nach Neiße kam und den Vater besuchte, weiß ich nicht – wahrscheinlich ist er mit der Uhrmacherei nicht einverstanden gewesen. Wie ich so hörte, sollten die Söhne Lehrer werden; wenigstens einer, aber dazu reichte das Geld nicht mehr. Der Großvater blieb die Tage über im Haus. Er ging nicht auf die Straße und auch nicht in die Kirche.

Er blieb in einem Winkel sitzen und sah meist starr vor sich hin, ein großer starkknochiger Mann, die schwere Joppe bis zum Hals zugeknöpft. So wird er auf der Wiese gestanden sein, das Wasser fließt über die Rinne. Wie das Wasser, so verrinnt die Zeit, die Hoffnungen und Erwartungen eines Lebens. Das Wasser tropft auch auf die gelben Sumpfdotterblumen und vereinzelte Vergissmeinnicht. Gedanken wird er sich darüber nicht gemacht haben.

Trotz alledem – ich bin in der Welt herumgekommen und könnte eine Reihe von Städten aufzählen, für die es sich verlohnen würde, Erinnerungen zu bewahren an Landschaft und Leute und einige Besonderheiten; im Grunde … Neiße gehört nicht zu diesen Städten. Enge Straßen, die konzentrisch zu einem Marktplatz laufen, dem Ring, Promenaden schon mehr an der Außenseite, ein Damm längs des Neiße-Flusses zwischen den beiden Brücken, die Kette der Sudetenberge bei klarer Sicht und nach Osten und Westen hin Flachland, Wiesen und Äcker. Vorgeschoben der Soldatenstadt nach dem Flachland hin ein Netz von Festungswällen, Wallgräben und Redouten, für Spaziergänger freigegeben, aber nicht zum Spielen für die Kinder – dort blühen im März in großen Büschen die weißen und blauen Veilchen und vorher noch die Schneeglöckchen. Dammwege, die in der Richtung zum Flusswehr, Übungsplatz für das Pionier-Bataillon, in eine Art Stadtwald gelangen. Die Biele, die hier in die Neiße mündet, fließt in mehreren Armen durch das Stadtwäldchen und kanalisiert eine Wiese, auf der im Winter Schlittschuh gelaufen wird.

Es gibt in dieser Landschaft nichts besonders Erinnernswertes … außer einer der mit Kiefern bewachsenen Anhöhen im äußeren Festungsgürtel. Der Kieferduft an heißen Sonnentagen, das Gras und die Feldblumen, kleine blaue Falter und Grashüpfer und die Ameisen im Teppich der Kiefernadeln vom Sommer vorher. Ich brachte dorthin das weiße Kaninchen, das ich die Schulferien über behalten durfte. Sobald die Ferien zu Ende waren, wurde das Kaninchen wieder weggegeben.

Der Weg nach unten

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