Читать книгу Der Weg nach unten - Franz Jung - Страница 12
Der Dichter greift in die Politik
ОглавлениеMein weiteres Verbleiben in München war sinnlos geworden. Das Abenteuer einer asozialen Existenz stumpft sich ab. Es begann das, was für meine Stellung in der Literatur sich so verhängnisvoll auswirken sollte: Ich verlor jegliches Interesse, die Schwierigkeiten zu beseitigen, die der Anerkennung eines jungen Schriftstellers entgegenstehen, das heißt, aus diesen Schwierigkeiten für meine künftigen Arbeiten zu lernen, ja sogar eine begrenzte Anerkennung, begrenzt durch die bestimmte Geisteshaltung einer Schicht, für mich auszunutzen.
Aus Abwehr und Provokation, aber beinahe, wie ich das heute sehe, mehr aus dem Eigensinn der Verschmähung, habe ich mich wieder dem Handelsjournalismus zugewandt. Dieser Wechsel hat sich in den verschiedenen Phasen meines Lebens wiederholt, aus der gleichen Ursache, mit dem gleichen Zweck und dem gleichen negativen Erfolg: Ich glaubte, eine Erleichterung der materiellen Existenz, eine größere Unabhängigkeit zu erkaufen, um in eine desto größere Unruhe und Unausgeglichenheit zu geraten, die sich als Schuldgefühl ins Bewusstsein eingebrannt hat. Ich bin das Kainszeichen des Literaten seit damals nicht mehr losgeworden, immer wieder zur Literatur zurückgekehrt, unter immer erschwerteren Bedingungen und mit Arbeiten, die immer weniger diszipliniert und durchgefeilt waren.
Das sollte sich sogleich in voller Schärfe zeigen in Berlin, wohin ich wieder zurückgekehrt war. Ich hatte die Initiative zu einigen Vorverhandlungen aufgebracht: Ich konnte mit einer etwas losen Bindung bei meiner alten Firma wieder eintreten, ich würde für einige Provinzblätter die Berliner Börsenvertretung übernehmen, die über Ahrends & Mossner abgewickelt wurde. Margot war nun bereit gewesen, sogleich mitzugehen. Ihre Mutter würde kommen und uns die Wirtschaft führen. Das Kind hatte die Mutter inzwischen bei meinen Eltern in Neiße untergebracht.
Wir sind ohne Bedauern von München geschieden. Aber auch die allgemeine Abwanderung von Kunst und Literatur aus München hatte 1913 bereits eingesetzt. Margot konnte den größten Teil der Leute, mit denen sie im Stefanie zusammengesessen hatte, bereits wenige Monate später im Café des Westens am Kurfürstendamm wiedertreffen.
Ich hatte inzwischen ein zweites Buch, „Kameraden“, bei Weißbach in Heidelberg veröffentlicht, um dessen Aufnahme bei der Kritik ich mich wenig gekümmert habe. Immerhin – ich geriet damit in den Kreis um die Zeitschrift „Die Aktion“ und wurde bald deren regelmäßiger Mitarbeiter mit Aufsätzen, meist sozialkritischen Inhalts. Ich erinnere mich eines Appells in Form einer Kurzgeschichte, „Morenga“, zur Rettung der Hereros in Deutsch-Südwestafrika, denen die deutsche Kolonialverwaltung ihre Rinderherden weggenommen hatte, um für ein Dutzend weißer Siedler genügend eigenes Weideland zu sichern. Es war zu einer Revolte gekommen, die von der deutschen Regierung zu einem Kolonialkrieg ausgeweitet wurde, mit einem Expeditionskorps und täglichen Erfolgsbulletins in der Presse. Die Hereros, in der überwiegenden Mehrzahl mit Stöcken bewaffnet, vereinzelt mit einigen englischen Jagdgewehren, hatten keine Chance gegen die deutschen Schnellfeuergeschütze und Maschinengewehre. Die militärischen Operationen beschränkten sich daher auch darauf, die einzelnen Stämme voneinander zu trennen und einzeln in die Wüste abzudrängen, wo sie dann verhungert und verdurstet sind, 40 000 Männer, Frauen und Kinder.
Um Franz Pfemfert, den Herausgeber der „Aktion“, hatte sich ein Kreis von jungen Dichtern gesammelt, der mit Recht als die junge literarische Generation gewertet werden konnte. Wer überhaupt etwas auszusagen hatte, in welcher Form immer, in glatten oder holprigen Versen, es kam auf den Willen zur Aussage an, den inneren Zwang, den dynamischen Druck zur Aussage, hatte Zugang zu der Zeitschrift; er war willkommen.
Dieser zunächst auf die Jugend beschränkte Kreis schien durch nichts aneinander gebunden. Es war auch kein eigentliches Profil vorhanden, das man dieser literarischen Bewegung, sofern eine solche überhaupt vorhanden gewesen ist, hätte zuweisen können. All dies ist später und rückwirkend erfolgt.
Franz Pfemfert brachte diese jungen Dichter, die Neopathetiker, wie Alfred Lichtenstein, Ernst Blaß, van Hoddis und andere, wie Gottfried Benn und Oscar Kanehl, Richard Öhring, in einen Rahmen politischer und sozialkritischer Essays, den Leitartikeln zur sozialen Tagesgeschichte und der Interpretation von Bakunin, Kropotkin und Proudhon. Der Dichter wurde, ob er wollte oder nicht, zur sozialkritischen Analyse erzogen – ganz gleich, dass diese Dichter später im Kriege und nachher wieder ihre verschiedenen Wege gegangen sind.
Erleichtert wurde dieser Erziehungsprozess, wenn man die Entwicklung so nennen darf, durch die Mitarbeit der bereits Arrivierten in der Literatur. Ich glaube, dass es in diesen Jahren kaum einen Schriftsteller von Format und Bedeutung gegeben hat, der nicht stolz darauf gewesen war, in der „Aktion“ zu erscheinen; er war dies schon seinem Prestige schuldig. Dieser Grad von Verschmelzung in einem betont sozialkritischen Rahmen hat die „Aktion“ besonders ausgezeichnet.
Wenn heute die Literaturhistorie diese Jahre und diesen Mitarbeiterkreis als den deutschen Expressionismus in der Literatur bezeichnet, so muss ich sogleich hinzufügen, dass dieser Expressionismus der Protest gewesen ist gegen die Enge der Beobachtung im Naturalismus, eine Art Barriere gegen die Gefahr einer aufkommenden Neo-Romantik, gegen das Epigonenhafte der Neo-Klassik. Das Ursprüngliche und Eigenartige in dieser Zusammensetzung voneinander so verschiedener Faktoren war der Trieb, das Ich in den Mittelpunkt zu stellen gegen die Einwirkungen der Umwelt, die Verteidigung und der Angriff gegen die bestehende Gesellschaftsform. Erst viel später hat die Literaturhistorie die gemeinsame Linie entdeckt in der Sprache, der Ausdrucksform und der Diktion. Auch die Sprache war bereits zu eng geworden, zu sehr erstarrt und eingefroren und nicht mehr dehnbar genug. Den Dichtern selbst ist dies zur Zeit nicht bewusst gewesen. Seltsam, wie unberührt frisch sich die Sprache des Expressionismus erhalten hat. Sie ist zugeschüttet worden durch die beiden Kriege und die jeweiligen Nachwirkungen. Aber sie ist so lebendig geblieben, die Sprache wie die Diktion, dass man jederzeit wieder beginnen könnte, darauf neu aufzubauen. Man sollte diese Entwicklung nicht aus der Fliegenperspektive betrachten, in der sich heute einige ihrer Mitläufer gefallen. Die Perspektive ist weiter: Der Expressionismus war bereits Teil einer revolutionären Bewegung mit sehr starken politischen Akzenten der Sozialkritik.
In dem engeren Kreis um Franz Pfemfert und die Geschwister Ramm war Ludwig Rubiner die überragende Persönlichkeit. Sein Essay „Der Dichter greift in die Politik“ hat genau das getroffen, was wir alle damals gefühlt haben. Zu diesem Kreis gehörte Karl Otten, zeitweise Kurt Hiller, Carl Einstein, Sternheim und Landauer, und als gute Freunde, so zu sprechen, die großen Verleger Fischer, Kurt Wolff und Rowohlt, so seltsam das heute erscheinen mag, weiterhin Alfred Kerr und Maximilian Harden.
Das ist das Phänomen Pfemfert: Wie hat er diese enorme Aufgabe bewältigen können? – und den ganzen Weltkrieg hindurch … Wie sind die Gelder zusammengekommen, die Zeitschrift durchzuhalten? – zu denen dann noch die Kosten des Buchverlags hinzugekommen sind? Zwar zahlte die Aktion keine Honorare, aber das ist nicht das Entscheidende; vielleicht überhaupt nicht das Geld, sondern die Arbeit, der Briefwechsel mit den Autoren und den Hunderten von Leuten aus aller Welt, die technische Redaktionsarbeit der Herausgabe, der Drucklegung und des Versands … für jeden Fachmann gesehen, ein Phänomen.
Pfemfert hat nie irgendwelche Helfer gehabt, abgesehen von Alexandra Ramm, seiner Frau. Er wohnte in der Nassauischen Straße im Wilmersdorfviertel in Berlin in einem Hinterhaus im vierten Stock. Dort war eine Art Arbeitszimmer, und Pfemfert saß hinter einem Tisch vor einem Berg von Briefen und Manuskripten, die Zigarrenkiste mit dem Tabak vor sich, aus der er sich ständig die Zigaretten stopfte. Er war immer zu sprechen und für jeden, von frühmorgens bis spät in die Nacht. Die Tür war für jeden Besucher offen.
Ich will hier nicht verschweigen, dass ich mich in dem Aktionskreis nicht wohl gefühlt habe. Man behandelte mich mit einer an sich freundlichen Distanz. Und obwohl Pfemfert später im Kriege in rascher Folge meine Arbeiten herausgebracht hat, es sind diejenigen Bücher, die vielleicht Anspruch auf bleibenden Wert haben, wenn auch nur charakteristisch für eine eng begrenzte Epoche, so bestand in Wirklichkeit nur eine sehr lose Verbindung zwischen uns. Zu Ludwig Rubiner konnte ich bedauerlicherweise überhaupt keinen Kontakt gewinnen, und mit Carl Einstein werde ich kaum mehr als ein paar Worte gesprochen haben. Ich vermute heute, dass Franz Pfemfert diese meine Arbeiten, die zum größten Teil im Festungsgefängnis Spandau entstanden waren oder kurz nachher, wie die Romane „Sophie“, „Opferung“ und „Der Sprung aus der Welt“, geeignet gefunden haben muss, der Verflachung der Literatur im Kriege entgegenzuwirken – das Einzelschicksal des Menschen, besonders in der Beziehung zur Frau und der Umwelt, lässt den Krieg völlig ignorieren, der Krieg ist nicht viel mehr als ein lästiges und aufdringliches Gerücht –, aber gesprochen hat Pfemfert mit mir darüber nicht. Diese Arbeiten sind sogleich in dem allgemeinen Kriegsrummel mit untergepflügt worden. Sie haben heute einen gewissen Seltenheitswert im Buchhandel für ein paar Dutzend von Literaturbeflissenen, die sich über die Wurzeln des Expressionismus orientieren wollen.
Wenn Pfemfert sich bei der Herausgabe eine breitere Wirkung versprochen hat, so wird die Enttäuschung, die ja auch immer erst einige Jahre nachher ins Bewusstsein rückt, recht bitter gewesen sein.
Meine zwielichtige Stellung als Börsenkorrespondent, meine eigene Unsicherheit, mich entweder von der Börse oder der Literatur zu befreien, und die zur Schau gestellten Provokationen haben meine Eingliederung in den Aktionskreis nicht gerade erleichtert.
In dieses letzte Berliner Jahr vor Ausbruch des ersten Weltkrieges fiel meine Befreiungskampagne für Otto Groß.
Der Vater, ein Universitätsprofessor in Graz, Verfasser des „Handbuches für den Untersuchungsrichter“, ein internationales Standardwerk, hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Sohn wieder auf die bürgerliche Existenz einer Privatdozentur an einer von ihm ausgewählten Universität zurückzuführen; wenn notwendig, mit Gewalt. Über die Vorgeschichte weiß ich wenig. Otto Groß selbst pflegte darüber nur in dem allgemeinen und erweiterten Rahmen des Vater-Sohn-Komplexes zu sprechen. Den letzten Anstoß soll ein Aufsatz gegeben haben, den Groß in einer psychoanalytischen Fachzeitung über den Vater zu veröffentlichen gedachte, ausgehend von einer Analyse des Sadismus in der gesellschaftlichen Funktion eines Untersuchungsrichters mit den Assoziationen zum Vater, der dieses Handbuch verfasst hatte, sowie die entsprechenden sadistischen Reflexe in seiner Stellung zur Familie und dem Sohn Otto. Irgendwie ist dieses Manuskript schon vor der Drucklegung in die Hände des Vaters gefallen oder diesem in die Hand gespielt worden – das war die Version von Otto Groß, der auch einen bestimmten Verdacht auf Personen aus seiner nächsten Umgebung hatte.
Aus dem latenten Unterton von gegenseitiger Abneigung entstand so der völlige Bruch. Der Vater Groß hatte vielleicht nur auf einen Anlass dieser Art gewartet. Er schlug zu mit der Autorität, die einem berühmten Professor der Rechtswissenschaften zur Verfügung steht, mit der Absicht, den Sohn dieses Mal endgültig zu vernichten. Vorher hatte sich der Vater von einem andern abgefallenen Freud-Schüler, dem Züricher C. G. Jung, ein Gutachten bestellt, worin dieser Jung seinen Kollegen Otto Groß als einen gefährlichen Psychopathen charakterisiert haben soll.
Gestützt auf dieses Gutachten hatte der Grazer Professor die Berliner Polizeibehörden ersucht, Otto Groß festzunehmen und an die österreichische Grenze zu bringen, wo er von den vom Vater mobilisierten Schergen in Empfang genommen werden sollte.
Otto Groß war kurz vorher nach Berlin gekommen, um sich eine neue Existenz aufzubauen, nachdem er auf eine geldliche Unterstützung durch die Familie nicht mehr rechnen konnte. Er hat bei uns gewohnt, und Margot und deren Mutter, die den Haushalt führte, haben ihn betreut.
Er wurde auch in meiner Wohnung verhaftet.
Ich hatte bisher den Auseinandersetzungen mit dem Vater und der Familie nicht allzu viel Aufmerksamkeit gewidmet. Mir hatte vorgeschwebt, Otto Groß selbst zunächst auf die Beine zu stellen, ihm eine Praxis aufbauen zu helfen und ihn zu wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen, wofür sich ein Verleger bereits gefunden hatte. Auch die „Aktion“ brachte mehrere Aufsätze, die Groß in der Wohnung Pfemferts geschrieben hatte. Es schien auch langsam wieder bergauf zu gehen, es kamen neue Freunde. Überwunden werden mussten die tiefen Depressionen, in die Groß von Zeit zu Zeit noch verfiel. Dazu war mitfühlendes Verständnis notwendig, Hilfsbereitschaft und eine große Geduld – überraschend viele aus dem Aktions-Kreis, auch bisher sonst Fernstehende, waren dazu bereit.
Der Vorstoß des Vaters hat mich allerdings noch in ganz anderer Weise alarmiert. Um dem Ersuchen um Ausweisung bei der Berliner Polizei noch größeren Nachdruck zu geben, hatte der Grazer Professor angegeben, dass sein Sohn in die Hände von gefährlichen anarchistischen Elementen gefallen sei, vermutlich eine Erpresserbande, die frühere Untersuchungen des Otto Groß über Homosexualität ausnützen werden, ihn – den Vater – zu erpressen.
Ich erwähne das alles etwas ausführlicher in diesen Aufzeichnungen, weil ich damals noch fähig gewesen bin, zu einem Gegenschlag auszuholen; auch unter Anwendung jedes möglichen und geeignet erscheinenden Mittels. Allein diese Tatsache hat mir eine größere Selbstsicherheit gegeben, die noch lange Zeit nachher vorgehalten hat – insofern kann man diese Kampagne als einen Wendepunkt bezeichnen, der die nachfolgenden Jahre entscheidend mitbeeinflusst hat.
Das von dem Vater eingeschlagene Verfahren bot eine gute Angriffsfläche – das Ansuchen um Ausweisung stellte eine ungehörige Beeinflussung der Polizeibehörde eines anderen Landes dar, die ihrerseits an eine bestimmte Prozedur, die einer solchen Ausweisung vorangehen muss, gesetzlich gebunden ist. Der Professor glaubte dies, auf seine Autorität gestützt, ignorieren zu dürfen. Die preußischen Polizeibehörden haben ihm in seiner Annahme recht gegeben. Damit rückte der Fall bereits auf zu einer Kernfrage der Innenpolitik: Welches Recht haben die Ausländer in Preußen-Deutschland überhaupt? Hinzu kam noch, dass die Verdächtigungen, die der Professor benutzt hatte, nur sehr vage waren. Er hatte sich auch nicht einmal die Mühe genommen, zum Mindesten durch eine Geste, sie beweisen zu wollen.
Mit der Diversion auf das innenpolitische Gebiet und die Rechtsbeziehungen zwischen Österreich und Preußen hatte ich die Leitartikler der großen bürgerlichen Blätter gewonnen, die sich sogleich des Falles annahmen. Wie ein Schneeball rollte die Kampagne weiter auf die Zeitschriften, für die zusätzlich das Vater-Sohn-Verhältnis in den Vordergrund gestellt wurde, den privaten Konflikt innerhalb einer Familienbindung unter Anrufung der staatlichen Polizeiapparate lösen zu wollen; der Hinweis auf die Psychoanalyse, die soeben erst gesellschaftsfähig geworden war, goss Öl ins Feuer.
Allenthalben wurde der Professor Groß als ein Typ hingestellt, dessen Behandlung durch einen Psychiater im Interesse der allgemeinen Sicherheit als notwendiger erachtet wurde, als für den Sohn; Otto Groß war inzwischen in die Landesirrenanstalt Troppau eingeliefert worden mit dem Aktenzeichen: unheilbar geisteskrank.
Ich selbst hatte mir von Johannes R. Becher die Zeitschrift „Revolution“ ausgeborgt, die dieser in München zusammen mit Bachmair herausgab. Ich füllte die Zeitschrift mit Zuschriften und Beiträgen von Dichtern und Schriftstellern aus aller Welt für das Recht des individuellen Erlebens gegen den gefährlichen Starrsinn väterlicher Autorität. Dem Professor wurde die Fähigkeit abgesprochen zu lehren, ein Amt zu bekleiden – eine internationale Schande für die Rechtswissenschaft. Zu Studentendemonstrationen an den österreichischen Universitäten wurde aufgerufen. Nicht genug damit: Ich hatte aus dem Grazer Adressbuch Hunderte von Adressen herausgeschrieben, die Caféhäuser in Graz und Wien, die Universitäten, die Büchereien, die Buchhandlungen … ich habe über 1000 Exemplare der „Revolution“ auf diese Weise versandt. Ich war darauf aus, den Professor an seiner eigenen Basis anzugreifen und zu vernichten.
Als auch die Kampagne in der österreichischen Öffentlichkeit aufgegriffen wurde, die Wiener Neue Freie Presse veröffentlichte einen Leitartikel gegen den Professor Groß, gab der Alte klein bei. Es hätte sich um ein Missverständnis gehandelt, ließ er erklären, Otto Groß habe sich freiwillig in die Landesirrenanstalt begeben, um sich einer Entziehungskur zu unterwerfen; er könne jederzeit entlassen werden. Ich wurde telegrafisch von der Anstalt nach Troppau eingeladen. Ich fuhr hin und habe Groß dort abgeholt. Ich bin empfangen worden wie ein inspizierender Minister aus der Wiener Regierung. Otto Groß war inzwischen bereits aus der Kategorie der Unheilbaren zum behandelnden Assistenzarzt in derselben Anstalt aufgerückt.
Ich möchte die Affaire Groß sogleich hiermit abschließen. Unsere Freundschaft ist in den folgenden Kriegsjahren, in denen Groß als Militärarzt eingezogen wurde, an einer Reihe äußerer Umstände verblasst und schließlich ganz zerbrochen.
Für mich bedeutete Otto Groß das Erlebnis einer ersten und tiefen, großen Freundschaft, ich hätte mich ohne zu zögern für ihn aufgeopfert. Dabei stand ich ihm wahrscheinlich äußerlich, genau gesagt, nicht einmal besonders nahe. Es war eine Mischung von Respekt und Glaube, das Bedürfnis zu glauben und zu verehren, aufzunehmen und zu verarbeiten, was er uns ständig einhämmerte. Für Groß selbst war ich vielleicht nicht viel mehr als eine Figur auf dem Schachbrett seiner Gedankenkombinationen, die hin- und hergeschoben werden konnte. Zudem war es an sich schon schwierig, den Gedankengängen zu folgen, besonders in der Form persönlichen Zusammenseins; sie waren überschattet von den äußeren Unzuträglichkeiten, die mit der Abhängigkeit von Opium und Kokain verbunden sind. Es gehörte Phantasie dazu, zu Groß zu stehen. Später ist nicht ohne Bitterkeit ein Schuldgefühl zurückgeblieben, die Erkenntnis, dass es unmöglich geworden war, ihm zu helfen.
Otto Groß ist in den ersten Monaten der Unruhen nach dem ersten Weltkrieg auf der Straße buchstäblich verhungert. Die Freunde können einmal und vielleicht noch ein andermal mit dem Revolver in der Hand Apotheken in der Nacht überfallen und Opium herausholen, aber das kann nicht zur Regel werden. Groß fühlte sich im Stich gelassen, hatte auch keine Kraft mehr, jemanden aufzusuchen und dort wieder für eine Zeit unterzukriechen. Er hatte sich eines Nachts in einen sonst unbenutzten Durchgang zu einem Lagerhaus geschleppt und ist dort liegen geblieben. Er wurde zwei Tage später aufgefunden. Eine Lungenentzündung, verschärft durch völlige Unterernährung, konnte nicht mehr behandelt werden. Er ist den Tag darauf gestorben. Der Stern eines großen Kämpfers gegen die Gesellschaftsordnung – der Stern ist explodiert, erloschen und untergegangen; die Zeit war nicht reif, das Gesindel der Satten noch zu zahlreich. Vorläufig ist der Einzelne noch machtlos gegen sein Verhängnis.
Die Rückkehr zum Handelsjournalismus ist mir nicht so richtig gelungen. Ich konnte mich nicht mehr einfügen. Ich hielt zwar die Verbindungen aufrecht, übernahm gelegentlich Vertretungen, mit denen ich etwas Geld verdiente, aber ich hatte keine festen Bindungen. In Erinnerung ist mir geblieben eine auf sechs Wochen begrenzte Börsenvertretung für die „BZ am Mittag“. Das Blatt erschien an der Börse um 12 Uhr 30 und gab praktisch für den Mann auf der Straße die Börsentendenz an. Um 12 Uhr 30 aber gingen auch die amtlichen Makler in ihre Kojen und stellten die ersten Kurse fest. Ich hatte dagegen einen Setzer im Ullstein-Haus, um schon um 12 Uhr die Kurse von einem Dutzend Papieren in die Maschine zu diktieren sowie die allgemeine Tendenz mit einigen Begründungen – eine gute Schule, Prognosen zu lernen.
Ich schrieb auch einige Monate ein wöchentliches Bulletin für einen sogenannten Bucketshop, das ist ein von England her übernommener Typ von Schwindelfirmen, die an Kunden gegen Depotzahlung Aktien verkaufen, die sie weder besitzen noch überhaupt zu kaufen beabsichtigen. Der Kunde wird durch Telefongespräche und Telegramme meist in der Provinz angelockt zu ständig neuen Spekulationen, mit Versprechungen hingehalten, bis die Depotzahlung nach dem Kurszettel als Verlust aufgerechnet werden kann.
Margot ging ihre eigenen Wege. Wir lebten zusammen, waren auch gelegentlich zusammen zu sehen. Ein völlig Fremder hätte uns aber für Gelegenheitsbekanntschaften gehalten.
Die Prominenz der Branche pumpten wir über das Telefon an: Alfred Kerr, Maximilian Harden, Theodor Wolff, Sammy Fischer und andere. Ich ließ durch einen Partner das Geld abholen. Das spielte sich meist in der Frühe ab, von einer Kneipe aus, wo wir die Nacht durchgesoffen hatten. Ich befand mich nach dem Telefon in einer besonders schwierigen Lage, aus der ich nur durch sofortige Zahlung ausgelöst werden konnte.
Mit diesem Partner verdiente ich Geld im Billard-Spiel. Wir spielten im Café Kerkau an der Friedrichstraße eine Schaupartie für die durchreisenden Provinzler. Der Partner, für den Serien von 80 und 100 nichts Besonderes waren, verlor, ich zog die Gäste aus der Provinz, die uns der Kellner zugetrieben hatte, ins Gespräch und nötigte sie, es mit dem Partner zu versuchen. Zuerst um das Billard-Geld, dann um 5 Mark die Partie und mehr, wenn die Leute erst richtig warm geworden waren. Sie hatten keine Chance zu gewinnen.
Wir spielten in der gleichen Weise Schach in Caféhäusern in Neukölln, allerdings mit einem Verdienst eher nach Pfennigen. Dort lernten wir aber einen Bademeister Bernhard Bode kennen, mit dem wir glaubten, einen neuen Geschäftszweig eröffnen zu können. Bode, bei dem man einen Ring gefunden hatte, der zuvor einer Dame ins Wasser gefallen war, – darauf wurde die Sache gedreht – war als Bademeister entlassen worden und suchte nach einer neuen Beschäftigung. Er hatte angeblich ein Verfahren, durch besondere Kombination von Brustgürteln und in sich gekuppelten Schnallen eine Anzahl vollbesetzter Boote, wie sie in den Ausflüglerlokalen an der Spree vermietet werden, hinter sich herzuziehen – Typ: der lebende Frachtdampfer. Mit dem Mann wäre ein großes Sommergeschäft zu machen gewesen. Wir ließen Plakate drucken: Bernhardi Boddi – der lebende Frachtdampfer, und machten einen Startversuch in einem kleinen Gartenlokal in Weißensee, als zusätzliche Attraktion zu dem sonntäglichen Gartenkonzert, vermieteten sechs Boote zu je acht zahlenden Passagieren und verkauften etwa 100 Eintrittskarten. Die Sache fiel ins Wasser. Bode kam vom Laufsteg nicht los. Ich hörte ihn prusten und gurgeln und stöhnen – es nutzte nichts, er kam nicht los, und die Boote bewegten sich nicht.
Als die Leute anfingen unruhig zu werden und Witze zu reißen, habe ich mich entfernt, der Partner, der am Eingang an der Kasse saß, war schon vorher abgehauen. Der Frachtdampfer wird von den Gästen, deren Enttäuschung und Wut sich gewiss gesteigert hat, später mächtig verprügelt worden sein … wir haben die Neuköllner Caféstuben bisher gemieden, Bode wird eine andere Beschäftigung gefunden haben.
Mein Partner bei diesen Abenteuern war einer der wenigen aus dem Aktionskreis, mit dem ich mich verstanden habe: der Lyriker Richard Öhring. Im Krieg ist auch diese Freundschaft zerbrochen – nicht deswegen, weil zu dieser Zeit Cläre Öhring mich bei sich aufgenommen hatte. Öhring, der wie so viele von uns Schwierigkeiten mit den Einziehungsbehörden hatte, war nach Wien zu Otto Groß gefahren. Von dort ist er nach wenigen Monaten völlig verwandelt zurückgekommen, aggressiv, von einer ihm bisher völlig fremden schneidenden Ironie … es ist nie zu einer Aussprache gekommen, die Frau hat er einfach stehen lassen. Ich war gezwungen, ich musste mich gegen ihn wenden. Was ist das für eine Barriere, die sich plötzlich zwischen zwei Menschen aufrichten kann? Vielleicht haben wir Fehler gemacht, vielleicht ist ein Mensch an irgendeinem Punkte plötzlich zutiefst getroffen. Ich habe solche Situationen selbst erlebt, Teil der Verschmähung … es ist dann unmöglich umzukehren, zurückzuschauen … so ist Richard Öhring aus meinem Leben geschieden. Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen. Als wir uns später in Russland wiederbegegnet sind, kannten wir uns nicht mehr.
Ich musste mich der üblichen Musterung für den Militärdienst unterziehen und wurde für tauglich befunden in der Reserve, die am Tage der Mobilmachung einberufen wird. Offen gestanden, ich habe mir nicht viel dabei gedacht. In einer Isolierzelle hätte ich nicht mehr von den Vorgängen der Politik abgeschlossen sein können. Es gibt Spannungen und Proklamationen und patriotische Aufmärsche – aber was ging das mich an? Wir hatten in München in der Gruppe Tat Leute, die an uns verwiesen wurden und die einem Einberufungsbefehl zum Militärdienst nicht folgen wollten, nach der Schweiz verfrachtet, für gewöhnlich zu den Brüdern Gräser in Ascona, die dann die Leute unterbrachten – aber ein tieferer politischer Sinn steckte nicht dahinter; außerdem wurden diese Leute bei den Gräsers, hieß es, schlecht behandelt, wie Sklaven; sie arbeiteten in den Obstgärten für das tägliche Brot, das heißt unentgeltlich. Es gehörte einfach mit zu unserer Routine. Als ich gemustert wurde, hatte ich die Gräsers schon vergessen.
Mein Bewusstsein war schon stark getrübt – wie man heute sagen würde. Ich fand aber bei allen, mit denen ich in Berührung gekommen bin in diesen Wochen, die gleiche Teilnahmslosigkeit. Mein Interesse war konzentriert auf einen Tipp, den ich dem Börsenvertreter eines Berliner Bankhauses gegeben hatte. Die Berliner Firma Eckert Maschinen hatte einen großen Auftrag in Russland untergebracht, der Kapitalerhöhung und Erweiterung der Produktionsanlagen, voraussichtlich auch die Verschmelzung mit einer anderen Firma der Branche notwendig machen würde. Es war ein goldsicherer Tipp, den ich von dem Aufsichtsratsvorsitzenden der für die Verschmelzung vorgesehenen Firma erhalten hatte, den auch das bereits erwähnte Bankhaus mit zu beteiligen hatte. Man konnte mit einer Marge von etwa 100 Punkten schon im Verlauf weniger Wochen rechnen. Der Vertreter, der in Wirklichkeit das Bankhaus leitete, war auf Ferien in die bayerischen Berge gereist und dirigierte täglich von dort aus die Operationen.
Wir blieben mit der Operation stecken. Trotz ständig steigender Käufe von unserer Seite bewegte sich der Kurs nicht. Dabei war der Tipp absolut sicher. Der Kurs ging sogar herunter. Der Mann in den bayerischen Bergen tobte allnächtlich bei mir am Telefon. Schließlich wurde der Kurs überhaupt gestrichen. Das geschah am Tag der Kriegserklärung. Der Krieg Nr. 1, der erste in der Serie der Weltkriege, hatte begonnen.