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Einleitung „…und wen ich da oben auf dem Felsen fand?“
ОглавлениеViele Personen sind mir auf meinen Reisen begegnet, die einen starken Eindruck hinterlassen haben, wenige dagegen, bei denen dieser Eindruck so nachhaltig war wie bei Ssali Ben Aqil.
Meine Leser wissen, wo ich diesen merkwürdigen Mann zum ersten Mal traf. Es war in dem kleinen Ort Khoi, nahe der persischen Grenze. Sein erstes Auftreten gegen mich und meinen Freund Hadschi Halef Omar war indes ein äußerst feindseliges – er trachtete uns nach dem Leben. Die Geschehnisse brachten es aber im Lauf von wenigen Stunden mit sich, dass sein Hass sich in Dankbarkeit, ja in Freundschaft verwandelte und dass der fanatische mohammedanische Theologe schließlich von mir, dem verachteten und gehassten Christen, mit einem Gefühl des Bedauerns schied. Ich habe von dieser ersten Begegnung in Band III meiner Reiseerzählung Im Lande des Mahdi erzählt.
Nach Jahren sollte er in einer Gegend, wo ich ihn am wenigsten erwartet hätte, zum zweiten Mal meinen Weg kreuzen. Die Verfolgung des berüchtigten Sklavenjägers Ibn Asl hatte mich bis in den tiefsten Sudan hineingeführt. Auf der Rückkehr, und zwar in der Nähe der Insel Aba, wo der Derwisch Mohammed Achmed auf den Zeitpunkt seiner ‚Berufung‘ harrte, kam ich abermals auf die Spur eines Sklavenzugs. Es gelang mir nicht nur, das Versteck der Sklavenjäger zu entdecken und die Sklaven zu befreien, sondern auch einem Gefangenen besonderer Art die Fesseln zu lösen. Es war – – Ssali Ben Aqil.
Der junge Wunderprediger war auf seiner Suche nach dem Mahdi – das baldige Erscheinen eines ‚Führers‘ lag damals gewissermaßen in der Luft – nach Ägypten gekommen, und man hatte ihn an den Derwisch Mohammed Achmed verwiesen als denjenigen, auf dem die Hoffnungen des Islam ruhten. Aber die Lehre des ‚Führers‘, die nichts als Gewalt und Hass predigte, hatte den Wahrheitssuchenden eher abgestoßen als angezogen, und er hatte dieses Gefühl seinem Lehrer nicht verschwiegen. Doch der ‚Führer‘ war nicht gewillt, auf eine solche Kraft – Ssali verfügte über eine glänzende Rednergabe – ohne Weiteres zu verzichten. Und da er seinen hoffnungsvollen Schüler nicht durch Worte von seiner ‚Berufung‘ überzeugen konnte, so ließ er ihn einsperren und ihm die Nahrung entziehen, in der Erwartung, die Qualen des Hungers würden ihm die fehlende Überzeugung beibringen.1
Als ich Ssali fand, war er dem Tode nahe. Ich nahm ihn mit mir, und während der Tage und Wochen unseres Beisammenseins schloss er sich noch viel inniger an mich an, als in den wenigen Stunden unserer ersten Begegnung möglich gewesen war. Ich führte ihn nach Jerusalem und zu den heiligen Stätten der Christenheit, und als wir zum zweiten Mal voneinander schieden, teilte er mir mit, dass er sich nicht nur innerlich von Mohammed und seiner Lehre entfernt habe, sondern dass er entschlossen sei, diesen Trennungsstrich auch äußerlich zu ziehen. Er wolle Christ werden, ja noch mehr, er fühle die Berufung zum Priester und zum Verkünder der christlichen Liebe in sich.
Ich war darüber nicht im Geringsten erstaunt, doch unterließ ich es nicht, ihm die Schwierigkeiten vor Augen zu stellen, die auf ihn warteten. Er hörte mich lächelnd an und meinte dann frohgemut:
„Effendi, ich weiß, dass ich viel, unendlich viel zu lernen haben werde, bis das Ziel erreicht ist. Aber mit Fleiß und der Hilfe Allahs hoffe ich es so weit zu bringen, dass ich auch vor einem Abendländer, was Wissen anbelangt, nicht zu erröten brauche. Oder meinst du vielleicht, dass mir die dazu notwendigen Fähigkeiten mangeln?“
„Das wollte ich natürlich nicht sagen, sondern nur andeuten, dass dein Weg in den nächsten Jahren nicht mit Rosen bestreut sein wird.“
„Das verlange ich auch gar nicht, Effendi. Ich fürchte mich vor keinem Opfer und vor keiner Anstrengung, so groß sie auch sein mögen. Das Ziel, das ich im Auge habe, ist es wert, dass ich mich durch nichts abschrecken lasse.“
Vor solcher Hoffnungsfreudigkeit mussten meine Bedenken freilich verschwinden. Nun, Ssali schien mir aus hartem Holz geschnitzt zu sein, und die Stürme des Lebens würden nun, da er seine Lebenslinie endlich gefunden hatte, es wohl fertig bringen, ihn mit scharfem Meißel zu ritzen, nie und nimmer aber zu zerbrechen. – –
Wir haben uns hernach öfters geschrieben. Wenn ich von einer längeren Reise nach Hause zurückkehrte, konnte ich stets damit rechnen, einen mit arabischen Schriftzeichen bedeckten und mit einer türkischen Marke beklebten Brief vorzufinden. Die Nachrichten lauteten immer günstig und ich konnte ihnen entnehmen, dass seine Studien, die er im Seminar zu Mossul betrieb, rasch voranschritten. Von ihrem Abschluss erfuhr ich indes nichts, denn ich war vorher wieder auf Reisen gegangen, in den Orient, zu meinem Hadschi Halef Omar. Da mich mein Weg diesmal nicht über Mossul führte, konnte ich Ssali nicht besuchen, so sehr ich das gewünscht hätte, und ich war daher über sein ferneres Schicksal im Unklaren.
Monatelang vergruben wir uns – Halef und ich waren meistens allein – in die Berge und Täler des wilden Kurdistans und schlugen uns mit den dortigen halbwilden Stämmen herum. Was wir damals erlebten, gehört nicht hierher; ich habe an anderer Stelle davon erzählt.2 Über Bagdad und Tekrit suchten wir dann die Weidegründe der Haddedihn zu gewinnen. Dabei gelang es uns, zwei Männer aus der Hand räuberischer Schiiten zu befreien. Der eine von ihnen war ausgezogen, um den Anezeh-Arabern das Lösegeld für seinen Vater zu bringen, der von ihnen in ihrem Duar zurückgehalten wurde. Der junge Mann gewann unsere Teilnahme und wir schlossen uns ihm an, bereit ihn in seinem gefährlichen Vorhaben zu unterstützen. Denn es war anzunehmen, dass die Anezeh, anstatt seinen Vater auszuliefern, sich seiner und des Lösegelds bemächtigen würden.
Die Abteilung der Anezeh, bei der der Gefangene zurückbehalten wurde, lagerte zu der Zeit südwärts der Sindscharberge am Fuß des einsam aus der Ebene emporragenden Felsens Wahsija. Auf diesem Felsen hauste in einer Höhle ein Einsiedler, der sich nicht nur bei den Anezeh, sondern auch bei den übrigen in der Nähe schweifenden Stämmen des größten Ansehens erfreute. Ihm und seinem Einfluss war es denn auch hauptsächlich zu verdanken, dass unser Schützling sein Ziel erreichte. Ja, noch mehr! Der Gefangene wurde ohne Lösegeld freigegeben und erhielt sogar die Summe wieder zurück, die man ihm abgenommen hatte. Mir aber ließ der Einsiedler sagen, ich möchte ihn am nächsten Morgen auf seinem Felsen besuchen.
In der Erzählung „Himmelslicht“3 habe ich von diesem Erlebnis berichtet. Eines aber habe ich damals dem Leser vorenthalten, nämlich, wen ich am nächsten Morgen oben auf dem Felsen fand. Da dies nicht unbedingt zum Verständnis der Erzählung gehörte, glaubte ich darüber hinweggehen zu dürfen.
Heute will ich die Lücke ergänzen und das Versprechen einlösen, mit dem ich damals den geduldigen Leser auf ein andermal vertröstete. Indem ich dies niederschreibe, bin ich mir freilich bewusst, dass der scharfsinnige Leser bereits hinter das Geheimnis gekommen ist. Ich aber hatte damals, als die Lichter des Weihnachtsbaums von oben herableuchteten, nicht die leiseste Ahnung. Im Gegenteil, ich zerbrach mir den Kopf über die geheimnisvolle Persönlichkeit dort oben. Ein Weihnachtsbaum mitten unter Beduinen! Kaum zu glauben! Es konnte sich nur um einen Europäer handeln, der die Sitte des Weihnachtsbaums kannte, vielleicht sogar um einen Deutschen, auf alle Fälle aber um einen Christen. Und doch, wenn ich ernsthaft nachdachte, wollte mir diese Schlussfolgerung wieder als falsch erscheinen. Ein christlicher Einsiedler, der eine solche Macht über die diebischen Anezeh ausübte, die doch Muslime waren! Fast unmöglich! Wahrscheinlich war es doch einer jener frommen Büßer, die im nordwestlichen Afrika Marabuts genannt werden. Aber gegen diese Annahme sprach wieder der Weihnachtsbaum!
Ich wandte mich an den Scheik der Anezeh um Aufschluss, aber er konnte mir nicht mehr sagen, als was ich bereits wusste. Den frommen Marabut hatte überhaupt noch niemand gesehen außer den beiden Knaben, deren Mutter am Fuß des Felsens wohnte und deren er sich beim Verkehr mit der Außenwelt bediente. Die Leute, die ein Anliegen hatten, teilten dies den Knaben mit, und diese stiegen zu ihm hinauf, um den Bescheid zu vernehmen, den sie den Wartenden bringen sollten. Aber hinauf zu ihm in seine Zelle durfte keiner.
Das war die ganze Auskunft, mit der ich mich wohl oder übel einstweilen zufrieden geben musste.
Bereits zu früher Morgenstunde des nächsten Tages stellten sich die beiden Knaben ein, um mich zum Einsiedler zu führen. Halef wäre gern mitgegangen, aber da nur ich in der Einladung genannt war, bedeutete ich ihm, zurückzubleiben. Er schien mir das übelzunehmen, denn er zog sich schmollend zurück. Ich konnte ihm aber diesmal wirklich nicht helfen und ging.
Der Wahsija war ein Felsen, der unten einen Umfang von sicher einer Viertelstunde und eine Höhe von wenigstens achtzig Ellen besaß. In der Zeit von Jahrhunderten hatten sich Sträucher, ja sogar Bäume angesetzt, die jetzt grünten; zwischen ihnen führte, von Absatz zu Absatz, ein sich rund um den Felsen drehender Pfad hinauf. Oben, nicht ganz auf der Höhe, öffnete sich eine Art Höhle, deren Eingang zum Teil von einem Nadelbaum verdeckt war.
Mit einer Spannung, die von Schritt zu Schritt wuchs, folgte ich den voranschreitenden Knaben. Ich bog um das letzte Felsstück, das mir den Anblick der Höhle entzog, und…
„Ssali Ben Aqil!“, rief ich, fassungslos vor Staunen. „Du bist es also, du!“
Ich war vor Überraschung stehengeblieben und starrte nun mit weit geöffneten Augen auf die Gestalt, die mit ausgebreiteten Armen, ein Lächeln auf den Lippen, neben der Tanne stand. Ja, er war es wirklich, der ehemalige kurdische Reiseprediger, oder vielmehr, er war es doch nicht! Sein bei unserer ersten Begegnung in Khoi mit einem grünen Turban geschmücktes Haupt war jetzt unbedeckt und das schwarze Haar hing ihm lang auf die Schultern herab. Ein ebenso schwarzer Vollbart reichte ihm bis auf die Brust, und die hohe, stolze Gestalt war mit einem langen, bis auf die Knöchel herabfließenden Gewand bekleidet, das um die Hüften von einem Kamelhaarstrick zusammengehalten wurde, in dem ein schmuckloses Kreuz steckte. Mit seinen hageren, durchgeistigten Zügen, die allerdings jetzt vor Freude leuchteten, glich er beinahe – ja, wem glich er nur? War das nicht der ‚Prediger in der Wüste‘? War das nicht Johannes der Täufer?
„Kara Ben Nemsi, mein Freund, mein Retter! Welche Freude!“, rief er nun seinerseits, indem er rasch auf mich zutrat und, die Arme um mich schlingend, mich auf beide Wangen küsste. „Ich preise Allahs Güte, der mir in dir das liebste Weihnachtsgeschenk bescherte. Sallam u rahhmet Allâh aleik – der Friede und die Barmherzigkeit Gottes sei mit dir!“
Ich erwiderte Ssalis Begrüßung herzlich, indem ich ihn ebenfalls auf beide Wangen küsste. Dann winkte er den Knaben, worauf diese wieder den Abstieg antraten. Mich aber fasste er bei der Hand und zog mich in die Höhle.
„Tritt ein in meine armselige Behausung und sei mein Mivan4, der liebste und der erste, der diese Schwelle überschreitet!“
Ich sah mich in dem ziemlich niedrigen Raum um. Er enthielt auf den ersten Blick nichts als zwei verschieden große Felsblöcke, die als Tisch und Stuhl dienten, und einen Haufen dürren Laubs, über das eine Pferdedecke gebreitet war – das Lager meines Gastfreunds.
Aber als sich mein Auge an das Halbdunkel gewöhnt hatte, bemerkte ich noch einen Gegenstand. Aus dem Felsen im Hintergrund schien ein viereckig zubehauener, länglicher Block zu wachsen, der mit einem groben, weißen Linnen zugedeckt war. Ein einfaches Holzkreuz und zwei schmucklose Leuchter aus Messing vervollständigten den – Altar.
Ssali war in eine Ecke gegangen, aus der er einen flachen Maiskuchen hervorholte.
„Erlaube, dass ich dich nach der Sitte meiner Heimat willkommen heiße.“
Damit brach er aus der Mitte des Fladens ein Stück heraus, aß davon und gab auch mir.
„So, jetzt bist du sicher unter dem Dach des Kurden“, meinte er dann schalkhaft lächelnd. Und gleich wieder ernst werdend, fügte er hinzu: „Wunderst du dich, dass ich dich nach der Weise meiner Väter bewillkommne? Ich glaube dich zu kennen, und darum wirst du mich verstehen, wenn ich sage: Ich bin Christ geworden mit Überzeugung und Hingabe, aber ich will auch Kurde bleiben, der die durch die Jahrhunderte geheiligten Sitten und Gebräuche seiner Heimat liebt und pflegt.“
„Ich habe nichts anderes von dir erwartet“, erwiderte ich ernst. „Denn wer nicht an seiner Heimat hängt, der ist kein guter Mensch und kann noch viel weniger ein guter Christ sein und erst recht nicht ein – ein…“
Ich zögerte, den Satz zu vollenden, denn ich wusste ja eigentlich noch nicht, als was ich Ssali Ben Aqil anzusehen hatte, aber ich warf einen bezeichnenden Blick auf den Altar im Hintergrund.
„Sprich das Wort nur aus“, lächelte er. „Du wolltest sagen: ein Priester nach dem Herzen Gottes?“
„Du hast es erraten.“
„So hast du meinen letzten Brief nicht erhalten?“
„Ich war jetzt lange Monate nicht in der Heimat.“
„Also darum! Nicht wahr, du warst äußerst überrascht, mich hier zu treffen?“
„Sehr!“
„Vielleicht gar ein wenig enttäuscht?“
„Das nicht!“, widersprach ich eifrig. „Eher könnte man sagen, es hätte mich seltsam berührt, dich, den ich am Ziel glaubte, in einem Wirkungskreis, wie dieser ist, zu finden, wenn…“
„…wenn alles mit mir in Ordnung wäre, meinst du wohl?“, ergänzte er lächelnd. „Aber beruhige dich! Es ist alles in Ordnung – und ich bin hier richtig in meinem Wirkungskreis – und ich habe mein Ziel erreicht.“
Ich reichte ihm die Hand, die er drückte und dann in der seinigen behielt. „Sei überzeugt, dass sich niemand mehr darüber freut als ich! Möge Allah alle deine Unternehmungen mit dem reichsten Segen krönen!“
„Ich danke dir! Nicht wahr, du hättest eher erwartet, mich in der Kirche und auf der Kanzel zu sehen?“
„Ich kann es nicht leugnen. Ich vermute, dass du hier so eine Art Probezeit durchmachst, bevor du dein Amt antrittst.“
„Du hast mit der Probezeit Recht. Aber vermutlich machst du dir eine falsche Vorstellung von meinem Amt. Ich werde nämlich dieses Amt, so wie du es meinst, nie ausüben.“
„Ich verstehe dich nicht.“
„So höre! Ich werde nie predigen! – Ich werde nie taufen! – Ich werde überhaupt nie Mission im landläufigen Sinn treiben.“
„Aber warum bist du dann…“
„Warum ich Christ und sogar Priester geworden bin?“, unterbrach er mich. „Weil ich einen unwiderstehlichen Herzensdrang dazu verspürte. Aber je mehr ich mich in meine Studien und in meine zukünftige Aufgabe vertiefte, desto mehr überzeugte ich mich von einer Tatsache mit vollster Klarheit. Effendi, kennst du die Fortschritte des Christentums in den Ländern des Islam?“
„Ich kenne sie. Seine Erfolge stehen in keinem, aber auch in gar keinem Verhältnis zur aufgewandten Mühe.“
„Du hast Recht. Angesichts des zu langsamen Gangs der Islammission wenden zum Beispiel jetzt die Weißen Väter5 ihre Hauptarbeit dem äquatorialen Afrika zu, während sie nicht einmal ein Dutzend Missionare für das ungeheure Gebiet der Sahara abstellen. Spricht das nicht Bände? Und wie in Afrika so ist es auch in meiner Heimat bei den Kurden, die an religiösem Starrsinn den übrigen Bekennern Mohammeds in nichts nachstehen. Ich als Kurde weiß das am besten.“
„Aber wie willst du dagegen arbeiten?“
„Du wirst es gleich hören. Wenn ihr einen Missionar im gewöhnlichen Sinn zu den Kurden schicken würdet, so würde man ihn empfangen, wie man in Dschermanistan einen Türken aufnehmen würde, der die Lehre Mohammeds predigen wollte, ja wohl noch schlimmer. Es fehlt eben jede innere Fühlung, ja, ich behaupte, es fehlt jeder Weg zum Herzen des Muslim und – er kennt als sogenannte Christen nur ungerechte, tyrannische Ausbeuter, die ein lasterhaftes Leben führen. Mein Gedanke ist nun folgender: Mit einer ‚Bekehrung‘ meiner Landsleute durch Unterricht und Predigt ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, es muss zuerst der Boden bearbeitet, es muss zuerst der Weg bereitet werden in mühseliger, vielleicht jahrzehntelanger Arbeit. Dann werden vielleicht die Bekehrungen nach 25 oder 50 Jahren von selber kommen, wie Früchte, die von selbst reifen.“
„Ich beginne dich zu verstehen. Aber wie soll dieses ‚Wegbereiten‘ anders als durch Predigt und Unterricht geschehen?“
„Du irrst. Hast etwa du mich durch Worte überzeugt oder vielmehr durch etwas ganz anderes? Worte bewegen nur, Beispiele aber reißen hin, so heißt doch wohl ein lateinisches Sprichwort. An Worten und wieder an Worten hat es in unseren Bergen nicht gefehlt. Die römischen Väter haben gepredigt, die Sendboten aus Amerika haben gepredigt, die Armenier haben gepredigt, viele andere haben gepredigt und gelehrt. Und was war der Erfolg? Nein, ich fasse meine Aufgabe anders auf. Nicht predigen will ich das Evangelium, die Lehre der Liebe, sondern leben will ich sie und damit mehr erreichen als durch tausend Predigten. Ich will mir eine Klause bauen in meiner Heimat unter meinen Landsleuten mit einer Kapelle daneben und mehreren Gelassen, um arme Wanderer zu beherbergen; ich will Fühlung zu gewinnen suchen mit meinen Landsleuten; ich will ihre Achtung, ihr Vertrauen erwecken, ich will mich ihnen geradezu unentbehrlich machen; ich will mein Leben teilen zwischen Studium, Gebet und Werken der Nächstenliebe; ich will die Unglücklichen trösten und die Kranken heilen – zu diesem Zweck habe ich Arzneikunde studiert; ich will versuchen, allen zu dienen, ich will allen alles werden – mit einem Wort, ich will ihnen das Leben eines einfachen, demütigen, selbstlosen Dieners Christi vorleben. Und wenn dann, nach Jahren vielleicht, oder erst nach meinem Tode, meine Landsleute mit Achtung von mir reden, von mir, dem Christen, wenn sie die Lebenswerte der christlichen Religion nicht mehr leugnen können, vielleicht gar sich heimlich danach sehnen, dann, ja, dann und nicht eher ist meine Aufgabe erfüllt. Dann habe ich den Missionaren den Weg bereitet und das Erdreich gelockert, in das sie mit vollen Händen ihren Samen streuen mögen. Und dann werden sie sich über die Ernte nicht zu beklagen haben.“
Ssali Ben Aqil schwieg. Er hatte meine Hand losgelassen und stand nun mit geröteten Wangen und blitzenden Augen vor mir. Wieder musste ich mir denken: wie Johannes der Täufer! Und jetzt, nachdem er mir seinen Lebensplan entwickelt hatte, glich er der Vorstellung von dem großen Vorläufer und Wegbereiter noch mehr!
Nach einer Pause des Schweigens wandte ich ein: „Weißt du, welch undankbare Aufgabe du damit auf dich nimmst? Dass du damit auf jede sichtbare Frucht deiner Arbeit verzichtest? Dass du nie vor der Öffentlichkeit einen persönlichen Erfolg verzeichnen kannst? Dazu gehört eine Größe des Verzichts, die ich für meine Person, wie ich glaube, nicht aufbringen könnte.“
„Du machst dich schlechter, als du bist“, lächelte Ssali. „Ich weiß, was du meinst. Aber für mich genügt es, dass ich überzeugt bin, das Richtige getroffen zu haben. Auch mein höchster Vorgesetzter, der Patriarch in Mossul, billigt mein Vorhaben. Er hat mir nur die Auflage einer einjährigen Probezeit gemacht. Bestünde ich sie, so stehe der Ausführung meines Plans nichts im Weg. So kommt es, dass du mich hier findest und dass mir die Freude eines unerwarteten Wiedersehens zuteil wurde.“
„Erlaube mir noch eine Frage! Wie kommt es, dass du ausgerechnet auf diese undankbare und schwierige Aufgabe verfallen bist? Du konntest deinen Wirkungskreis doch auch anderswo wählen und bei deinen Fähigkeiten…“
Ssali ließ mich nicht ausreden. „Effendi, ich bin Kurde und lasse meine armen Landsleute nicht im Stich! Wie arm sie sind, arm an irdischen und seelischen Gütern, weiß ich erst jetzt. Soll ich, der ich mich ihnen gegenüber für reich, unendlich reich halte, diesen meinen Reichtum meiner Heimat vorenthalten und andere damit beglücken? Das käme mir wie ein Verrat und wie ein Diebstahl an meinen Volksgenossen vor. Nein, Effendi, das meinst du wohl nicht im Ernst und das hast du wohl nur gesagt, um mich zu prüfen.“
„Und doch halte ich es für meine Pflicht, dich zu warnen. Wer sagt dir denn, ob deine Landsleute von dir und deinem Reichtum überhaupt etwas wissen wollen? In meinem Vaterland gibt es ein Sprichwort: Kein Prophet ist in seinem Vaterland geehrt. Glaubst du denn, dass die Bewohner Kurdistans gegen einen ihrer Volksgenossen entgegenkommender und gefälliger sind als Dschermanistan gegen die seinen? Da fällt mir eben in diesem Zusammenhang ein: Du hast mir nichts darüber geschrieben, wie sich deine Verwandten zu deinem Vorhaben, Christ werden zu wollen, stellten.“
Ein Schatten flog über seine Züge.
„Natürlich waren sie, meinen Vater ausgenommen, dagegen.“
„Bloß dagegen? Sollten deine beiden überaus lieben Vettern, die Scheiks Ahmed Azad und Nizar Hared, keinen Schritt unternommen haben, dich umzustimmen?“
„Sie taten es. Sie verboten mir sogar ein für allemal ihr Zelt, für den Fall, dass ich ihnen diesen furchtbaren Schimpf, wie sie es nannten, wirklich antäte.“
„Siehst du? Das Sprichwort vom Propheten im eigenen Vaterland scheint sich auch bei euch zu bewahrheiten.“
„Was schadet das? Auf Kampf, sogar auf den heftigsten Kampf musste ich mich von Anfang an gefasst machen.“
Dann nahm er mich bei der Hand und zog mich vor die Höhle hinaus bis neben die Tanne, wo der Blick ins Lager hinunter frei wurde.
„Schau da hinunter! Noch gestern standen sie sich dort unten mit den Waffen in der Hand gegenüber, deine Haddedihn und meine Anezeh, bereit zu gegenseitiger Vernichtung. Und heute? Kannst du dir ein friedlicheres Bild denken als das, das sich jetzt unseren Augen zeigt? Und wer hat diese Männer unter das sanfte Joch des Friedens gebeugt? Der Gedanke der Liebe, der in dem Weihnachtsbaum verkörpert ist, den ich gestern Abend angezündet habe. – Effendi, ich kann mir denken, dass du über diesen Anblick sehr erstaunt gewesen bist.“
„Und wie! Die Sache war mir ein unlösbares Rätsel.“
„Das sich aber jetzt auf die einfachste Weise gelöst hat, nicht? Du hattest mir von der schönen Sitte deiner Heimat erzählt, und ich – nun, mir hatte der Gedanke so gut gefallen, dass ich diese Gewohnheit in Zukunft auch zu der meinen zu machen beschloss. Wie war ich gestern erstaunt, als ich von deinem Kommen erfuhr, und wie freute ich mich, dich mit dem Weihnachtsbaum überraschen zu können!“
„Diese Überraschung ist dir auch vortrefflich gelungen. Ich danke dir.“
„Kehren wir zur Sache zurück! Wir sprachen von der siegreichen Macht der christlichen Liebe. Diese konnte gestern freilich den Sieg nur deshalb so schnell erringen, weil die Haddedihn dich, den Christen, lieben gelernt haben und weil auch ich meine Anezeh in der Hand habe. Deshalb sind indes deine Haddedihn wie auch meine Anezeh noch lange keine Christen. Darüber sind wir uns klar. Und doch! Hätten wir, selbst wenn wir es hier mit Christen zu tun gehabt hätten, mehr von ihnen verlangen können? Sind sie nicht schneller und bereitwilliger auf unsere Wünsche eingegangen, als dies zwei christliche, sich gegenseitig bekriegende Völker auf die Vermittlung eines dritten hin fertig gebracht hätten? Müssen sie, die halbwilden Natursöhne, nicht das ganze Abendland mit seinen Friedenskonferenzen und -kongressen beschämen? Und ist nicht gerade den Menschen, die ‚guten Willens sind‘ – und den haben sie da unten doch an den Tag gelegt –, der Friede vom Engel verheißen? Der Friede im vollsten Umfang und ohne jede Einschränkung?“
Ssali Ben Aqil machte eine Pause, als ob er von mir eine Antwort erwarte. Als diese nicht erfolgte, denn ich hätte ihm doch nur Recht geben müssen, fuhr er fort: „Und was du den Haddedihn geworden bist all die Jahre hindurch und ich den Anezeh in der kurzen Zeit meines Hierseins, nämlich ein ‚Wegbereiter‘, sollte mir das in meiner Heimat nicht gelingen? Ich zweifle nicht daran. O Effendi“, – dabei breitete er in Begeisterung die Arme aus –, „und wenn sie mich bekämpfen mit den schärfsten Waffen, die ich kenne, mit der Lauge des Spotts, mit dem Stachel der Verleumdung und mit dem Gift des Hasses, ich fürchte mich nicht! Ich werde ihnen mit meiner Waffe entgegentreten, mit der einzigen, aber gefährlichsten Waffe, über die ich verfüge, und das ist meine ganze, volle Menschenliebe. – Ihr sind sie nunmehr rettungslos verfallen – sie soll sich so in ihre Herzen krallen – dass sie in dieser Liebe Meer ertrinken – und an die Brust der ewigen Liebe sinken.“ – – –
Als ich ins Lager zurückkehrte, sah ich die Blicke nicht nur der Haddedihn, sondern auch der Anezeh, fast hätte ich gesagt, mit scheuer Verehrung auf mich gerichtet. Es hatte einen gewaltigen Eindruck auf sie gemacht, dass ich, der Christ, die unerhörte Vergünstigung genoss, den heiligen Marabut persönlich sehen und sprechen zu dürfen. Ich merkte wohl, dass man gern Fragen an mich gerichtet hätte, aber ich hatte keine Veranlassung, ihre Neugierde zu befriedigen. Der Einzige, mit dem ich darüber sprach, war Halef, der ja Ssali Ben Aqil kannte.
Ich ahnte damals nicht, auf welch seltsame Weise ich nach Jahren abermals an ihn erinnert werden sollte.